Lötzsch und der Kommunismus*
von Manfred Lauermann

Teil II
Die radikale Kritik von Marx am [rohen] Kommunismus (1844) wird durch das Kommunistische Manifest keineswegs durchgestrichen, sondern sie bleibt substantiell erhalten, wenn die Unterscheidung von Sozialismus und Kommunismus, die von Lorenz Stein 1842 übernommen wurde, gedanklich nachvollzogen wird. Aus dem Manifest der Kommunistischen Partei“, welches Marx und Engels 1848 als Auftragsarbeit abgeliefert haben, und das wahrlich Epoche gemacht hat, nicht zuletzt durch ihre scharfsinnige und perspektivenreiche Objektivität bei der Beschreibung der gegnerischen Klasse, der Bourgeoisie. Einzig die ebenso ganz unwahrscheinliche Vorwegnahme moderner Probleme der höchstbrisanten und fragilen Mischung des Widerspruchs von Demokratie und Liberalismus bei Tocqueville in seiner Amerikaschrift von 1835, kann im 19. Jahrhundert damit auf eine Stufe gestellt werden. Bei solchen geschichtsphilosophischen Jahrhundertschriften können bekanntlich Sätze beliebig herausgegriffen werden, besonders der eher beim Liberalismus von Mill (Über die Freiheit) vermutete Gedanke einer freien Entwicklung eines jeden, die die Bedingungen der freien Entwicklung sein soll. Ich wage also einen, nein: den einzigen Schlüsselsatz herauszuheben: “ [..] können die Kommunisten ihre Theorie in dem einen Ausdruck: Aufhebung des Privateigentums, zusammenfassen“ (MEW 4, S. 475). Oder in den Pariser Manuskripten: „Der Communismus endlich ist der positive Ausdruck des aufgehobnen Privateigenthums, zunächst das allgemeine Privateigentum.“(8) Und in der viel zu selten gelesenen Vorfassung des Manifestes, in Engels Katechismus für den Bund der Kommunisten aus dem Juni 1847, lautet die Passage: „Das Privateigentum wird also ebenfalls abgeschafft werden müssen, und an seine Stelle wird die gemeinsame Benutzung aller Produktionsinstrumente und die Verteilung aller Produkte nach gemeinsamer Übereinkunft oder die sogenannte Gütergemeinschaft treten.“ (MEW 4, S. 371). Kein Wort von ‚Verstaatlichung‘, was bei der lebenslang stets sehr skeptischen Beziehung von Friedrich Engels zum Fetisch Staat auch verwundern würde! Gesellschaft, die die Produktion auf Grundlage freier und gleicher Assoziation der Produzenten neu organisiert, versetzt die ganze Staatsmaschine dahin, wohin sie dann gehören wird: ins Museum der Altertümer, neben das Spinnrad und die bronzene Axt.“ (MEW 21, S. 168 – Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats)

Um fair zu sein, bei gläubiger Anerkennung von Gleichberechtigung, möchte ich Lötzsch wie ihren Vorgänger Lafontaine auch einen Narrentypus empfehlen, sagen, wir den unbesonnene Narren / resp. Närrin): „Wer / was er thut / nicht reichlich überleget / seh zu / daß ihm sein Vorsatz nicht fehl schläget. Wer ohne Mittel will zum Zweck gelangen / schau / daß er nicht am Narren-Seil bleib hangen.“ Gute Absichten, mit denen nach Lenin der Weg zur Hölle gepflastert sind, gute Absichten verführten Lötzsch dazu, in der Jungen Welt am 3. Januar das neue Jahr mit einem Paukenschlag zu begrüßen: „Wege zum Kommunismus“. Konnte jemand überrascht sein, was danach passierte? Wäre die Medienlandschaft eine so trostlose Wüste, wie Lafontaine behauptet, dann eine mit Kojoten und stacheligen Kakteen. 2011 ist aber eine solche Wüste längst bewässert, was die alte Generation häufig verschlafen hat: Internet, Twitter, Facebook, SMS/Handy-Fotos, Blogs, „Nachdenkseiten“, „Scharf-Links“, Potemkin. Also flugs eingegeben, ‚Lötzsch und Kommunismus‘ und in Sekunden haben wir ihr Interview vom 8.Januar in der Berliner Morgenpost (nicht etwa eine Springer Zeitung? Lafontaine bewahre!). „M: Wenn Sie in stillen Stunden von Kommunismus träumen… L: Ich träume nicht, ich arbeite für einen demokratische Sozialismus, das ist mein Ziel und das Ziel meiner Partei [ML: Wie krass anders Lenin in Was tun? ‚Wir müssen träumen, um nicht ein Opfer der pragmatischen Alltagspolitik zu werden‘. Aber so kann bloß ein Kommunist, kein demokratischer Sozialist denken] M: Aber was stellen sie sich darunter vor? L: Der Kommunismus ist eine utopische Ideologie, über die Menschen seit Jahrhunderten nachdenken […]. M: Verstehen Sie, dass Menschen Angst haben, wenn Sie mit dem Begriff so undifferenziert hantieren? [ML: Gesine Lötzsch versteht die Angst nicht so ganz und philosophiert lieber daher über Rosa-Luxemburgs Freiheitsbegriff, weshalb nachgefragt wird.]: M: Warum haben Sie kein Wort dazu gesagt, dass überall da, wo der Kommunismus an die Macht kam. Menschen gequält und getötet worden sind? L: Ich habe mich ausdrücklich auf Rosa Luxemburg bezogen, und zwar weil sie sich nie mit dem Parteikommunismus sowjetischer Prägung hat versöhnen können. M: Luxemburg hat aber auch den bewaffneten Aufstand versucht. Das können Sie nicht unter den Tisch kehren. L: Ich kehre nicht unter den Tisch. Wir übernehmen auch nicht kritiklos alles, was sie gesagt hat. [ML. Feine Kommunikationsstörung: Machen von Aufständen vs. Sagen von Meinungen. Tja, musste denn auch die Morgenpost an das geschichtliche Handeln der KPD-Vorsitzenden Luxemburg erinnern?(9)] Weiter im Interview: M: Sie sind nicht nur von dem Reformflügel der Partei dafür kritisiert worden, dass Sie den Kommunismus ins Spiel gebracht haben. Auch Hans Modrow sagt, Sie fielen damit zurück hinter dem 20. Parteitag der KPdSU. L: Ich habe den Kommunismus nicht ins Spiel gebracht. ich denke, es gibt eine Übereinstimmung in der Partei, dass wir uns von den Verbrechen des Stalinismus und von den Verbrechen, die im Namen des Kommunismus begangen wurden, distanzieren. Das muss man nicht jeden Tag wiederholen, es ist doch Gründungskonsens unserer Partei. […] L: Ich kann mir den Kommunismus jetzt gar nicht vorstellen. Ich sage damit nur, dass wir die Herausforderungen, die vor uns stehen, oft unterschätzen. Ich erinnere nur daran, dass wir vor ungefähr drei Jahren nicht auf die Idee gekommen sind, dass eine große Finanzkrise entstehen konnte. M: …Da hätten sie als Kommunistin schon mal drauf kommen können. L: Ich bin keine Kommunistin, sondern eine demokratische Sozialistin.“ Soll ich das so verstehen, dass eine Sozialistin nicht, im Unterschied zu einer Kommunistin, die Finanzkrise antizipieren kann? Allerdings hat jahrelang das ND dem Marxisten Robert Kurz Platz eingeräumt, dessen Leib- und Magengericht die Voraussage von Finanzkrisen ist, die aus der Systemlogik des Kapitalismus notwendig resultieren.

Drei charakteristische weitere Varianten aus der hektischen Diskussion, die bis zum großen ZDF Sommerinterview zur besten Sendezeit am 30. Juli reicht – Meinte so was Lafontaines medienkritischer Hinweis auf ‚Hofberichterstattung‘?

Variante 1: Die schlaue, eines Parteitaktikers:

„Unter Kommunismus kann man Verschiedenes verstehen. Stalin, Mao und die Mauer etwa. Oder das, was Marx meinte: eine Gesellschaft ohne Klassenunterschiede, in der Eigentum sozial gerecht verteilt ist und alle weniger arbeiten müssen, die Vision einer in jeder Hinsicht gerechten menschlichen Gesellschaft. Das Problem ist: Ich kann nicht voraussetzen, dass die Leute den Begriff in letzterem Sinne verstehen. Und weil ich das weder voraussetzen noch organisieren kann, darf ich ihn nicht verwenden. Seit 1989 sage ich: Wir können mit dem Begriff Kommunismus unsere Ziele nicht erklären.“ (Gregor Gysi Interview TAGESSPIEGEL 7.1.2011). Das gefällt mir irgendwie. Es gibt wie in der frühmittelalterlichen Scholastik zwei Wahrheiten, eine für innen, für die Parteimitglieder; eine für außen, für die Öffentlichkeit. Da ich ja die These des großen Emigranten der Politischen Philosophie , die von Leo Strauss einer prinzipiellen Unterscheidung von esoterischem [für wenige] Wissen und exoterischem [für die vielen] Wissen als Spinozakenner manches abgewinnen kann, mag ich lediglich schüchtern die Frage stellen: Begriff Kommunismus? Das Wort, ja, aber meint Gysi wirklich Begriff im Hegelschen Sinne eines Begriffes? Wie ich von meinem alten Lehrer Peter Ruben gelernt habe: „Wer das Wort ‚Kommunismus sagt‘, hat noch keineswegs einen Begriff von Kommunismus. […] Jedes Räsonnieren über den Kommunismus ohne Reflexion bzw. klare Analyse des dreiviertel Jahrhunderts wirklicher europäischer Kommunismusgeschichte ist ein albernes Glasperlenspiel, das nur Langeweile und Gähnen verbreiten kann.“(10) Doch eigentlich wäre mir für unser Thema ein weiterer ebenso weltbekannter amerikanischer Philosoph lieber: Richard Rorty. Seine Variante wäre die nichttaktische, die elementare des Vergleichs des Neuen Testaments und des Kommunistischen Manifestes. „Beide Texte haben im Laufe der Jahre an Inspirationskraft sogar gewonnen. Denn je­der von ihnen ist das Gründungsdokument einer Bewegung, die für die Freiheit der Men­schen und die Gleichheit zwischen ihnen viel bewirkt hat“.(11) Hören wir weiter, wie über Kommunismus in einer demokratische Öffentlichkeit argumentiert werden kann.

„Wie das Neue Testament noch immer von Millionen Menschen gelesen wird, die sich nicht lange bei der Frage aufhalten, ob Chri­stus nun eines Tages in seiner Herrlichkeit zurückkehren wird oder nicht, so wird das Kommunistische Manifest noch immer auch von denen unter uns gelesen, die hoffen und glauben, dass wirkliche soziale Gerechtigkeit ohne eine Revolution, wie Marx sie prophe­zeite, erreichbar ist, dass eine klassenlose Ge­sellschaft, eine Welt, »worin die freie Ent­wicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«, [Unser bekanntes Lieblingszitat! ML] als Ergebnis des­sen zustande kommen kann, was Marx als »bürgerlichen Reformismus« abtat. Eltern und Lehrer sollten junge Menschen dazu er­muntern, beide Bücher zu lesen. Es wird der moralischen Haltung der jungen Leute för­derlich sein. Wir sollten unsere Kinder so erziehen, dass sie es unerträglich finden, wenn wir FAZ-Leser, die wir hinter unseren Schreibtischen sit­zen und auf Tastaturen herumfingern, zehn­mal mehr verdienen als die Menschen, die sich beim Reinigen unserer Toiletten die Finger schmutzig machen, und hundertmal mehr als jene, die in der Dritten Welt unsere Tastaturen zusammenbauen. Wir sollten dafür sorgen, dass es ihnen Sorge und Kummer bereitet, wenn die Länder, die sich zuerst industriali­siert haben, hundertmal reicher als jene sind, die noch nicht industrialisiert sind. Unsere Kinder sollten von früh an begreifen lernen, dass die Ungleichheit zwischen ihrem Glück und dem Unglück anderer Kinder weder ei­nem göttlichen Willen entspringt, noch der notwendige Preis wirtschaftlicher Effizienz ist, sondern eine vermeidliche Tragödie. Sie sollten so früh wie möglich anfangen, sich Ge­danken darüber zu machen, wie die Welt so verändert werden kann, dass niemand mehr hungern muss, während andere an Übersätti­gung fast ersticken. Die Kinder sollten beides lesen – Christi Botschaft von der Brüderlichkeit zwischen den Menschen und den Text, in dem Marx und Engels darstellen, wie sehr der Industrie­kapitalismus und die freien Märkte – auch wenn sie sich längst als unentbehrlich erwie­sen haben – das Erreichen dieser Brüderlich­keit behindern und erschweren. Sie sollten se­hen, dass ihrem Leben ein Sinn zuwächst, wenn sie sich um die Verwirklichung jenes moralischen Potentials bemühen, das unserer Fähigkeit zum Austausch mit anderen, zur Verständigung über unsere Bedürfnisse und unsere Hoffnungen innewohnt. Sie sollten von den Christengemeinden, die in Katakom­ben zusammenkamen, ebenso erfahren wie von den Arbeiterdemonstrationen, die sich auf den Plätzen der Städte versammelten. Denn beide Arten der Zusammenrottung waren in dem langwierigen Prozess der Ver­wirklichung dieses Potentials gleichermaßen wichtig“. (Rorty, S. 13-15).

Variante 2. Die gerissene – einer (KPF) Genossin:
(Man verzeihe die Fallhöhe zur meisterlichen Rhetorik Rortys!)

Eine der bekanntesten Parteigenossinnen kommt auf einen genialischen Gedanken, als ob sie Rubens Interview eine Woche zuvor gelesen hätte, überlegt Ellen Brombacher:
„Die angemessenste und inzwischen auch populärste Kommunismusdefinition findet sich im Kommunistischen Manifest: ‚An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist. ’Die jüngste Debatte zum Kommunismusbegriff war grotesk. Kaum ein Wort, was der Begriff bedeutet. [sic! ML] Ein Streit über Inhalte hätte deutlich gemacht, dass es den vielgescholtenen Kommunismus als gesellschaftliches System bisher nicht gab. Nirgendwo wurde der in der Kritik am Gothaer Programm von Marx benannte »enge bürgerliche Rechtshorizont ganz überschritten«, nirgendwo konnte »die Gesellschaft auf ihre Fahne schreiben: Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen!« Was wir erlebt und gestaltet hatten, war eine Übergangsgesellschaft, über die Engels schrieb, das sei der schwierigste Stoff, den es gibt.

Fein: es gab nie Kommunismus, nie Kommunisten, selbst keine Kommunistinnen, die es ja tatsächlich in den Führungskader der Kommunistischen Parteien kaum gab. Warum aber haben sich zumindest viele Kämpfer der USPD, der KPD und der linkssozialistischen Bewegungen, in ihrer Selbstbeschreibung als Kommunisten verstanden, die trotzdem alle heute zum historischen Erbe der LINKEN gehören sollen, wie es im Parteiprogramm (Z.216). vorschlägt? Warum spricht das Programm dann von Staaten mit sozialistischen Anspruch (Z.238), die in Europa nach 45 aufgebaut wurden? Denn sozialistisch kann ja kaum Sozialdemokratisch heißen, denn „ab 1959 gab die SPD Zug um Zug ihre Vorstellungen einer über den Kapitalismus hinausweichende Neuordnung der Gesellschaft auf“. (Z.263) Wenn die LINKE als sozialistische und feministische Partei die patriarchalen und kapitalistischen Verhältnisse überwinden will (Z.528), wenn zudem die ökologische Frage zugleich eine ökonomische, soziale und kulturelle Systemfrage (Z.882) darstellt, die konsequent gedacht das kapitalistische System nicht bewältigen kann, und wenn der transformatorische Prozess abgeschlossen sein wird, ein Prozess gekennzeichnet von vielen kleinen und großen Reformschritten, von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe (Z.1004-7), – was anderes ist das, als die Verwirklichung dessen, was Marx und Engels schon längst als das die politische Option, ihr vordringliches Handeln von Kommunistinnen bezeichnet haben? „Mit einem Wort, die Kommunisten unterstützen überall jede revolutionäre Bewegung gegen die bestehenden gesellschaftlichen und politischen Zustände. In allen diesen Bewegungen heben sie die Eigentumsfrage, welche mehr oder minder entwickelte Form sie auch angenommen haben möge, als Grundfrage der Bewegung hervor.“ (Manifest; MEW 4, S. 493) Bei diesen Worten wird die Chefideologin der Kommunistischen Plattform der Partei DIE LINKE sich hocherfreut zurücklehnen und mir entgegnen: Ja, alles richtig, nur wir ersetzen den veralterten Terminus Kommunisten mit dem des demokratischen Sozialisten. Denn wie überholt, wie politisch zurückgeblieben ist doch das Manifest! „Die Kommunisten verschmähen es, ihre Ansichten und Absichten zu verheimlichen“.

Mein Freund Steffen Dietzsch, der im Gegensatz zu mir gelernter DDR-Bürger ist, sich in Sozialisation und Mentalität besser bei jemanden wie Brombacher auskennt, hat im brechtschen Stil eine kleine Sentenz verfasst: „„Eine radikal apologetische Fraktion der Freunde des Verewigten bestreitet immer wieder jedes Kritikbegehren am Kommunismus mit dem Hinweis, es habe ihn doch noch gar nicht gegeben. Hat es also noch nie einen ‚Kommunismus’ gegeben? – Nun, dabei sollten wir es auch belassen!“ (12)

Immerhin gab es in der DDR zur Studienzeit von Lötzsch und Brombacher das m.W. Pflichtfach „Wissenschaftlicher Kommunismus“, welches umständlich darzulegen bemüht war, dass Kommunismus keine Utopie sei, sondern die DDR die erste Stufe – als Sozialismus – der kommunistischen Gesellschaftsformation sei, während die Sowjetunion ja schon auf den XXII. Parteitag 1961 die Erreichung des Kommunismus für 1980 fixiert hatte, dogmatisch gesagt, das Ende der 1. Pase und der beginn der 2. höheren Phase. „Die Partei verkündet feierlich. Die heutige Generation der Sowjetmenschen wird im Kommunismus leben.“(13) Begrifflich jedoch gab es Tautologien, da der Begriff wissenschaftlicher Kommunismus „in seinem Inhalt und seinem Gebrauch voll dem Begriff wissenschaftlicher Sozialismus entspricht.“(14) Den Satz umgedreht, und schon haben wir entgegen von Brombachers Meinung die Gleichung: Da die DDR und das befreundete Lager sozialistisch war, war es in der Grundstruktur – kommunistisch. So wie es einen realen Sozialismus gab, gab es genauso einen realen Kommunismus. Mir scheint es leichtfertig, derartig aus Anpassung an die neuen Denkzwänge nach der Wende die Ergebnisse der DDR- Wissenschaft zu ignorieren.

Variante 3. Die hirnrissige – eines Schwachsinnigen:

Dem Nachfolger des kurzfristigen CSU-Generalsekretärs, des Dissertationsschwindlers Guttenberg, gelang es am Sonntag, dem 7. August in die Medien zu kommen, mit der von einem jeden Demokratieverständnis ungetrübten Forderung, die Partei DIE LINKE verbieten zu lassen. Originalton Dobrindt: „Wenn die Vorsitzende der Linke, Gesine Lötzsch, von neuen Wegen zum Kommunismus schwärmt, dann ist das eine unerträgliche Verklärung des sozialistischen Systems überhaupt. Das muss eine verschärfte Beobachtung dieser Partei durch den Verfassungsschutz zur Folge haben. Und wir müssen auf dieser Grundlage prüfen, ob gegen die Linke nicht ein Verbotsverfahren eingeleitet werden sollte.“ (NachDenkSeiten, 8.8.2011)

Irgend jemand (die Hilfsarbeiter des Verfassungsschutzes, die akademischen Lumpenproletarier) muss ihm gesteckt haben, dass im Manifest, glücklicherweise leicht auffindbar auf der letzten Seite vor dem langjährigen ND Parole, Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!, Terrorismussympathisierend steht: Die Kommunisten „erklären offen, daß ihre Zwecke nur ereicht werden können durch den gewaltsamen Umsturz aller bisherigen Gesellschaftsordnung“. (MEW 4, S. 493), und Dobrindt reagiert wie von den beiden Autoren amüsiert vorausgesehen: „Mögen die herrschenden Klassen vor einer kommunistischen Revolution zittern.“ Mit Ruben (ND 8.1.2011) ironisch formuliert: „Antikommunismus zu proklamieren, ohne wirklich Kommunisten vor sich zu haben, ist ja gegenwärtige bürgerliche Ideologie, das gewöhnliche politische Geschäftsgebaren. Eigentlich ist es erheiternd.“ Genau: Mit homerischen Gelächter könnte eine selbstbewusste Partei des Demokratischen Sozialismus antworten. Aber was geschieht? Wie in einer klassischen Pawlowschen Reaktion will der Vizefraktionschef Mitvorsitzende Maurer dem Verfassungsschutz noch mehr Arbeitsplätze beschaffen. „Wenn eine Partei in den letzten Jahren vom Verfassungsschutz hätte beobachtet werden müssen, dann war das die Union. Hartz IV, Pendlerpauschale, Abschuss von gekaperten Flugzeugen – immer wieder konnte erst das Bundesverfassungsgericht die Union daran hindern, die Verfassung zu brechen.“ (dpad). Kommt da der verborgene Wunsch an die Oberfläche, nicht die böse NPD allein verbieten zu wollen, sondern die CSU gleich mit? Wie immer! Für DIE LINKE Ist leicht zu prognostizieren;, dass ein Verbotsantrag in Karlsruhe nicht einmal zur Verhandlung angenommen würde: Ja, mehr noch, der Antragsteller wegen Veralberung des Verfassungsgerichts eine Ordnungsstrafe sich vergegenwärtigen müsste. Und ist es so schwer, Verbote von Parteien als typisches Machtmittel des Kalten Kriegs zu erkennen – zuerst eine rechtsextreme Partei (SRP), dann normalisierte sich die Mitte die Gesellschaft mit dem Verbot der Kommunistischen Partei Deutschlands, was des Machiavellisten Adenauers eigentliches Ziel war. Kann nicht ein halbstarker Demokrat wie Dobrindt daher mit Verbots-Omnipotenzphantasien ins politisch gedankliches Delirium strudeln, weil auch anderswo (z.B. VVN ) dauernd Verbotswünsche vom guten Vater Staat erfleht werden?

In seiner klugen Besprechung des politischen Skandaltextes „Der kommende Aufstand“ im ND vom 11.112.2010 bemerkt Gerhard Hanloser zu seiner eigenen Überraschung: „Der „taz“- und „Jungle World“- Rezensent Johannes Thumfart kommt zu dem wenig erstaunlichen Ergebnis, es handele sich um ein „antidemokratisches Pamphlet“, das gegen „Demokratie und Rechtsstaat wettert“. Ja, richtig, doch um diese Stoßrichtung mehr moralisch als argumentativ zu diskreditieren, braucht er schon den Passepartout-Begriff „Ressentiment“ und die ohne viel Federlesens vorgenommenen Nazi-Vergleiche, die der Logik des Extremismusbegriffs auf eine Weise folgen, dass es Leuten wie der Familienministerin Kristina Schröder und dem Extremismusforscher Eckhard Jesse eine wahre Freude sein dürfte. Hier geriert sich der Feuilletonist als Staatsschützer und das, wo man doch immer dachte, dass zumindest auf den Kulturseiten der eine oder andere Staatsferne mal schreiben darf“. Einer selbstbewussten Linken hat Rosa Luxemburg ins Stammbuch geschrieben: „ Freiheit für die Anhänger der Regierung, nur für die Mitglieder einer Partei […] ist keine Freiheit. Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.“ (15) Zu ihrem Zusatz – weil das ‚ Belebende, Heilsame und Reinigende’ , modern, mit Mouffe, das Agonale des Politischen ausmacht – fallen mir die ‚Grundgesetze’ von Meinungsfreiheit aus On Liberty von Mill ein – den die Linke zu ihrem großen Schaden weitgehend nicht gelesen hat und immer noch kaum liest.(16)
„Erstens: Wenn irgendeine Meinung zum Schweigen gezwun­gen ist, kann diese Meinung, soviel wir mit Sicherheit wissen können, wahr sein. Das leugnen, heißt, unsere eigene Unfehl­barkeit annehmen.

Zweitens: Wenngleich die zum Schweigen verurteilte Meinung ein Irrtum ist, kann sie doch, und tut das sehr häufig, einen Teil Wahrheit enthalten. Und da die allgemeine oder vorherrschende Meinung über irgendeinen Gegenstand selten oder niemals die ganze Wahrheit ist, hat der Rest der Wahrheit nur durch den Zusammenstoß entgegengesetzter Meinungen eine Chance, zur Geltung zu kommen.

Drittens: Sogar wenn die als gültig anerkannte Meinung nicht nur wahr, sondern die ganze Wahrheit ist, werden die meisten derer, die sie annehmen, sie in der Art eines Vorurteils besitzen, mit geringem Verständnis oder Gefühl für ihre vernünftigen Gründe, falls sie es nicht erträgt, heftig und ernsthaft angefochten zu werden, und tatsächlich angefochten wird. Und nicht nur dies sondern – viertens – der Sinn der Lehre selbst gerät in Ge­fahr verloren oder geschwächt und seiner lebendigen Wirkung auf den Charakter und das Verhalten beraubt zu werden: das Dogma wird zum bloßen formalen Bekenntnis, das unfähig ist, Gutes zu wirken, aber eine Innere Belastung darstellt und das Wachsen jeder wirklichen und tief empfundenen Überzeugung aus Vernunft oder persönlicher Erfahrung verhindert.“

Nebenvariante – Die von freien Geistern oder Kunst und Kommunismus

Es ist richtig gemein! Wenn Lötzsch sich zu Kommunismus zaghaft, anscheinend positiv äußert, fällt eine ganze Meute massenmedialer Wutbürger über sie her. Dabei: Wenn zwei das Gleiche tun, ist es nicht dasselbe! Was für das politische Feld (Bourdieu) gilt, ist für das Feld der Kunst nicht im geringsten angesagt, eher megaout. Besonders, wenn das Spektakel – den Kommunismus feiern! – in der Berliner Volksbühne bei ausverkauften Haus zelebriert wird (ND 24.06 & taz 29.06). Als Hintergrundgeräusch, als atonale Leitmelodie müssen wir uns einen ganz anderen Kommunismus-Diskurs vorstellen, einen internationalen, dessen Akteure in dutzend Weltsprachen übersetzt sind: Antonio Negri, Alain Badiou & Slavoj Žižek. Zu letzterem fällt – weil er den Leninismus erneuert? – dem ZEIT- Feuilleton das schöne Lob ein. „Žižek ist ein seltenes Originalgenie, sein Denken, frech, sprunghaft und anekdotisch, es ist witzig und ein großes Vergnügen. Žižek ähnelt einem Sprengmeister, der mit der Kerze in der Hand über die Zündschnüre stolpert und den philosophischen Punkt doch mit schafwandlerischer Präzision trifft.“(17) Das neueste Buch des zweiten, Alain Badiou, wird adäquat im Klappentext vorgestellt: „Heute gilt: der Kommunismus ist gescheitert und die parlamentarisch organisierte Demokratie im Verbund mit dem zeitgenössischen Kapitalismus ist die einzige und zugleich beste Wahl, die wir haben. Badiou setzt dagegen die Frage, ob wir uns heute nicht in einer vergleichbaren Situation wie der junge Marx um 1840 befinden, einer ähnlichen Ausweglosigkeit gegenüberstehen? Sollten wir nicht, wie Marx, in Zeiten der Unmöglichkeit gerade das Unmögliche affirmieren und der kommunistischen Hypothese, diesem Namen eines weiterhin bestehenden Problems, den Versuch einer neuen Lösung wiederfahren lassen? Müssen wir nicht folglich die Unmöglichkeit kommunistisch-emanzipatorischer Politik fundamental neu denken um Schritt für Schritt die Wahrheit der kommunistischen Hypothese zu belegen?“(18)

Alfons Markuske wirft mit Elan einen andern Stein ins den Wildbad dieser drei Freunde des Kommunismus. Im „Blättchen“ (Nr. 2, 24.1.2011) – der erheblich munteren Ost-Schwester des „Ossietzkys“ – dokumentiert er Auszüge aus Der kommende Aufstand, (Hamburg Nautilus 2010) mitsamt der ND-Besprechung von Hanloser. Er leitet das Konvolut mit folgender Überlegung ein:
„Die Debatte um gesellschaftlichen Wandel im 21. Jahrhundert ist hierzulande gerade durch einen Zeitungsbeitrag der PDS-Vorsitzenden Gesine Lötzsch belebt worden, und es bleibt zu hoffen, dass diese Belebung – über die sofort hoch schießende moralinsaure Empörung und Gegenbewegung in der Politik und quer durch die so genannten Mainstreammedien hinaus – von längerfristiger Wirkung bleibt, denn dass auch in Deutschland der soziale Druck im Kessel steigt, ist längst nicht mehr zu übersehen. Wer aber Eruption vermeiden will, der darf Veränderung nicht zu deckeln oder abzuwürgen versuchen, der muss sie gestalten.

Wer schon bei der bloßen Verwendung des Begriffes Kommunismus zum Generalangriff auf die Verwenderin und deren politische Freunde bläst, der sollte sich vor Augen halten, dass sich gesellschaftliche Veränderungen auch auf gänzlich anderem Wege als im Rahmen und nach den Spielregeln parlamentarischer Demokratie Bahn brechen können – siehe die Schrift „Der kommende Aufstand“, unter dem Titel „L‘insurrection qui vient“ in Frankreich bereits 2007 erschienen.
Das nur knapp 100 Seiten umfassende Buch stammt von anonymen französischen Autoren, die sich „Unsichtbares Komitee“ nennen. Eine deutsche Übersetzung ist im Internet zu finden. Durch die Feuilletons deutscher Zeitungen ging die Schrift so richtig erst im vergangenen Jahr. Der Spiegel urteilte: *Tatsächlich ruft ‚Der kommende Aufstand’ zu Sabotage, Subversion und auch zu Gewalt auf. In einem glühenden Untergangsszenario wird der postmoderne Kapitalismus beschrieben, in dem der Mensch nurmehr als ein ortloses, beziehungsarmes und maximal entfremdetes Wesen vorkommt … In ihren Anleitungen zum Aufstand empfehlen die Autoren die Gründung von Kommunen, die aus der Unsichtbarkeit heraus agieren und den Staat durch eine umfassende Unterwanderung zu Fall bringen sollen …`“

Ich muss hier meinen hoffentlich verlockenden Werbeblock roh abbrechen, und vertröste – jenseits des Kommunismus-Diskurses um und mit Lötzsch – auf die Siebenundzwanzig Thesen zum Kommunismus von Thomas Seibert in Krise und Ereignis, (VSA Hamburg 2009) und verweise vorerst auf Rubens Kabinettstück „ ‚Nur da herrscht völlige Gleichheit’. Von der Notwendigkeit exakter Begriffe und warum auch der Vatikan eine kommunistische Institution ist“ (ND 26.06.2010) – ein halbes Jahr vor Lötzsch. Ausgeschlossen ist m.E., dass sie Rubens Gedankengang, obwohl im ND, zur Kenntnis genommen hat, sonst hätte sie wahrscheinlich ihre Wege zum Kommunismus als Holzwege gemieden! Im Teil IV dieser Artikelserie werde ich meine Antwort zur Frage: „was ist Kommunismus“ bzw. „Das Projekt Communismus anders denken“ (Raul Zelik) zur Diskussion stellen. Vorweg sei mein Ausgangstext verraten: Nikolaj Bucharin / Jewgenij A. Preobraschenskij: Das ABC des Kommunismus . Populäre Erläuterung des Programms der Kommunistischen Partei Russlands (Bolschewiki), Wien 1920 sowie mein Motto, von Karl Kraus: „Der Kommunismus … – der Teufel hole seine Praxis, aber Gott erhalte ihn uns als konstante Drohung über den Häuptern jener, so da Güter besitzen (Die Fackel, Wien 1920).

Nachsatz zum Lieblingszitat der neueren (geschlagenen) Linken aus dem Kommunistischen Manifest.

Vordem war die Welt noch schön. Philosophen wie Ernst Bloch mochten gern aus dem Manifest der Kommunistischen Partei zitieren, ,die Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen, die herrschende Ideen einer Zeit waren stets nur die Ideen der herrschenden Klasse, die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftliche Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren, der Bourgeois sieht in seiner Frau ein bloßes Produktionsinstrument, das Bedürfnis nach einem stets ausgedehnteren Absatz für ihre Produkte, jagt die Bourgeoisie über die ganze Erdkugel; die große Industrie hat den Weltmarkt hergestellt und sie produziert vor allem ihre eignen Totengräber: Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich’.

In den Leidanträgen zum Erfurter Parteitag taucht plötzlich das modisches Lieblingszitat auf: „Es greift Marx’ Vision im Kommunistischen Manifest auf: An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation , worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.“ 8Z.990-992] Mehrere: Fragezeichen und Bemerkungen, die schulmeisterlich erscheinen mögen, was Absicht.

1. Das Zitat in-sich ist korrekt (MEW 4, S. 482); auch wenn mir die Originalschreibweise (London, Bildungs-Gesellschaft für Arbeiter, Februar 1848 [Ausgabe Thomas Kuczynski] besser gefällt ist (Klassen = Gegensätzen, eines Jeden, Aller)

2. Es ist unglaublich, von Marx` Vision zu sprechen. Militanter Antikommunismus hat wie bei den BRD Kröner-Ausgaben der Frühschriften aus den 50ern Engels verschwiegen; linkssektiererische Warenfetisch-Fetischisten faseln vom „Engelsismus“ – ausgerechnet im Marx-Engels-Jahrbuch 2008 – so grottendämlich das Wort, ebenso der ganze Artikel). Kaum ein zweiter Text, wo die Kongenialität von Engels spürbarer ist! Und Vision? „Wer Visionen hat, sollte zum Psychiater gehen – sagte Max Weber in solchen Fällen.

3. Dieser Zusatz fehlte in der Ersten Fassung des Entwurfs, sowieso war die alte Fassung für den Abschnitt ‚Demokratischer Sozialismus im 20. Jahrhundert’ konsistenter und weniger verquatscht. Ganz indiskutabel ist der Kontext: Also ob die „Universalität der Menschenrechte“ unbedingt einen Beleg aus 1848 benötigen würden, als ob eine kommunistisches Parteimanifest der privilegierte Ort dafür wäre, was ist eine gewagte Unterstellung ist. Zu DDR-Zeiten wusste man es mit Hermann Klenner besser, der mit direkten bezug auf das Manifest-Material in dem Abschnitt ,Der junge Marx und die sogenannten menschenrechte der Bourgeoisie’ ausführt:
Marx und Engels Einsicht ist, „daß es total unmöglich ist, den Kapitalismus mit der programmatischen Orientierung der sogenannten Menschenrechte in den Kommunismus zu transformieren, denn das hieße die bürgerliche Gesellschaft auf einer Basis rekonstituieren zu wollen, „die selbst nur der verschönerte Schatten dieser Gesellschaft ist“.[MEW 4, S.105) Daher weigerten sich Marx und Engels, statt von den wahren Interessen von den Interessen der Wahrheit, statt von den Interessen des Proletariers von den Idealen des Menschen auszugehen, eines Menschen, der weder Arbeiter noch Kapitalist, der überhaupt keiner Klasse, nur dem Dunstkreis philosophischer Phantasie zugehört.[Manifest MEW 4, S. 486] Daher machten sie sich später über die halbreifen studiosi, die der sozialistischen Bewegung anstelle einer materiellen Basis eine Dreieinigkeitsmythologie mit ihren Gerechtigkeits-, Freiheits- und Gleichheitsgöttern unterzuschieben versuchten, nicht weniger lustig als über den deut­schen Professor, der alles, was er selbst zu tun außerstande ist, von dem Menschen tun lässt“. (19)

4. Stellen wir uns eine begabte Studentin vor, die mit beiden klassischen Texten vertraut ist, sie möge das Dritte Kapitel von Mills Freiheit, „Von Individualität als einem der Elemente der Wohlfahrt, in einen Satz wiedergeben, so würde sofort diesen Marx/Engels-Satz wählen. Die Differenz wäre, dass die „Entwicklung der Individualität“ (S. 77) Mill für eine verwirklichbare Perspektive für seine gegenwärtige Gesellschaft halten würde, während der textimmanente Ort bei Marx/Engels eine durch Gütergemeinschaft charakterisierte kommunistische Gesellschaft thematisiert; denn der Ausgangspunkt ist die vollendete Abschaffung von Klassenunterschieden, die Aufhebung der Klassen überhaupt, genauer die Vernichtung der Bourgeoisie, und dann werden die Proletarier (jetzt als Klasse aufgehoben) als nichtentfremdete Individuen sich frei entwickeln können.

Früher wäre kein Linker auf diesen absurden Gedanken gekommen, ausgerechnet eine solche substantiell liberalistische Redeweise zu affirmieren. Hören wir Stephan Hermlin:
„Mit dreizehn Jahren las ich zufällig das »Kom­munistische Manifest«; es hatte später Folgen. Mich bestach daran der große poetische Stil, dann die Schlüssigkeit des Gesagten. Zu den Folgen ge­hörte, daß ich es mehrmals las, im Laufe der Jah­re sicher zwei dutzendmal. In drei Ländern hörte ich bei meinem Lehrer Hermann Duncker Vorlesungen über das Manifest; Duncker, der das Werk vom ersten bis zum letzten Wort hätte auswen­dig hersagen können, gehörte zu jenen nicht mehr Lebenden, die noch mit Tränen der Ergriffenheit in den Augen über marxistische Theorie sprachen. Das berühmte Werk führte mich zu schwierige­ren, umfangreicheren Schriften der marxistischen Literatur, aber ich kehrte immer wieder auch zu ihm zurück. Längst schon glaubte ich, es genau zu kennen, als ich, es war etwa in meinem fünfzig­sten Lebensjahr, eine unheimliche Entdeckung machte. Unter den Sätzen, die für mich seit lan­gem selbstverständlich geworden waren, befand sich einer, der folgendermaßen lautete: ‚An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ih­ren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine As­soziation, worin die freie Entwicklung aller die Bedingung für die freie Entwicklung eines jeden ist.’ Ich weiß nicht, wann ich begonnen hatte, den Satz so zu lesen, wie er hier steht. Ich las ihn so, er lautete für mich so, weil er meinem dama­ligen Weltverständnis auf diese Weise entsprach. Wie groß war mein Erstaunen, ja mein Entsetzen, als ich nach vielen Jahren fand, daß der Satz in Wirklichkeit gerade das Gegenteil besagte: ‚… worin die freie Entwicklung eines jeden die Be­dingung für die freie Entwicklung aller ist.“(20)

Wie groß wäre aber sein Erstaunen gewesen, wenn er in einen fiktiven Dialog mit Brecht und Peter Hacks eingetreten wäre. Brecht hätte auf seine Gedichte, ‚Lob des Kommunismus’, ‚Lob der Partei’ usw., auf den früheren 30er Jahren gezeigt, auf die damals scharfe Klassenauseinandersetzung, weit vor jedem Verschwinden von Klassenunterschieden . Erinnern wir uns: „Der Einzelne kann vernichtet werden/ Aber die Partei kann nicht vernichtet werden“. Oder: „Gehe nicht ohne uns den richtigen Weg / Ohne uns ist er / der falscheste.“(21) Ein Dichter, der das Individuum als Klassensubjekt kornnotiert, unterstellt es der Entwicklung aller (Klassensubjekte). Noch einmal Hermlins Lesepartikel: „worin die freie Entwicklung aller die Bedingung für die freie Entwicklung eines jeden ist.“ Hermlin hat demnach richtig falsch gelesen, vom Buchstaben her falsch, richtig jedoch vom Geiste des Manifestes, aus dessen Perspektive. Mit den DDR-Erfahrungen im Rücken, übernimmt Hacks beide Perspektiven, die reale der entfremdeten Subjektivität und die für alle verwirklichten (verwirklichbare) bürgerliche liberale Lesart, in gewohnt dialektischer Verklammerung. „Echte Ideale sind der allseitig ausgebildete Mensch oder das Jedem nach seinen Bedürfnissen […]; sie liegen in der Zu­kunft und zugleich im Nirgendwo; wir wissen, das kriegen wir nie und müssen es immer kriegen wollen.“ (22)

Mit der Fähigkeit von Schriftstellern gegen die herrschenden Gedanken anzudichten, geht es weiter.

Fortsetzung folgt:
Teil 3: Nachruf der Vorsitzenden auf den Dichter Semprun oder „Alles auf dem Prüfstand“?


(8) Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte vom Jahre 1844 [nach MEGA2 I/2]; S. 156. Der Joachim Höppner rekonstruiert informativ den Kontext ab Anm. 143 S. 274ff.
(9) Wie hieß es so schön bei dem anderen russischen Revolutionär? “ Es ist angenehmer und nützlicher, die ‚Erfahrungen‘ der Revolution‘ mitzumachen, als über sie zu schreiben“. Hätte nicht Luxemburg diesem Nachwort – datiert Petrograd 30.11. 1917) von Lenins Staat und Revolution begeistert zugestimmt? Sie hätte es ja leicht lesen können in der Ausgabe, aus der ich zitiere, aus dem Verlag DIE AKTION, Berlin-Wilmersdorf 1918, S. 115. Diese gemeinsame Dimension der beiden Revolutionäre, die durch alle Differenzen hindurch, substantiell blieb, weil beide nicht zuletzt das Grunddogma von Marx beherzigen, ‚die Philosophen habe die Welt nur verschieden interpretiert, …! Zu dieser Einheit im Denken siehe die vorzügliche Studie von einem alten 68er Kader aus der linken Gewerkschaftsbewegung, die Ernst macht mit jenem Gemeinplatz, man könne „nicht alles kritiklos übernehmen“ und die mehr als unbeliebt bei der „Rosa-Gemeinde“ ist: Manfred Scharrer: ‚Freiheit ist immer’… . Die Legende von Rosa & Karl. Berlin 2002, bes. das Kapitel ‚Gebraucht die Waffen‘, S. 156ff.
(10) Ruben endet seine Antwort auf Karen Vespers Frage mit einer Überlegung, die ich unbedingt teile, weil ich für den Dietzverlag (Frühjahr 2012) gerade mein China-Buch, „Chinas Zukünfte“ im Manuskript beende. „Dazu ist obendrein der asiatische Kommunismus zu denken, der in Gestalt der ökonomischen Potenz Chinas handgreiflich alle unsere herkömmlichen Sozialtheorien fraglich macht. “ Interview im ND 8.1.2011.
(11) Rorty, Richard: Das Kommunistische Manifest 150 Jahre danach. Frankfurt a. M. 1998, S. 12. Dass Rorty zuerst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ)24.2.1998) veröffentlicht wurde, wäre ja nach Lafontaines These der Stalinismusgleichen Informationswüste besonders hinterhältig. Oder?
(12) Steffen Dietzsch: Wider das Schwere. Philosophische Versuche über geistige Fliehkräfte Berlin 2002, S. 103.
(13) Brown, wie Anm. 4, S. 347.
(14) Günther Großer (Leitung eines Autorenkollektivs); Hrsg.: Der wissenschaftliche Kommunismus . Bestandteil des Marxismus-Leninismus. Berlin 1972, S. S. 10 und ders.: Wissenschaftlicher Kommunismus. Lehrbuch für das marxistisch-leninistische Grundstudium. Berlin 1974 , 598 S. mit großem Kartenanhang aller kommunistischen & sozialistischen Länder. Was aus meiner Sicht gegen den „WiKomm“-Profs. sprach, ist die blitzschnelle Wende 1990 beispielsweise in Leipzig (Karl-Marx-Universität) zu Professoren der Politikwissenschaft – einer allein verweigerte sich diesem Etikettenschwindel.
(15) Rosa Luxemburg: Zur russischen Revolution; zit. Nach Jörn Schütrumpf (Hrsg.): Rosa Luxemburg oder der Preis der Freiheit. Berlin 2010, S. 124
(16) John Stuart Mill: Über Freiheit [1859]. Frankfurt/Wien 1969, S.64/65 – In der Reihe ‚Politische Texte’ der EVA, in der u.a. Luxemburg, Liebknecht, Lafargue und Trotzki, Blanqui und Korsch erschienen sind. „Nicht gelesen“ ist die Selbstkritik eines 68ers, meine eigene!
(17) Thomas Assheuer, wiederabgedruckt als Klappentext, im booklet zum Film über und mit Žižek. Nähere Angaben zu dem Film, zu seinen positiv-provokativen Texten über Lenin, Mao und Stalin, siehe: Manfred Lauermann: Žižek. Der Dadaist als Neoleninist. Ein produktives Missverständnis. In: kultuRRevolution Nr.59 2010, S. 77-80.
(18) Alain Badiou. Die kommunistische Hypothese. Berlin 2011 [fr. 2008, engl. 2010] – der Klappentext ist auf dem Merve-Band 349.
(19) Hermann Klenner: Marxismus und Menschenrechte. Berlin 1982, S. 71/72
(20) Stephan Hermlin: Abendlicht. Berlin 1979, S. 20/21
(21) Bertolt Brecht: Gedichte 1981, S. 462/463.
(22) Hacks, Werke 13, S. 235; zitiert nach Felix Bartels: Leistung und Demokratie. Genie und Gesellschaft im Werk von Peter Hacks. Mainz 2010, S. 100. – Auf diesen originellem Beitrag zur Kommunismusdiskussion gehe ich ausführlich ein in „Was ist Kommunismus? (September)

Ein Kommentar

  1. Lieber Manfred,
    ein gewohnt spannender Text, zu dem ich allerdings zwei entscheidende Einwände vorbringen möchte:

    a) Das, was in der Wagenburg passiert, folgt anderen Gesetzen als das außerhalb der Wagenburg – es kann gut sein, dass GL als „Obertrollin“ (1) die Debatte primär mit Blick auf die derzeitigen innerlinken Grabenkämpfe angezettelt und die Außenwirkung billigend in Kauf genommen hat, also machttaktischer agiert hat als du anzunehmen scheinst. Dass der Ernst in der Wagenburg von außen nur als tolldreiste Farce wahrgenommen wird, ist ein anderes Thema, zeigt aber, wo die Linkspartei steht. Auch das – kein Sonderweg in Europa.

    b) (Auch) du hast mir – in diesem Beitrag – die Mechanismen der „herrschenden Ideologie der unterdrückten Klasse“ zu wenig im Blick. Auf eine entsprechende Frage an Erich Hahn im März diesen Jahres nach dessen – für einen gelernten DDR-MINT-Akademiker wohlfeilen – Ausführungen über die „herrschende Ideologie als Ideologie der herrschenden Klasse“ reagierte er extrem verschnupft, wie auch Frank Deppe als spiritus rector der Veranstaltung. Auf Wendls Beitrag im Sozialismus 2/2011 angesprochen wurde deutlich, wie die „wirklich linken Dinger“ (2) funktionieren. Die von Wendl thematisierte religiöse Dimension ist unverkennbar. Ich denke, hier ist viel aus Hoevels‘ Klassiker (3) zu entnehmen.

    Eine neue Kommunismusdebatte tut auch aus meiner Sicht not, aber vielleicht waren die Klassiker (oder auch nur die Dogmantiker) da doch zu unvorsichtig, die alten Franzosen als „utopische Sozialisten“ zu bezeichnen. Ist Kommunismus mehr als ein (sich mit jener transformierendes) utopisches Element innerhalb der bürgerlichen Reform, der du ja letztlich auch das Wort redest (ich stimme dir da zu – siehe meine These von der „pubertären Form der Freien Gesellschaft“)?
    Und wo ist der Ort, an dem die „heimatlosen Linken“ (4) das diskutieren können?

    (1) Trolle und trolliges Verhalten scheinen gerade in der Linken eine wichtige Funktion zu haben, nicht zuletzt im Detail in Erich Köhlers Buch „Sture und das deutsche Herz. Ein Trollroman“ ausgeführt. Warum soll sich also eine Vorsitzende nicht auch dieses Instruments bedienen – frage ich als Alter Troll.
    Mehr zu Trollen siehe http://hg-graebe.de/Texte/Kommentare/11-01-23.txt

    (2) „Unbekannt“ (d.h. Nutzer CoLo nach Anwendung der Moderatorenkeule) schreibt am 08.01.11 21:35 im Thread „Zensurvorwürfe“ (auf linksaktiv.de) „Die politisch Unerfahrenen haben da mitunter wenig Kenntnis von den wirklich ‚linken Dingern'“. Ebenda.

    (3) Fritz Erik Hoevels: Wie unrecht hatte Marx wirklich? Band 1: Gesellschaft und Wirtschaft. Ahriman Verlag 2009. Eine exzellente Ideologiekritik, die bei den Klassikern ja bekanntlich noch der „nagenden Kritik der Mäuse“ zum Opfer fiel und viel später erst von Rjasanow ausgegraben wurde. Man muss mit Hoevels‘ bolschewistischen Positionen nicht konform gehen, um das Buch mit großem Gewinn zu lesen. Die Haue, die er in seinem Wikipedia-Eintrag bekommt, ist Teil der o.g. „wirklich linken Dinger“.

    (4) http://www.poetenladen.de/zwerenz-gerhard-sachsen99-61-heimatlose-linke2.htm

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