Der Streit über Reformismus oder Radikalismus ist einer der ältesten Konfliktherde linker Debatten in der Geschichte des Sozialismus als politische Bewegung. Zufriedenstellend geklärt ist er bis heute nicht und so verwundert es kaum, dass diese Debatte auch in der Partei DIE LINKE seit der Fusion zwischen WASG und Linkspartei/PDS fröhliche Urstände feiert. In Ost und West gleichermaßen und quer durch die Landesverbände hindurch, scheint diese Debatte die Gemüter anzuheizen wie kaum ein anderes Thema. Ab und zu ist deswegen wieder das magische Wort „Spaltung“ zu hören, bekanntlich eine Tätigkeit, der linke Gruppen sehr gerne nachgehen, wenn es um einen gewissen theoretischen Dissens in der Gruppe geht.
Die Situation scheint dabei auf den ersten Blick ganz einfach: Auf der einen Seite die „Fundis“, sozialrevolutionäre Romantiker_innen mit edlen Prinzipien und der Perspektive auf eine baldige Überwindung des Kapitalismus durch die sozialistische Weltrevolution, auf der anderen die „Realos“, pragmatische Rationalist_innen, denen es eher darum geht, mit Regierungsbeteiligungen und Reformen konkrete soziale Ungerechtigkeiten hier und heute zu beseitigen. Es erscheint klar und deutlich, dass sich diese beiden Herangehensweisen unter Umständen in die Quere kommen werden. So zumindest die offizielle Lesart der bürgerlichen Massenmedien von ARD und ZDF über SZ und FAZ bis hin zu taz und Freitag.
Einige Leute, die sich intensiver mit der Materie auseinander gesetzt haben, werden dabei auch bemerken, dass es um etwas noch ganz anderes geht, etwa um die Frage, wann Antikapitalismus „emanzipatorisch“ oder „regressiv“ ist, das heißt: ob eine Spielart des Antikapitalismus über die bestehende Gesellschaft hinaus in Richtung einer freien, gleichen und solidarischen Gesellschaft hinaus weist, oder ob sie den Kapitalismus nur bestärkt bzw. durch etwas noch Reaktionäreres ersetzen will. Diese Schablone, ebenso einfach und banal, wird vor allem von linken Medien bevorzugt. Es führt sogar dazu, dass sich auf einmal sogar so verfeindete Blätter wie die Jungle World und die junge welt in dieser Hinsicht erfrischend einig sind, auch wenn sie sich selbst jeweils auf der anderen Seite des Konfliktes positionieren.
Geht mensch aber davon aus, dass es sich bei der Partei Die Linke um mehr handelt, als um einen Tummelplatz linker Sektierer_innen jenseits jeglicher gesellschaftspolitischer Realität und Macht – die Tatsache, dass es sich bei dieser Partei um eine Organisation handelt, die fest im parlamentarischen System der Bundesrepublik Deutschland verankert ist, mit einigem Erfolg bei Wahlen teilnimmt und in der Lage ist, die Politik zu einem gewissen Grad mit zu bestimmen, spräche dafür – liegt der Verdacht nahe, dass es auch um etwas anderes geht, als um bloße ideologische Zielsetzungen. Sonst wäre es ziemlich merkwürdig, warum nicht nur die Basis, sondern gerade auch die Prominenz in Fraktion und Parteispitze, die sehr wohl um den parteistrategischen Sprengstoffgehalt dieses Themas Bescheid weiß, sich mit einer solchen Leidenschaft in den Kampf wirft. Es geht also auch um einen konkreten Kampf der tatsächlichen Machtverhältnisse innerhalb der Partei.
Nun ist die Partei Die Linke aber auch ein Beispiel für eine Partei, die nicht aus einer Spaltung, sondern aus einer Vereinigung entstanden ist, ganz ähnlich, wie 60 Jahre zuvor schon einmal Sozialdemokrat_innen und Kommunist_innen sich zu einer gemeinsamen Partei zusammen finden konnten. Nur anders als beim historischen Handschlag von Wilhelm Pieck und Otto Grotewohl, fehlte dem Handschlag von Gregor Gysi und Oskar Lafontaine eine Streitmacht zur Untermauerung des Bündnisses im Rücken und wir sind, ohne mächtige Bündnispartner_innen und befreit von den Fesseln des Ost-West-Konfliktes ganz auf uns alleine gestellt. So dürfen wir uns jetzt vier Jahre nach dem Vereinigungsparteitag selbst die Frage stellen, ob eine solche Vereinigung auch ohne Sowjetmacht Bestand haben kann, oder ob Reformer_innen und Revolutionär_innen doch lieber als ungleiche Schwestern und Brüder eigene Wege gehen sollten.
1. Vom Sinn und Unsinn der real existierenden Sozialdemokratie
Zunächst einmal stellt sich natürlich ganz unwillkürlich die Frage, was für eine Partei wir eigentlich sind? Ist es wirklich so, dass es so etwas wie einen „reformistischen“ und einen „radikalen“ Flügel in der Partei überhaupt gibt? Und wenn ja: Ergeben sich daraus zwangsweise unüberbrückbare Gegensätze?
Bleiben wir einmal bei den Fakten: Laut derzeitiger Satzung sind wir zunächst einmal eine demokratische und sozialistische Partei, „Verwurzelt in der Geschichte der deutschen und der internationalen Arbeiterbewegung, der Friedensbewegung und dem Antifaschismus verpflichtet, den Gewerkschaften und neuen sozialen Bewegungen nahe stehend, schöpfend aus dem Feminismus und der Ökologiebewegung (…) mit dem Ziel, die Kräfte im Ringen um menschenwürdige Arbeit und soziale Gerechtigkeit, Frieden und Nachhaltigkeit in der Entwicklung zu stärken.“ Wir streben „die Entwicklung einer solidarischen Gesellschaft, in der die Freiheit eines jeden Bedingung für die Freiheit aller ist“ an. Wir sind „plural und offen für jede und jeden, die oder der gleiche Ziele mit demokratischen Mitteln erreichen will.“ Von Sozialdemokratie oder Kommunismus, von Reform oder Revolution zunächst einmal keine Spur. Das heißt: In dieser Hinsicht legt sich die Satzung nicht fest. Nehmen wir aber den letzten zitierten Satz ernst, dann sind wir zumindest schon mal eine Partei, die derartige Fragen für die Mitglieder offen lässt, zumindest aber in der Lage sein sollte, beide Ansichten nebeneinander zu tolerieren. Sicherlich mag keine_r abstreiten, dass es nicht auch beide Ansichten tatsächlich gäbe und dass nicht beide auch ihren Platz bei uns finden würden. Bei einer Partei mit breit aufgestellter Basis oberhalb der magischen Hürde von 5%, einer Volkspartei in den neuen Bundesländern dazu, sollte es nicht verwundern, wenn sich ihr alle möglichen Ansichten über Inhalte und Vorgehensweisen sammeln. Die Frage ist jedoch, ob es auch zwei große, dominante Flügel gibt, die jeweils die eine oder die andere Seite vertreten und miteinander im Wettstreit um die Meinungshoheit in der Partei liegen.
Sicherlich mag keine_r abstreiten, dass es nicht auch beide Ansichten tatsächlich gäbe und dass nicht beide auch ihren Platz bei uns finden würden. Bei einer Partei mit breit aufgestellter Basis oberhalb der magischen Hürde von 5%, einer Volkspartei in den neuen Bundesländern dazu, sollte es nicht verwundern, wenn sich ihr alle möglichen Ansichten über Inhalte und Vorgehensweisen sammeln. Die Frage ist jedoch, ob es auch zwei große, dominante Flügel gibt, die jeweils die eine oder die andere Seite vertreten und miteinander im Wettstreit um die Meinungshoheit in der Partei liegen.
Nun ja – zwei dominante Flügel im Wettbewerb untereinander gibt es tatsächlich, und das hat etwas mit der Entstehungsgeschichte der Partei zu tun. Was da 2007 auf Augenhöhe fusionierte, waren zwei Parteien mit unterschiedlicher Agenda, unterschiedlichem Klientel und unterschiedlichem gesellschaftlichen Wirkungsgrad. Während die WASG sich erst drei Jahre zuvor als Protestbewegung gegen die neoliberale Sozial- und Wirtschaftspolitik unter Schröder formiert hatte, konnte die PDS bei der Vereinigung auf eine fast 20 jährige Erfolgsgeschichte als eigenständige und in der Parteienlandschaft der neuen Bundesländer fest verankerte Partei zurückblicken. Die WASG war von der Mitgliederzahl her wesentlich kleiner und Aufgrund ihrer jungen Geschichte unstrukturierter als die PDS, dafür blieb die politische Stärke der PDS mehr oder weniger auf die neuen Bundesländer beschränkt, während sich die WASG zu Recht eine Aussicht auf Verankerung im gewerkschaftlichen und linksalternativen Milieu und somit die Öffnung des Tors zum Westen für die Parteigranden der PDS versprechen konnte.
Trotz organisatorischer Einheit sind diese Gräben nie wirklich verschwunden. Vielmehr gruppierte sich, die vor allem im Westen dominierende Anhängerschaft der WASG, um die Strömungen der SL und AKL herum, während die im Osten tonangebende alte PDS sich rund um FDS und – in geringerer Weise – Ema.Li versammelte. Dies führte zur Bildung zweier großer Flügel, oder besser: zweier struktureller Zentren mit unterschiedlicher Ideologie und politischen Strategiekonzepten innerhalb der Partei, die sich nach ihrem geographischen Schwergewicht grob in „Ost“ und „West“ aufteilen lassen. Dass eine solche Konstellation sicherlich auch zu Konkurrenzdenken und Wettbewerb beitragen mag, ist kaum von der Hand zu weisen. Und wenn mensch die Statements aus beiden Zentren gegeneinander gegenliest, erweckt das nicht nur den Eindruck von zwei verschiedenen Zentren, sondern durchaus auch den von zwei verschiedenen Planeten. Nur, dass es sich dabei um einen „radikalen“ und einen „reformistischen“ Flügel handeln sollte, entbehrt jeglicher Grundlage.
Denn die Struktur einer parlamentarischen Demokratie, wie die der BRD, ist nämlich zu einem gewissen Maße so angelegt, dass mehrere Parteien gegeneinander im Wettbewerb um die Wählerstimmen stehen, um bei der nächsten Regierungsbildung beteiligt zu sein und damit ihre Interessen durchsetzen zu können. Dort, wo nicht zwei große Parteien miteinander wetteifern, sondern es jeweils mehrere Parteien in die Parlamente schaffen – und auch das ist bekanntermaßen in der BRD der Fall – ergibt sich eine gewisse Notwendigkeit der inhaltlichen Öffnung mehrerer Parteien zueinander, um mögliche Koalitionen schließen zu können. Es geht dabei nicht nur darum, für sich selbst politische Macht an zu häufen, sondern auch darum, von – tatsächlichen oder potentiellen – Wähler_innen „ernst genommen“ zu werden, d.h., zu beweisen, dass mensch auch
bereit ist, seinen Versprechen Taten folgen zu lassen.
Mensch mag jetzt von dieser Logik im Einzelnen halten, was mensch will, aber da Die Linke sich dazu entschieden hat, an Wahlen teil zu nehmen, lastet dieser strukturelle Druck auf der Partei unabhängig davon, welche Strömung die jeweils dominantere ist. Mit anderem Worten: Die „Sozialdemokratisierung“ der Partei im Namen der „politischen Anschlussfähigkeit“, etwa an ein Bündnis mit SPD und Grünen, ist nicht unbedingt eine Frage des politischen Willens oder der Inhalte. Sie erwächst aus Notwendigkeit heraus, als logische Konsequenz der politischen Teilnahme am Parlamentarismus und wirkt auf alle Parteien gleichermaßen. Auch innerhalb einer Partei wirkt sich dieser Anpassungsdruck vor allem auf die Zentren aus, deren Mitglieder oft die meisten wichtigen Posten besetzen und die sich im Falle einer Wahlniederlage oder anderweitig schlechter Politik vor der Basis rechtfertigen müssen, während die kleineren, politisch bedeutungsloseren Fraktionen eine größere inhaltliche „Narrenfreiheit“ genießen.
Das oftmals von vermeintlich links Stehenden in der Partei aufgebrachte Totschlagargument gegen das östliche Zentrum, die „Sozialdemokratisierung“ der Linken voran zu treiben, zeugt bestenfalls von mangelnder Selbstreflexion. Zwar wirkt die Tendenz zur Angleichung auf die strukturell besser verankerten und daher Regierungskoalitionen mehr aufgeschlossenen Ostverbänden besonders stark. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Westverbände vor dieser Entwicklung gefeilt wären. Auch hier macht sich der Anpassungsdruck in Richtung Rot-Rot-Grün trotz Haltelinienrhetorik bemerkbar. Bestes Beispiel hierfür ist das „Tolerierungsmodell“ in NRW, vor allem in Bezug auf die Debatte um die Zustimmung zum Haushaltsplan der rot-grünen Minderheitenregierung. Bezeichnend ist dabei auch, dass die politische Öffnung dort ohne wirkliche Not geschah, anders als im Osten, wo Regierungsbeteiligung und damit die tatsächliche Möglichkeit des Einflusses auf Regierungsarbeit eine Option ist, die sich bei jeder Wahl tatsächlich stellt. Der offenen Sozialdemokratisierung durch den Osten steht also eine schleichende Sozialdemokratisierung durch den Westen gegenüber.
Es spricht also vieles dafür, dass es bei der Partizipation an Wahlen eine Art strukturell bedingten politischen Grundkonsens zu geben scheint, dem sich auch Die Linke unterwirft. Es spricht auch nichts grundsätzlich dagegen, sich ein Stück weit auf diesem ein zu lassen, will mensch grobe gesellschaftliche Ungerechtigkeiten über parlamentarische Mitbestimmung bereits im Hier und Jetzt beseitigen. Eine solche Form des „Reformismus“ kann auch durchaus revolutionär sein, wenn er mit Reformkonzepten auftritt, die deutlich über die Grenzen der heutigen Gesellschaft hinaus weisen. Solche Konzepte können dann auch radikaler, konsequenter und praktikabler sein, als Fundamentalkritik und das Warten auf den Sankt-Nimmerleinstag der Revolution. Gegen solch blauäugige Hobby-Revolutionär_innen und Prinzipienreiter_innen haben schon Marx und Engels ausgiebig polemisiert.
Die so oft getätigte diskursive Trennung von „Reformern“ und „Radikalen“ hält einer realistischen Betrachtung also nicht stand. Vielmehr kann mensch vom Kampf zweier dominanter sozialdemokratischer Zentren ausgehen, die jeweils versuchen, gewisse Spielarten „radikalerer“ Strömungen hinter sich zu sammeln, um das Machtgleichgewicht in ihre Richtung zu verschieben. SL und AKL finden dabei vor allem Verbündete in Gruppen, bei denen die ökonomische Frage im Mittelpunkt steht, während FDS und Ema.Li mehr Leute anzuziehen vermögen, die eine schwerere Gewichtung auf Demokratie, Pluralismus und individuelle Freiheitsrechte legen.
2. Vom Sinn und Unsinn des irreal existierenden Radikalismus
Nimmt mensch also das konkrete politische Handeln als Maß, um Ost und West zu vergleichen, fällt auf, dass die Unterschiede weniger in Inhalten oder Aktionsformen bestehen, sondern sich einzig und allein in ihrem habituellen Gestus erschöpfen: Wo mensch sich im Osten bei der Argumentation theoretischer Anleihen aus Postrukturalismus, Eurokommunismus und Kritischer Theorie bedient, also bemüht ist, den eigenen Reformismus möglichst intellektuell und zeitgemäß zu vertreten, wirkt der Sprachfundus in den Westverbänden oftmals wie ein Kuriositätenkabinett aus der Zeit Luxemburgs und Lenins: Klassenkämpferische Rhetorik, Beschwören von Massenbewegung und Arbeiterorganisation, die Darstellung der Linken als „Stachel im Fleisch des parlamentarischen Systems“ (Klaus Ernst) und dergleichen sind dort immer noch auf der politischen Agenda. Eine Diskrepanz zwischen revolutionärem Eigenanspruch und tatsächlicher Reformpolitik ergibt sich dabei nur auf dem ersten Blick. Schließlich muss der klassenkämpferische Duktus vor dem Hintergrund der Entstehungsgeschichte der Linkspartei im Westen betrachtet werden. Anders als im Osten gab es hier keine bereits strukturell und organisatorisch gefestigte Partei links von SPD und Grünen. So rekrutierte sich die Basis der WASG zunächst einmal hauptsächlich aus Leuten, die bereits Erfahrung mit der Arbeit in politischen Organisationen hatten. Zum Einem waren dies Menschen, die den neoliberalen Kurswechsel der Schröder-SPD nicht mehr mittragen wollten, sowie Gewerkschaftsfunktionär_innen, die sich durch eine neue Linkspartei eine bessere parlamentarische Vertretung für den Arbeitskampf erhofften. Zum anderem gab es im Westen eine Unzahl von gesellschaftlich marginalisierten, radikalsozialistischen und kommunistischen Kleingruppen in marxistisch-leninistischer Tradition, die in der WASG die lang ersehnte Kampfpartei sahen, mit deren Hilfe es möglich war, eine Massenbewegung zur Zerschlagung des Kapitalismus zu organisieren.
Ideologisches Bindeglied jener Allianz aus Gewerkschaftsfunktionär_innen und K-Gruppen war dabei die rhetorische Fixierung auf die Bedürfnisse der Arbeiterschaft, in der sich die Anhänger_innen beider Strömungen als Gleiche wieder zu erkennen vermochten. Dabei wurde allerdings übersehen, dass sich zwar beide Seiten des Bündnisses auf die Arbeiterbewegung bezogen, die jeweiligen eigenen Schlussfolgerungen daraus jedoch unterschiedlicher nicht sein konnten. Wo es den K-Gruppen um die Organisation der Arbeiterklasse, zum Zwecke der Abschaffung des Kapitalismus ging, war die Intention der Gewerkschafter_innen eher die Einbettung derselben in einen durch verschiedene wirtschaftliche Steuermechanismen gewissermaßen gezähmten Kapitalismus mit sozialem Antlitz. Zwar haben auch die Gewerkschaften eine Tradition von radikaler und kompromissloser Gestik, diese dient dort jedoch allein der konkreten Stärkung der eigenen Verhandlungsposition gegenüber den Arbeitgeber_innen. Die Amalganisierung dieser beiden Positionen im Zuge der weiteren Entwicklung des Bündnisses hat dabei regelrecht groteske Formen angenommen. Es scheint so, als haben sich beide Seiten einander angenähert, aber jeweils den schwächeren Teil des jeweils anderen Bündnispartners übernommen. Die Antikapitalist_innen übernahmen den Reformismus der Gewerkschafter_innen und die Gewerkschafter_innen den fast schon theologisch anmutenden, anti-intellektuellen Revolutionsduktus der Antikapitalist_innen. Heraus kommt eine merkwürdige Mischung aus Radikalismus und Reformwillen, die sich etwa auch im Entwurf des Parteiprogramms niederschlägt. Hierin findet sich weder die Forderung nach einer Beendigung des Kapitalismus als Struktur (was kommunistisch wäre), noch die Forderung nach einem Ausbau der Sozialpartnerschaft (was sozialdemokratisch wäre). Statt dessen wird der vermeintliche Antikapitalismus personalisiert, das Problem in „den Finanzkapitalisten“ ausgemacht, gegen die Macht der Banken und Konzerne gewettert, während die Arbeit der mittelständischen und kleinen Unternehmer_innen als Motor des gesellschaftlichen Fortschrittes gewürdigt wird. Kapitalismus erscheint nicht im emanzipatorischen Sinne als soziales Herrschaftsverhältnis, sondern als Werk einzelner, profitgieriger Individuen.
Die ausformulierten politischen Ziele des West-Zentrums sind dabei so radikal nicht: Oft beschränken sie sich scheinbar auf die bloße Übernahme von Positionen des DGB. Der Wunsch zur Rückkehr in die goldenen 70er, in das Zeitalter der Sozialpartnerschaft, des seeligen Burgfriedens von Kapital und Lohnarbeit, ist da. Der Wille zu einer tiefgreifenden Veränderung der Verhältnisse jedoch fehlt. Wirklich eigenständige Programmpunkte, wie etwa das konsequente Nein zu Auslandseinsätzen, werden systematisch über dem Haufen geworfen – etwa, wenn die Bundestagsfraktion sich bei der Bundesregierung für die Nichteinmischung in Libyen bedankt, oder der Parteivorsitzende Klaus Ernst davon spricht, dass Auslandseinsätze von „Grünhelmen“ für „humanitäre Zwecke“ schon diskutiert werden können. Viele unserer emanzipatorischen Forderungen – etwa alles in Richtung demokratischer Partizipation, und Gleichberichtung – werden in den West-Wahlkämpfen ignoriert oder, wie im Beispiel der Mindestlohnkampagne, die regional sehr xenophobe Züge in Richtung der Abschottung des deutschen Arbeitsmarktes gegen „Fremdarbeiter“ trug, sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Und die Geschichte um die „Kommunismusäußerung“ von Gesine Lötzsch hat gezeigt, was passiert, falls ein prominentes Parteimitglied (in dem Fall sogar die Parteivorsitzende) auch nur den Anschein erweckt, inhaltlich zu weit zu gehen. Anstatt sich hinter sie zu stellen, wurde sie gerade auch von der West- Parteiprominenz öffentlich gerügt.
Inhaltlich ist an dieser Scharade, dieser Persiflage einer Arbeiterbewegung aus dem vorherigen Jahrhundert also wenig greifbar. Mehr noch, der eigentlich emanzipatorische Charakter, den sich die Arbeiterbewegung um die Jahrhundertwende vom 19. zum 20. Jahrhundert noch zu Eigen gemacht hatte, geht in seiner heutigen, karnevalesken Ausprägung vollkommen verloren. Um die Auflösung des Widerspruchs von Lohnarbeit und Kapital im emanzipatorischen Sinne einer Gesellschaft der Freien und Gleichen, geht es dem Bündnis zwischen Traditionslinken und der – sich selbst heute ganz und gar zeitgemäß in der parteipolitischen Mitte verortenden – Gewerkschaftssozialdemokratie, überhaupt nicht mehr. Viel mehr dient das permanente Heraufbeschwören von Schlagwörtern wie „Kampf“ und „Bewegung“ dazu, sich eine propagandistische Grundlage, für im Kern eigentlich zutiefst reformistische Forderungen, zu schaffen: Statt der Befreiung der Menschen von den Ketten der Lohnarbeit, steht die Stärkung der (im DGB organisierten) Arbeiterorganisationen im Mittelpunkt, die dann als mächtiger Tarifpartner im neokorporatistischen System der Sozialpartnerschaft auftreten können.
Gemessen am Inhalt entlarvt sich die vermeintliche Radikalität selbst als bloße populistische Phrasendrescherei. Dies ist jedoch anscheinend ausgerechnet den selbst ernannten Gralshüter_innen der „Reinen Lehre“ von Marx, Lenin & Co. Am allerwenigsten bewusst. Nicht zuletzt verbaut ihnen ihre eigene, durch das sklavische Festhalten an Prinzipien aus den 1920er Jahren bedingte Theoriearmut alle Möglichkeiten, diese Entwicklung sinnvoll zu reflektieren. Genauso wenig sind sie in der Lage, zu verstehen, dass die vermeintlichen „Reformer“ teilweise Positionen vertreten, die weit über das Bestehende hinaus weisen.
Verlierer dieses Verbalradikalismus sind dabei vor allem inhaltlich konsequentere Gruppen und Einzelpersonen in der Partei, die ihren Antikapitalismus tatsächlich im emanzipatorischen Sinne einer Befreiung der Menschen von allen gesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen begreifen und für eine Gesellschaft der Freien und Gleichen, die von umfassender Demokratisierung und Selbstbestimmung geprägt ist, eintreten. Sie können den offenen Reformismus des Ost-Zentrums nicht mit tragen und müssen sich ihre Verbündeten wohl oder übel im westlichen Lager suchen. Im
Wettstreit zwischen den Zentren stehen sie jedoch zwischen den Stühlen und gehen unter.
3. Kritik der überaus politischen Ökonomie
Wenn sich nun aber die beiden Zentren nur in ihrem Auftreten, nicht aber im Inhalt unterscheiden, worin liegt dann die Ursache des Konfliktes? Dazu muss mensch sich bewusst machen, dass eine Partei bekanntermaßen kein von der Gesellschaft losgelöstes Ding ist. Die gesellschaftliche Macht der Linken, wie sie aus der politischen Partizipation an den Institutionen der Bundesrepublik Deutschland entwuchs, bedeutete unter anderem auch, einen im Gegensatz zu anderen vergleichbaren linken Organisationen, exklusiven Zugang zu gesellschaftlichen Ressourcen. Die Linke ist derzeit in den Organen des Bundes, in mehreren Landesparlamenten, in Kommunen, in politischen Stiftungen und wissenschaftlichen Einrichtungen vertreten, sie stellt auf Gemeindeebene Bürgermeister_innen und ist an Landesregierungen beteiligt.
Politik in einer solchen Partei zu machen bedeutet von daher – ob angenehm oder nicht – auch eine Menge Arbeit. Ist die Gesellschaft also eine kapitalistische, dann ist Arbeit, ob nun gut oder schlecht, zunächst etwas Lebenswichtiges. Und um mit der anfallenden Parteiarbeit fertig zu werden, gibt es eine Unzahl an Ämtern und Mandaten, an Posten und Pöstchen, teilweise mit erheblichem politischem Einfluss, teilweise mit guter finanzieller Grundabsicherung. Daraus folgt ganz selbstverständlich, dass es für die Mitglieder dieser Partei – und das bedingt die Struktur des kapitalistischen Leistungszwangs – neben dem Anreiz, politisch wirken und etwas erreichen zu können, noch einen anderen, ganz konkreten und materiellen Grund für die Parteiarbeit gibt: Nämlich die Aussicht auf Karriere, die Aussicht auf persönliche Macht, die Aussicht auf einen gut bezahlten und sozial abgesicherten Arbeitsplatz. Gerade als kritische Linke dürfen wir uns in dieser Hinsicht keine Illusionen machen, sollten vor diesen Tatsachen nicht die Augen verschließen. Nun ist die Existenz derartiger Anreize die eine Sache; eine andere ist die Frage, wie mensch dort hin kommt. Meistens helfen dort, wie in allen anderen Lebensbereichen auch, persönliche Beziehungen, Netzwerke und Seilschaften weiter. Kennt mensch jemanden auf hohem Posten und stellt mensch sich gut mit ihm, ist die Aussicht größer, durch persönliche Gunst auch ein Stück vom Kuchen ab zu bekommen. Ihrer parteipolitischen Bedeutung entsprechend, ist es auch nicht verwunderlich, dass die meisten dieser Stellen von den beiden großen Zentren, Ost und West, kontrolliert werden, da diese Mehrheitsentscheide herbei führen können, wenn es um die Besetzung von Posten geht. Der gute Draht zu den dortigen Verantwortlichen kann deshalb über das Bekommen und Nichtbekommen einer Hauptamtlichenstelle entscheiden. Der Partei wohnt also eine ökonomische Eigendynamik inne, die in ihrer Tendenz für klientelistische Strukturen – mit feudalem Charakter statt kapitalistischem Leistungsprinzip – anfällig ist.
So lange sich eine Partei im Aufwind befindet, läuft alles gut: mensch hat immer mehr Geld und Ressourcen zur Verfügung, kann neue Stellen schaffen und auch diejenigen, deren Arbeit nicht gewinnträchtig, aber überaus wichtig ist, also vor allem Basisstrukturen und Arbeitskreise werden berücksichtigt. Bricht der Erfolg jedoch ein und ist abzusehen, dass der Prozess der Ressourcenakkumulation nicht weiter zu halten ist, weil die Einnahmen stagnieren oder sogar rückläufig sind, hat das Konsequenzen für die parteiinterne Ökonomie: An irgendwelchen Stellen muss dringend eingespart werden. So etwas wirkt sich dann vor allem auf diejenigen aus, die bisher von der florierenden Parteiökonomie profitiert haben.
Dieser Fall ist für die Linke mittlerweile eingetroffen: Fast überall brechen wir bei den Wahlen ein, die Mitglieder verlassen die Partei in Scharen und auch die Spendenbereitschaft lässt merklich nach. Der strukturell schwächer aufgestellte Westen ist hiervon wesentlich härter betroffen als der Osten, in dem wir weiterhin Volkspartei sind und Aufgrund der latenten, altersbedingten Knappheit an Nachwuchskräften viele mögliche Stellen unbesetzt sind. Für den Osten ergibt sich von daher eher die Notwendigkeit, das vorhandene Kapital in die Jugendförderung und den Ausbau der Basisstrukturen an den Ortsverbänden zu investieren. Der Fachkräftemangel führt unter anderem auch zu einem gewissen parteipolitischen Pluralismus, schließlich ist mensch um jede Hand dankbar, auch wenn sie aus einer anderen Strömung kommt und andere politische Ziele verfolgt, als mensch selbst.
Anders ist dies jedoch im Westen: Hier werden die Ressourcen merklich knapp und bezogen auf die Parteiökonomie ist dies katastrophal: Immer mehr Leute drängen sich um die immer knapper werdenden Töpfe, und denjenigen, die diese Töpfe verwalten, bleibt nichts anderes übrig, als den Zugriff darauf einzuengen. Das Klientelwesen, welches in Zeiten des Aufschwungs nur ein geringeres Problem war, wird nun zur akuten Gefahr für die Aktionsfähigkeit der Partei. Da bei der Zugangskontrolle durch das Zentrum zuerst bei denjenigen gespart wird, die nicht Teil des eigenen Netzwerkes sind, wandelt sich der ökonomische Klientelismus zu einem offenen Abhängigkeitsverhältnis: Inhalte zählen gar nichts mehr, nur noch Gefälligkeiten sind gefragt. Die eigentliche politische Arbeit rückt immer mehr in den Hintergrund, bzw. wird zum schmückenden Beiwerk von Schlammschlachten um Personaldebatten. Das Zentrum verkommt zum Lehnsherrn, die Partei zu seinem Rittergut, die Funktionär_innen zu Gefolgsleuten, die Mitglieder zu Fronbäuer_innen. Hauptleidtragende hierbei sind jedoch die Basisgruppen und Arbeitskreise, die ökonomisch gesehen auf der Soll-Seite der Ressourcenbilanz stehen und an deren Ausstattung rigoros gekürzt wird. Die jüngst aus der Partei in Bremen ausgetretene ehemalige Bürgerschaftsabgeordnete Inga Nitz bezeichnete diese Form der offenen Patronage zutreffend als „Beutegemeinschaft“.
Eines der besten Fallbeispiele, quasi die „Blaupause“ für eine klassische „Beutegeminschaft“ innerhalb der Partei ist das Karrierenetzwerk marx21. Dessen Mitglieder sind gut vernetzt und konnten, gemessen an ihrer Anzahl und politischen Bedeutung eine beträchtliche Anzahl an Machtpositionen für sich einnehmen. „Unterstützer“ von marx21 sind in vielen Landesparlamenten, mit drei Abgeordneten im Bundestag und in verschiedenen Führungsgremien der Partei und des Jugendverbandes vertreten, unter anderem im Kreisverband Frankfurt a.M. Und im Hochschulverband SDS, die sie strukturell und inhaltlich völlig dominieren. Von Inhalt und Auftreten geben sich deren Mitglieder äußerst antikapitalistisch und stellen sich selbst als Vertreter_innen einer außerparlamentarischen Bewegungslinken dar. Parteiintern sind sie aber in der eher reformorientierten, gewerkschaftsnahen Strömung der SL organisiert und haben ihre Positionen durch geschickte Verhandlungsstrategien mit Personen aus nahezu allen Strömungen und Untergliederungen der Partei erlangt. Vom radikalen Habitus, den diese „Beutegemeinschaft“ exzessiv zur Schau trägt, bleibt bei genauerer Betrachtung ihres Handelns nicht viel übrig. Vielmehr scheint es hier ganz allein um die Dominanz und Absicherung der eigenen Pfründe zu gehen, für die jedes Mittel Recht ist.
4. Kritik der überaus ökonomischen Politik
War die langsame Degeneration von Form und Inhalt schon von Anfang an symptomatisch für das Bündnis von „Parteilinker“ und „Parteimitte“, so erlangt sie in Zeiten der „Beutegemeinschaft“ eine vollkommen neue Dynamik. Bedingt durch das im Verhältnis zu Mitgliederzahl und Organisationsgrad relative Ungleichgewicht des Westens über den Osten, gelang es dem Westen nach der Gründung der Linken, die neue Partei strukturell zu dominieren. Nicht erst seit Fukushima und „diesem Atom“ (Klaus Ernst), ist für die Parteiführung der Größte anzunehmende Unfall eingetroffen: Die von der Allianz aus Gewerkschafter_innen und Traditionskommunist_innen dominierte Partei unter der Doppelspitze Lötzsch-Ernst, von Anfang an glücklos und überschattet von einer nicht enden wollenden Serie von Debatten rund um den neuen Vorsitzenden, bricht in Wahlen und Umfragewerten ein und Mitglieder, sowie Wähler_innen wenden sich enttäuscht von uns ab. Immer lauter wird die Kritik an der derzeitigen Parteiführung. Und das einzige, was sie noch stützt, ist die falsche und wackelige Loyalität der „Beutegemeinschaft“. Sowohl dem klientelistischen Paternalismus des bundesdeutschen Gewerkschaftswesens als auch dem „demokratischen Zentralismus“ der K-Gruppen ist die Zustimmung zu autoritärem, obrigkeitshörigem Denken aus ihrer eigenen Organisationstradition her nicht fremd. Vergleichende Demokratisierungsprozesse, wie sie sich für die SED/PDS während der Wendezeit ergaben, blieben in den westlichen Herkunftsorganisationen aus schlichtem Mangel an Notwendigkeit heraus aus. Hinzu kommt noch, dass es in der BRD, anders als in anderen westlichen Staaten, keine starke kommunistische Partei gab, gegen die sich eine breite antiautoritäre linke Opposition hätte bilden können. Zwar gab es derartige Positionen in der außerparlamentarischen „Neuen Linken“ im Westen durchaus. Die Tatsache aber, dass der real existierende Sozialismus hierzulande aber generell als Feindbild betrachtet wurde, und nicht wie etwa in Italien oder Frankreich als Teil der bürgerlichen Normalität, führte zu einem gewissen Maß von Sympathie gegenüber realsozialistischen Diktaturen in Osteuropa, Asien oder Lateinamerika.
Auch die Vereinigung von WASG und PDS zur bundesweit auftretenden Partei Die Linke führte nicht zur Übernahme im Osten selbstverständlicher demokratischer Gepflogenheiten, wie der unbedingten Akzeptanz von inhaltlichen Pluralismus und organisatorischer Transparenz in den Westverbänden. Als Beispiel sei etwa die derzeitige Debatte um die Frage nach der Abkehr vom „Stalinismus“ im historischen Sinne, oder vom „Stalinismus als System“ im Parteiprogramm genannt, in der vor allem die Vertreter aus dem Westen erstere, Vertreter_innen aus dem Osten letztere Variante bevorzugen. Vielmehr konnten die Rädelsführer_innen der im Westen dominierenden Strömungen auf dem chronischen Demokratiedefizit unter ihrer Anhängerschaft aufbauen, um sich von der Basis weitgehend unbemerkt als „Beutegemeinschaft“ zu konstituieren. Mit der strukturellen Dominanz, des zur „Beutegemeinschaft“ degenerierten West-Zentrums, hält auch dessen Revolutionsromantik Einzug in den Diskurs der Gesamtpartei. Ihr Einsatz wird auch aggressiv ausgeweitet und inhaltlich weiter verflacht. Der Sinn hinter dieser Entwicklung mag zunächst einmal nicht ganz einleuchten: Als Legitimationsgrundlage reformistischer Sozialpolitik wäre sie gegenüber der weitaus größeren Anhängerschaft der Partei im Osten, die zudem seit Jahrzehnten eben eine solche Politik offen unterstützt, kaum zweckdienlich. Auch ist kaum davon auszugehen, dass mit dieser Methode versucht wird, neues Wähler_innenpotential zu erschließen, oder auf die anderen Parteien zuzugehen, denn beide dürften von diesem Ausmaß an Populismus weit außerhalb dessen, was im Rahmen des oben erwähnten Parteienkonsens noch erträglich wäre, eher abgeschreckt, als gewonnen werden. Dass eine tatsächliche Radikalisierung der Partei stattfindet, kann ebenso getrost Beiseite gelegt werden: Die eigentlichen programmatischen Inhalte bleiben so reformistisch wie eh und je.
Es spricht also vieles dafür, dass die Form der Propaganda mit den Zusammenschluss dieselbe geblieben ist, sich ihre Funktion jedoch im Zeichen der „Beutegemeinschaft“ verformt hat: Was vorher eine Kolonisierungsstrategie gegenüber der eigenen Anhänger_innenschaft war, wird jetzt zur Waffe der „Beutegemeinschaft“ im innerparteilichen Kampf um die Absicherung der eigenen Prfünde. Der propagandistische Wert des radikalen Habitus ist einem instrumentalistischen gewichen. Was vorher im Westen dazu diente, Ungleiche zusammen zu schweißen, dient nun dazu, Anhängerschaften für die Verteidigung der „Beutegemeinschaft“ zu mobilisieren und ganz nach dem Motto „Die Partei(-Führung) hat immer Recht“ auf innenpolitische Gegner_innen los zu lassen. Kritiker_innen wird nicht mehr sachlich begegnet, sondern sie werden als vermeintliche „Minderheitenposition“, „Rechtsabweichler“ und „Sozialdemokraten“ diskreditiert. Gleichzeitig werden die eigenen Anhänger_innen durch die ewige Heraufbeschwörung revolutionärem Kampfgeistes, gepaart mit blindwütigen Aktionismus in Form von Kampagnen, Vorträgen und Kongressen mit meist wenig inhaltlicher Aussagekraft, an der Stange gehalten, und zu willigem, aber wenig reflektierendem Fußvolk diszipliniert. Mit Aktionen wie der „Fair-Play“ -Kampagne wird versucht, eine Burgfriedensrhetorik und Durchhaltepropaganda wie zu Kaisers Zeiten zu inszenieren, inklusive falschem Gemeinschaftsgeist („Wir müssen alle zusammen halten“), Aufbau imaginärer äußerer Feinde (Medien, andere Parteien etc.), gegen die wir gemeinsam einstehen müssen und Anklagen gegen alle, die sich angeblich nicht daran halten. Im Gegenzug wird, für jeden noch so kleinen Streit, gleich die Presse bemüht, wenn es nur der eigenen Sache dienlich ist und den Kritiker_innen Schaden kann.
Die derzeitige Antisemitismusdebatte ist von daher auch als Zuspitzung des Ressourcenkonfliktes zu bewerten. So gravierend der Antisemitismusvorwurf gegen die Partei auch ist und so wichtig eine unaufgeregte Debatte zum Reizthema Nahost auch wäre: Es ist sicherlich kein Zufall, dass diese Diskussion ausgerechnet jetzt ausgebrochen ist. Die Argumentationsmuster sprechen eine deutliche Sprache. So wird pro-israelischen Stimmen vorgeworfen, in ihrer Israelsolidarität einzig und allein das Ziel zu verfolgen, die Partei zu „sozialdemokratisieren“, sie reformistisch auszulegen und auf eine zukünftige Rot-Rot-Grüne Regierungskoalition vorzubereiten. Die Frage, welche Fraktion den bevorzugten Zugang zu den Machtressourcen der Partei hat, wird nicht mehr offen ausgetragen, sondern wurde durch eine Stellvertreterdebatte um die Positionierung im Nahostkonflikt ersetzt. Damit schwindet auch ein weiteres Stück Transparenz im Meinungsaustausch: Viele Parteimitglieder sind sich der Hintergründe der Debatte gar nicht mehr bewusst und werden von der Gegenseite pauschal und ohne ihr Zutun in eines der beiden Lager eingeordnet.
War es im offenen Machtkampf noch möglich, parteipolitische Positionen zu äußern, die keinem der beiden Extreme entsprachen, sind derartige Graustufen und schon gar nicht ganze Farbpaletten im manichäischen Schwarz-Weiß von Pro-Israel und Pro-Palästina nicht mehr möglich. Mit Kommunist_innen und Sozialdemokrat_innen kann mensch unter Umständen noch zusammenarbeiten. Mit Rassist_innen und Antisemit_innen definitiv nicht. Der Konflikt polarisiert und spaltet die Partei in allen Gliederungen, von der Spitze bis in die einzelnen Basisgruppen, die einzige Form der Verständigung ist nur noch durch das autoritäre Beenden der Debatte per Beschluss möglich. Von daher kann die derzeitige Antisemitismusdebatte nicht losgelöst vom parteiinternen Streit gesehen werden. Sie ist nur eine weitere Eskalationsstufe des Ressourcenkonfliktes.
5. Epilog, oder: Warum Strukturdebatten wichtig sind
Das ist also die Lage der Partei: Zahlreiche Genoss_innen wenden sich frustriert von uns ab, weil sie sich in einer Partei, die sich nur um sich selbst dreht, und wo es nur noch darum geht, dass mehr Anhänger_innen der Gegenseite den Platz verlassen, nicht mehr wiederfinden können. Wir sind keine “Mitmach-Partei” mehr, sondern entdemokratisieren uns innerlich. Persönliche Anfeindungen und Mobbing aus strategischen Gründen sind an der Tagesordnung. Statt dem Prinzip der Teilhabe gilt das Prinzip der Aufteilung von Posten und Pöstchen unter in Strömungen organisierten „Beutegemeinschaften“, in denen persönliche Loyalitäten wichtiger sind als Inhalte. Dieses schleichende Demokratiedefizit wird überspielt durch blinden Aktionismus in Form der allgegenwärtigen Kampagnen, Vortragsreihen, und Kongresse ohne jegliche gesellschaftspolitische Bedeutung, der die machtlosen Mitglieder bei der Stange halten soll. Durch widersprüchliche Auskünfte, zahllose Deals, inhaltliche und programmatische Unklarheiten und dem Fehlen jeglicher realistischer Perspektive, sind wir für viele einstige Sympathisant_innen und Anhänger_innen unwählbar geworden. Wir vergraulen die sozialen Bewegungen, weil wir nicht mehr auf sie hören wollen und in unserem Alleinvertretungsanspruch nicht mehr bündnisfähig sind. Ja, problematisch ist das schon. Die Apokalypse ist deswegen aber noch lange nicht ausgebrochen. Vielmehr können wir die gegenwärtige Situation auch als Chance sehen, einen Neuanfang zu wagen. Vielmehr muss es darauf ankommen, sich jetzt Konzepte zu überlegen, wie der Laden weiter läuft und was für eine Art von Partei wir eigentlich haben wollen. Als Mitglieder und Sympathisant_innen einer emanzipatorischen und sozialistischen, demokratischen und pluralistischen Partei des 21. Jahrhunderts, sind wir immer noch Teil eines großartigen Projektes. Wir alle haben Wünsche, Träume und Hoffnungen und einen langen Weg vor uns. Lasst uns diesen Weg gehen und von ihm aus neue Wege beschreiten. Lasst uns aus unseren Fehlern lernen und Neues ausprobieren, gemeinsam und miteinander.
Um dies zu erreichen, reicht es jedoch nicht, sich gegenseitig die Schuld zuzuschieben, sich gegenseitig verächtlich zu machen und den Streit auf Personen auszurichten. Ja, es besteht kein Zweifel darüber, dass die derzeitige Parteispitze versagt hat und je schneller dort personelle Konsequenzen gezogen werden, desto besser für das Klima in der Partei. Das allein reicht aber nicht. Es erscheint wenig attraktiv, dabei zu stehen und darauf zu warten, dass die nächste „Beutegemeinschaft“ den Laden übernimmt. Die gegenwärtige Krise hat strukturelle Ursachen und strukturelle Ursachen lassen sich auch nur strukturell bekämpfen. Der gute Marx hat uns demokratischen Sozialist_innen einstmals den kategorischen Imperativ gestellt, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.“ Lasst uns damit bei uns selbst beginnen.
Konkrete Schritte wären zum Beispiel ein neues Wahlprozedere, das alle Strömungen berücksichtigt und nicht, wie das derzeitige Mehrheitswahlrecht die Zentren begünstigt. Zusätzlich müssen die Ämter und Mandate wieder ihre originär politische Funktion einnehmen. Um übermäßige Machtakkumulation zu vermeiden, bedarf es einer strikten Trennung von Amt und Mandat und von einer Begrenzung der Amtszeit, etwa auf zwei Wahlperioden. Es bedarf sicherer Mechanismen, die dazu führen, dass die Organisationen an der Basis genügend Mittel bekommen, um ihre konkreten, an der Situation vor Ort ausgerichteten Ziele verwirklichen zu können und das Geld nicht in irgendwelchen Vorständen und Kampagnenkreisen verschwindet.
Des Weiteren müssen wir uns wieder nach außen öffnen, wieder zu einer Partei werden, die sich selbstlos um die Probleme der Menschen kümmert. Eine Partei, die sich nur mit sich selbst beschäftigt, verliert den Anschluss an die Menschen, die sie vertritt. Außerhalb der Partei werden wichtige gesellschaftliche Diskurse geführt, die unsere Partei bereichern können und niemand kennt die Probleme der Menschen besser, als die Menschen selbst. Als linke Sammlungsbewegung müssen wir die außerparlamentarischen Kräfte und Bewegungen selbstlos unterstützen und einbinden, wo es nur geht. Lasst uns deswegen die Menschen außerhalb der Partei an unserer Politik teilhaben. Die vorgeschlagene Beschränkung der Rechte von Sympathisant_innen im derzeitigen Satzungsänderungsentwurf ist sehr kritisch zu bewerten. Stattdessen sollten die Sympathisant_innenrechte so weit wie möglich ausgeweitet werden. Auch für Nichtmitglieder offene Wahlgänge, wie sie etwa bei den großen Parteien in einigen Bundesstaaten der USA abgehalten werden und worüber aktuell auch die SPD diskutiert, lohnt es sich, nachzudenken.
Matthias Zwack
Sehr guter Artikel! Besonders gut wiederfinden konnte ich mich hier:
„Verlierer dieses Verbalradikalismus sind dabei vor allem inhaltlich konsequentere Gruppen und
Einzelpersonen in der Partei, die ihren Antikapitalismus tatsächlich im emanzipatorischen Sinne
einer Befreiung der Menschen von allen gesellschaftlichen Abhängigkeitsverhältnissen begreifen
und für eine Gesellschaft der Freien und Gleichen, die von umfassender Demokratisierung und
Selbstbestimmung geprägt ist, eintreten. Sie können den offenen Reformismus des Ost-Zentrums
nicht mit tragen und müssen sich ihre Verbündeten wohl oder übel im westlichen Lager suchen. Im
Wettstreit zwischen den Zentren stehen sie jedoch zwischen den Stühlen und gehen unter.“
Ein Kritikpunkt habe ich aber:
Der Aufruf sich „selbstlos“ um die Probleme der Menschen zu kümmern ist mir VIEL zu idealitisch.
Niemand, auch keine Partei, macht etwas ohne Zweck. Daher fände ich es besser dies auch so zu diskutieren.
Aries