von Matthias Zwack
„Alright Internet, what do you want from us? If we angered you somehow, let us know!“ – South Park
Die 15 Mann auf der Totenmannskiste waren sie zwar nicht gerade, aber zumindest Anzahl (und Geschlechterrolle) der Crew stimmte, welche am Sonntag, den 18.9.2011, das preußische Landtagsgebäude enterte. Da derartige Veränderungen im bundesdeutschen Parteiensystem eher selten passieren, war das Erstaunen in Politik und Medien entsprechend groß. Und auch wenn die Berliner Piraten mit ihrem braven, nerdigen Erscheinungsbild und ihrer fast schon sympathischen und bodenständigen Unbekümmertheit, ja, beinahe möchte man sagen: Hilflosigkeit, so gar nicht wie echte Schrecken der sieben Weltmeere wirken mögen, ganz piratenmäßig waren auf jedem Fall Angst und Schrecken, die ihre Kaperfahrt in den Köpfen der Wahlbeobachtenden verbreitete. Ihr Heimathafen, so munkelte es durch Fernsehen und Zeitungen, läge wurde nämlich in einem unberechenbaren, weitestgehend unkartographiertem, und somit mysteriösem und Mythenumwobenem Gewässer: Dem Internet. Immer wieder wird auf die Wurzeln der Piraten in der Hackerszene verwiesen und fest gestellt, diese würden vor allem die „internetaffine“ Jugend ansprechen und mit „netzpolitischen Themen“ Punkte sammeln. Unisono wird ihnen damit bescheinigt, ein gesellschaftliches Phänomen verstanden und besetzt zu haben, dessen Mechanismen und Wirkungsweisen den „traditionellen“ Parteien mehr oder minder verborgen bleiben. Darüber, was dieses Internet eigentlich sein soll, geschweige dem, wie es politisch zu besetzen und zu erobern ist, herrscht Ratlosigkeit, macht sich ein gewisses Unbehagen bereit.
Interessant an dieser Verknüpfung von Piraten und Internet ist die tatsächliche Diskrepanz zwischen der Zuordnung der beiden Begriffe im öffentlichen Diskurs auf der einen, der Tatsache, dass netzpolitische Themen im Wahlkampf der Partei aber eigentlich im Gegensatz zu etwa den Rubriken Open Gouvernment, öffentlicher Nahverkehr, Drogenpolitik oder Grundeinkommen eine eher untergeordnete Rolle gespielt haben auf der anderen Seite. Die Vermutung liegt nahe, dass es sich hierbei um eine künstliche Verknüpfung zwischen dem Wahlerfolg der Piraten und dem Medium Internet handelt, die im Endeffekt vor allem was über die Haltung der Öffentlichkeit zum World Wide Web aussagt, denn über die Haltung der Piraten zu eben jenem. Die in den Kommentar- und Klatschspalten offenbarte Vorstellung über das Internet scheint nämlich die einer Art zur analogen Realität parallel laufenden, digitalen Alternativgesellschaft zu sein, die irgendwelchen eigenen, von außen nicht verständlichen Regeln gehorcht. Aus dieser Vorstellung heraus scheint für viele Beobachter aufgrund der vorgeblichen Unkontrollierbarkeit dieses Mediums eine unmittelbare Bedrohung für die Analogwelt abgeleitet zu werden: Die zahllosen Versuche von politischer Seite, durch Verbote von „Hacker-Tools“ und „Killerspielen“, Netzsperren, Datenspeicherung, Stoppschildern und anderen Absurditäten die vermeintlich ungezügelte Online-Welt als modernes Sündenbabel in ihre Schranken zu weisen, sprechen ebenso für die These, wie etwa das fast schon religiöse Erstaunen über den Obama-Wahlkampf 2008, welcher angeblich „so gut mit dem Internet“ umgehen konnte und die im Fernsehen bei Wahlen und großen politischen Ereignissen wie dem „arabischen Frühling“ immer häufiger zu sehende Live-Berichterstattung aus Facebook, Twitter & Co., welche den Charakter säkularer Gottesdienste, also einer Fetischisierung der Netzwelt als unergründliches, aber mit enormer Bedeutung aufgeladenes Mysterium annehmen.
Interessant ist aber auch, dass gerade „netzpolitische“ Bewegungen wie etwa die Piraten ebenso dieser Fetischisierung des Digitalen auferliegen. Von der anderen Seite aus gesehen, versteht sich. Für die Piraten scheint das Motto zu gelten: Was im Internet funktioniert, muss doch in der Gesellschaft „da draußen“ auch gelten können. Will man den Piraten also so etwas wie eine Agenda unterstellen, dann läge diese darin, die gesellschaftliche Spaltung zwischen Alltag und Internet zu überwinden und digitale und analoge Welt miteinander zu versöhnen. So wirklich scheint sich dabei der Gedanke noch nicht ganz durchgesetzt zu haben, dass die Welt da draußen nach anderen Regeln funktioniert und andere Prioritäten setzt als der Code eines Computerprogramms. Symptomatisch dafür sind nicht nur die etwas verplanten Äußerungen des Berliner Piratenkapitäns Andreas Baum in letzter Zeit, etwa bezüglich des Berliner Schuldenberges („ein paar Millionen“), der Kriminalitätsbekämpfung („dasselbe wie alle anderen Parteien auch“) oder der politischen Priorität, was als erstes in Angriff genommen werden sollte (Twitter-Erlaubnis im Abgeordnetenhaus), sondern z.B. auch die vollkommene Ignoranz von äußerst realen Herrschaftsmechanismen, wie etwa den einer gesellschaftlich virulenten patriarchalen Heteronormativität oder der Umgang mit rechten Gedankengut in den eigenen Reihen.
Diese Vorstellung von einer parallel laufenden Online Offline-Gesellschaft zeigt eigentlich nur, dass ein großer Teil der Bevölkerung die digitale Revolution vollkommen verschlafen hat. Denn das „Wesen“ des Internets – sofern überhaupt von einem solchen geredet werden kann .-ist eigentlich ganz banal: Es ist ein von Menschen gemachtes und potentiell den Menschen dienendes Werkzeug, mit dem sich gewisse gesellschaftliche Arbeiten verrichten lassen, nicht anders, als etwa ein Faustkeil, ein Musikinstrument oder eine Plastiktüte. Das Netz mag zwar ein mächtiges, wichtiges und sicher auch „revolutionäres“ Instrument sein, mit dem sich verschiedene Aufgaben wie Kommunikation, Informationsaustausch und Kreativität in einer bisher nie dagewesenen Qualität und Quantität bewerkstelligen lassen. Aber diejenigen, die es benutzen, sind ganz normale Menschen aus Fleisch und Blut, die sich tagtäglich in der ganz normalen gesellschaftlichen Realität begegnen, sich aufgrund ihres hauptsächlich dort gewonnen Erfahrungsschatzes verhalten und ganz materiellen sozialen Verhältnissen unterworfen sind und diese reflektieren. Umgekehrt wirkt sich der Siegeszug des Internets, und damit die mit diesem Werkzeug einhergehenden Innovationen, wie bei jeder Einführung eines neuen Werkzeugs, wiederum auf die Gesellschaft als Ganzes aus.
Von daher existiert die so häufig postulierte soziale Parallelität von Materialität und Virtualität schlicht und einfach nicht: Das Internet schafft zwar Möglichkeiten der Kommunikation und bietet Raum für umfassende soziale Experimente, etwa neue Formen der demokratischen Partizipation, wirft gleichzeitig aber auch neue Probleme auf. Nicht reflektiert wird dabei aber, dass diese digitale Welt gerade für die jüngeren Semester (wozu allerdings genau genommen, wenn es um die Selbstverständlichkeit digitaler Medien geht, schon die Generation bis 30+ gerechnet werden müsste) gewissermaßen völlig normaler Bestandteil ihrer Alltagswelt ist, dass sie eine Erweiterung, keineswegs aber eine Alternative der materiellen Realität bietet und dass sich die beiden Sphären analog und digital streng genommen überhaupt nicht voneinander trennen lassen.
Und ganz genau dort liegt der Punkt, an dem eine progressive, emanzipatorische Netzpolitik ansetzen kann: Sie sollte sich vom Fetischcharakter des Internets lösen, und sich lieber auf die gesamtgesellschaftlichen Auswirkungen dieses Mediums konzentrieren, um von diesem Standpunkt aus linke Positionen präsentieren zu können. Vier Aspekte des Mediums Internet erscheinen mir dabei besonders wichtig: Kommunikation, Partizipation, Konsum und Ökonomie.
Kommunikation
Der Aspekt der Kommunikation ist vielleicht derjenige, der sich den Durchschnittsuser_innen am meisten erschließt. Egal, ob in Form von privaten Homepages und Blogs, über Telefon- und Chatdienste wie Skype und ICQ oder durch das Posten auf Facebook – die meisten Menschen benutzen das Internet als Mittel gegenseitigen Austausches. Dabei lässt das Netz aber nicht etwa Kommunikation im Allgemeinen, sondern, ebenso wie vordigitale Kommunikationsmethoden vom Brief bis zum Telefon, sondern eher bestimmte Arten von Kommunikation zu und schafft neue Formen des zwischenmenschlichen Umgangs miteinander. Einerseits war es wohl nie so möglich so schnell mit so vielen Leuten auf der Welt gleichzeitig in Verbindung zu treten wie im digitalen Zeitalter: Etwa 1,5 Milliarden Menschen haben weltweit regelmäßigen Zugang zum Internet. Auf der anderen Seite ist der Internetzugang damit aber auch zu einem sozialen Ausschlusskriterium geworden, welches in der Regel als „digitale Kluft“ bezeichnet wird: Weltweit nutzen nur etwa 17 Prozent dieses Medium, während der Rest aus verschiedenen, etwa infrastrukturellen, ökonomischen, oder auch Altersgründen davon ausgeschlossen wird. Auch in der EU leben immerhin noch etwa 40% der Bevölkerung permanent Offline. Allein auf Grund solcher Umstände ist die viel gelobte angebliche „Offenheit“ des Internets schon einmal prinzipiell anzuzweifeln: Global gesehen kann nur eine Minderheit das Medium Internet frei nutzen. Politisch gesehen könnte es also darum gehen, diese digitale Spaltung zu überwunden. In Estland etwa ist der Staat dazu verpflichtet, allen Bürgern einen kostenlosen Internetzugang zu gewährleisten, ein für eine egalitäre Linke unbedingt nachahmenswertes Modell. Auch Forderungen nach flächendeckender Anbindung aller durch leistungsfähige Bandbreitnetze und der möglichst kostengünstigen Bereitstellung von Endgeräten wie Computern und Smartphones wären aus dieser Perspektive heraus eigentlich nur logisch und konsequent.
Nun sind die Möglichkeit eines Internetzugangs und die Art und Weise, wie man diesen auch wirklich nutzt, zwei ganz verschiedene Dinge. Millionen von Menschen fallen auf vermeintliche Online-Angebote herein, installieren aus Unwissenheit Malware und machen ihre Computer damit zu Virenschleudern für große, kommerziell genutzte Zombiefarmen und geben aus Unkenntnis auf Facebook, Google & Co. ihre Privatsphäre völlig auf. Das Stichwort des „Gläsernen Users“, dessen Daten von Unternehmen zu kommerziellen Zwecken genutzt und getauscht werden, sowie die Möglichkeit der gegenseitigen Überwachung aller sozialen Aktivitäten und persönlichen Vorlieben untereinander, sind äußerst reale Probleme, die medial in der Regel zu Schreckensszenarien aufgebauscht werden, allerdings ohne, dass gleichzeitig sinnvolle Tipps gegeben werden, wie man sich sinnvoll gegen derartige Selbstentblößungen wehren kann. Forderungen nach Verboten und gesetzlichen Einschränkungen sind jedoch sehr vorsichtig zu betrachten: Meistens bedeuten sie nur die Einführung von staatlichen Eingriffen in die Kommunikationsfreiheit des Internets, die durchaus als Zensurmaßnahmen bezeichnet werden können, während der protektionistische Nutzen gerade in einem solch dynamischen System wie dem Internet, das erfahrenen User_innen immer die Möglichkeit einer Umgehung bietet, getrost bezweifelt werden darf.
Emanzipatorische Politik sollte dem einen aufklärerischen Ansatz entgegen stellen, also darauf hinarbeiten, dass die Menschen sich bei der Nutzung eines Mediums erst einmal der Funktionsweise dieses Mediums bewusst werden. In dieser Hinsicht herrscht noch gewaltiger Nachholbedarf. Sinnvoll wäre es von daher, bereits möglichst früh auf einem vernunftbetonten Umgang mit dem Internet hin zu arbeiten und möglichst praxisnahe Methoden aufzuzeigen, wie wirkungsvoll und nachhaltig gegen Attacken aus dem Internet geschützt werden kann. Die Palette an aufklärerischen Maßnahmen müsste dabei eine grundlegende Auseinandersetzung mit der Technologie des Internets beinhalten und eine breite Spannweite, angefangen bei Banalitäten wie sinnvollen Konteneinstellungen bei Online-Diensten und Installation von Sicherheitswerkzeugen wie Anti-Viren-Scannern, Skriptblockern etc., bis hin zu schweren Geschützen wie einer ordentlichen Rechteverwaltung in Betriebssystem und der Einrichtung von Proxy-Verbindungen für anonymes Surfen ohne digitale Fingerabdrücke zu hinterlassen, reichen. Im Mittelpunkt solcher Schulungen dürfte dabei auch die Erkenntnis stehen, dass derartige Sicherheitsmaßnahmen nicht schwierig und kompliziert, sondern eigentlich sehr einfach und intuitiv zu bewerkstelligen sind, wenn einmal die Grundprinzipien bekannt sind. Vor allem muss klar gemacht werden, dass derartige Überlegungen nichts (nur) für Computernerds, sondern selbstverständliche und notwendige Techniken zur Netzbenutzung sind, etwa so, wie das Bedienen einer Telefontastatur für den Gebrauch eines Mobiltelefons.
Partizipation
Auch unter die Rubrik „emanzipativer Umgang mit dem Internet“ fällt die Debatte um Offenheit, Transparenz und Mitentscheidung im Internet. Viele Projekte, die symptomatisch für die digitale Gesellschaft sind, etwa die Online-Enzyklopädie Wikipedia, werden nicht zentral geplant und ausgearbeitet, sondern entstehen durch dezentrale, egalitäre Zusammenarbeit vieler User an dem Projekt. Und in vielen Foren und Blogs ist es prinzipiell allen User_innen möglich, über bestimmte, oft von der Community selbst vorgegebene Themen mit zu diskutieren. So begrüßenswert die Möglichkeiten dieser Kulturtechniken auch sind, so falsch ist die Fehlinterpretation dieser Techniken als Formen der „Online-Demokratie“. Die Offenheit der Netzdiskussionen lässt nämlich ganz neue Macht- und Herrschaftstechniken zu, deren Anwendung sich, außer mit repressiven Maßnahmen, die dann aber wiederum den Sinn der offenen Kommunikation bedrohen würden, kaum sinnvoll begrenzen lässt. In der Anonymität des Internets ist es nämlich leicht, die eigenen Ziele und Methoden zu verbergen. Bekannte „unfaire“ Mittel der Steuerung einer Diskussion zum Zwecke einer eigenen Diskurshegemonie sind etwa das Auftreten als koordinierte Gruppe innerhalb einer Diskussionsrunde, von deren Absprachen die übrigen User_innen nichts wissen, oder gleich die Beeinflussung einer Diskussion durch „Sockenpuppen“, also Fake-Accounts, die vorgeben, verschiedene Personen zu sein, aber in Wirklichkeit von einer Person gesteuert werden. Ebenso berüchtigt ist das Phänomen der „Forentrolle“, also der gezielten Einbringung kontroverser Themen zur Chaotisierung einer einem selbst unliebsamen Diskussion. Verantwortungsbewusste Seiten-Administrator_innen versuchen zwar, derartige Methoden zu unterbinden, aber ganz ausschließen lässt sich der Erfolg solcher Mittel in einem Medium, das keine eindeutigen Namen und Gesichter zuweist (eine ansonsten im Übrigen sehr positive Sache), nie. Auf der anderen Seite besteht das Problem, dass die Moderation in vielen Fällen – berechtigterweise – nach eigenen Kriterien moderiert und nie ganz kontrollierbar ist.
Um es kurz zu sagen: In der Diskussionskultur des Internets eine Form der Demokratie zu sehen, ist schlicht und einfach falsch und geht an der Realität vorbei. Denn zwar ist die prinzipielle Möglichkeit der Partizipation gegeben, mit der Repräsentation schaut es aber anders aus. Über Online-Abstimmungen oder Foren-Posts erzeugte „Stimmungsbilder“ oder gar Extremmaßnahmen wie die Praxis der Piratenpartei, ihr Parteiprogramm über ein Online-Wiki zu erstellen, können deshalb nie demokratisch sein und sollten auf keinen Fall Einzug in das Netzverhalten linker Politik halten. Auf der anderen Seite sind die Möglichkeiten der aktiven Teilhabe, sowie der größtmöglichen Offenheit und Transparenz politischer Entscheidungen und ihrer Entstehung, die das Internet bietet, überaus begrüßenswert, genauso wie Möglichkeit, sich anonym zu Wort zu melden und der eigenen Stimme auch ohne die Angst vor Konsequenzen Gehör zu verschaffen.
Konsum
Das Internet ist nicht nur eine Plattform für Ideenaustausch, sondern auch ein großer Marktplatz, der von Online-Shops wie Amazon oder eBay dominiert wird. In der Öffentlichkeit wird dabei allerdings oft zwischen „guten“ und „schlechten“ Konsum unterschieden. Letzterer läuft vor allem unter dem Label „Filesharing“, also dem unentgeltlichen Austausch von urheberrechtlich geschütztem Material wie Filme, Musik, Computerspiele etc. über Torrents oder Filehoster. Aus einer linken Perspektive müsste diese Möglichkeit eigentlich uneingeschränkt begrüßt werden, führt sie doch dazu, dass Kulturgüter der Allgemeinheit ohne Kostenaufwand zur Verfügung gestellt werden können.
Dennoch wird gerade von Seiten der Rechteinhabenden massiv gegen diese Form des freien Informationsaustausches Stimmung gemacht und Filesharer_innen sind der stetigen Gefahr von Unterlassungsklagen ausgesetzt. In manchen Ländern, auch wieder aktuell in der BRD, wird sogar unter dem Kampbegriff „Three Strikes“ darüber diskutiert, Menschen, die einer solchen Urheberrechtsverletzung überführt werden, den Internetzugang einzuschränken. Auch hier ist die Grenze zwischen Schutz von Urheberrechten und staatlicher Zensur schwer zu ziehen. So dürfen etwa die öffentlich-rechtlichen Sender in der BRD ihre Sendungen nur für eine gewisse Zeit online stellen und müssen sie dann später löschen. Und gerade deutsche User_innen wissen, wie ärgerlich es ist, wenn man einen neueren Video-Clip sucht, nur um dann mit der Nachricht: „Dieses Video ist in ihrem Land nicht verfügbar“ begrüßt zu werden. Gerade die Frage des Themas „Urheberrecht vs. Informelle Selbstbestimmung“ ist eine Thematik, in der sich eine linke Netzpolitik besonders profilieren könnte. So ist z.B. die rechtliche Legitimität der strafrechtlichen Verfolgung von Urheberrechtsverletzungen ziemlich umstritten, war das Anfertigen und Tauschen von Sicherheitskopien doch auch schon in Zeiten von VHS und Audiotape gängiger Usus. Und ein direkt durch Filesharing verursachter wirtschaftlicher Schaden für die Urheberrechtsinhabenden konnte bisher auch nicht nachgewiesen werden.
Auf der anderen Seite muss aber auch hinterfragt werden, ob alternative Konzepte, etwa das einer so genannten „Kultur-Flatrate“, nach der alle potentiellen Konsumierenden einen bestimmten Betrag pro Monat an die Gema überweisen und dafür Dateien herunter laden können, wie sie möchten, wirklich einen Fortschritt darstellen. Der Vorteil dieses Modus gegenüber Online-Tauschbörsen leuchtet nämlich nicht wirklich ein. Viel mehr erinnert dieses Konzept an das Modell der GEZ zur Finanzierung des öffentlich-rechtlichen Fernseh- und Radioprogramms. Dass das durch die Flatrate erwirtschaftete Geld dann irgendjemand anderen hilft als Universal, Fox & Co., darf aber mal gehörig bestritten werden, ebenso wie Behauptung, die downloadbaren Inhalte wären dann „frei“, würden diese dann doch nur den Leuten mit Flatrate-Zugang zur Verfügung stehen. Außerdem ist die Entrichtung eines Einkommensunabhängigen Pauschalbetrages zutiefst unsozial.
Linke Urheberrechts -Politik sollte eher ein grundsätzliches Bekenntnis zur allgemeinen Verfügbarkeit von Kulturgütern über das Internet als Grundrecht beinhalten und die Frage nach den Auswirkungen auf den Profit der Unternehmen mal lieber diesen selbst überlassen. Es gibt ja bereits eine Reihe von kommerziellen Modellen, bei denen man sich etwa Fernsehsendungen kostenlos auf durch Werbung finanzierten Websites anschauen kann (wobei die Beendigung der Werbebelästigung durch die Nutzung von Adblockern grundsätzlich allen frei steht). Es kann aber nicht Aufgabe linker Netzpolitik sein, für den Profit großer Medienkonzerne zu sorgen.
Ökonomie
Im Zusammenhang mit Netzpolitik oft und viel diskutiert wird das „Open Source“-Konzept, also von Software, aber im zunehmenden Maße auch anderen Produkten wie 3D-Druckern etc., die nicht nur frei allen zur Verfügung stehen, sondern deren Programmcodes bzw. Bauanleitungen „offen“, d.h. für alle einsehbar und somit auch nachbau- und erweiterbar sind. Oftmals wird dieses Konzept im Zusammenhang mit dem so genannten „commons“-Konzept als Alternative zur kapitalistischen Produktionsweise beworben: Im Gegensatz zu normalen Produkten, deren Baupläne und Vertrieb rechtlich gesichert exklusiv einzelnen Marktanbietern gehören, gehören Open-Source-Produkte der Allgemeinheit. Aus einer linken Perspektive heraus ist diese Entwicklung zusammen mit anderen, auch zunächst über das Internet verbreiteten, alternativen Urheberrechtskonzepten wie der „creative commons“-Lizenz, auf jedem Fall unterstützenswert. Open Source befreit die User_innen von den Launen des Marktes und gibt ihnen ein Stück Entscheidungsfreiheit und Selbstkontrolle über die von ihnen verwendeten Güter zurück. Auch dieser Text hier ist mit einem Open Source-Schreibprogramm auf einem Open Source-Betriebssystem verfasst und der Autor hat damit wesentlich weniger Schwierigkeiten als mit seinem Windows 7, das meist unberührt friedlich auf einem anderen Teil seiner Festplatte schlummert. Open Source hätte also durchaus das Potential, eine neue, gemeinschaftlich kontrollierte Ökonomie jenseits des Kapitalismus aufzubauen und könnte damit auch außerhalb der digitalen Welt Schule machen.
Allerdings sind auch hier Einwände angebracht. So erlauben viele Open-Source Lizenzen die Verwertung des Codes zu wirklich allen Konditionen und machen es damit auch möglich, dass der Code oder Teile des Codes kommerziell vermarktet werden können. Unternehmen wie Google, Red Hat, oder Canonical – bekannt für die Linux-Distribution „Ubuntu“ – haben sich bereits auf den Vertrieb derartiger Form der Software spezialisiert und scheffeln mit den Früchten der Arbeit von Freizeit-Programmierenden Profit. Was hier als innovative, gemeinschaftliche Form des Wirtschaftens jenseits des Kapitalismus verkauft wird, wirkt vor diesem Hintergrund eher wie eine Eskalationsstufe der Selbstausbeutung der Digital Boheme: Die idealistische Hobby-Bastler_in arbeitet ja in der Regel in ihrer Freizeit und unbezahlt, das heißt, sie wird für ihre Arbeitskraft gar nicht mehr entlohnt, sondern verrichtet ihre Dienste in der Freizeit. Von „Ausbeutung“ im klassischen Sinn kann dabei gar nicht mehr gesprochen werden, denn einen Arbeitsvertrag gibt es hier nicht mehr, geschweige dem irgendeine Form von Vergütung. Statt dessen führt die Illusion, „selbstbestimmt“ und „freiwillig“ zu arbeiten, dazu, dass sich die Arbeitenden mit den von ihnen geschaffenen Produkten identifizieren und gar nicht mehr erkennen, dass sie längst nicht mehr ihnen gehören. Hier offenbart sich der kapitalistische Arbeitsfetisch par excellence: Lohnarbeit wird nicht als eine strukturbedingte Notwendigkeit in der Verwertungslogik einer kapitalistischen Gesellschaft begriffen und kritisiert, sondern stellt einen erstrebenswerten Wert an sich dar. Originell und neu ist das nicht gerade. Vielmehr wird hier ein Problem des Kapitalismus als dessen Lösung verkauft.
Zusammengefasst besteht eine unbedingte Notwendigkeit der Linken, sich mit dem Thema „Netzpolitik“ auseinander zu setzen und eigene Positionen zu entwickeln. Ein linker Politikansatz sollte sich dem Thema dabei gleichermaßen emanzipativ und emanzipatorisch annähern. Am Anfang einer solchen Politik muss das Verständnis des Internets als ein die Gesellschaft revolutionierendes und in sie einwirkendes Werkzeug, aber nicht als von der Gesellschaft unabhängiger Eigenwert, oder gar einer fetischhaften Mystifizierung desselben, stehen. Als von Menschen gemachtes Artefakt muss es dabei für die Menschen und durch die Menschen funktionieren und darf nicht zur Unterdrückung und Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zweckentfremdet werden. Dass das Internet davon derzeit weit entfernt ist, liegt unter anderem auch daran, dass die Politik im Allgemeinen und damit auch linke Politik im Spezifischen es bisher versäumt hat, sich Gedanken über dieses Werkzeug zu machen. Es ist also dringend an der Zeit, dafür zu sorgen, dass das Internet ein Medium wird, in dem die Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Partizipation gelten und von diesem aus in den Rest der Gesellschaft ausstrahlen.
Dies wäre auch der wünschenswerte Ansatz, der eine linke Netzpolitik von der anderer politischer Strömungen, etwa der Piraten, unterscheidet: Diese stellen nämlich die der Netzkultur zu Grunde liegenden gesellschaftlichen Verhältnisse in keiner Weise in Frage. Im Gegenteil ist ihnen daran gelegen, diese durch neue, „innovative“, aber nicht unbedingt im Sinne der Produzenten gerechte Reformen verbessern und erneuern. Oder, wie es ein Pirat jüngst auf dem Online-Forum „Lafontaines Linke“ ausdrückte: „Abseits der Kampfrhetorik wird fleißig an einem vollbeschäftigten, sozialeren, multikulturelleren, gegenderten und straffer regulierten, ›nachhaltigen‹ Kapitalismus“ – einer Art „Kapitalismus 2.0“ also – gebastelt. Linke Netzpolitik sollte aber nicht die Reform der kapitalistischen Produktionsweise im Sinn haben, sondern deren Abschaffung. Das gilt im Digitalen ebenso wie im Analogen.
„Ich hingegen meine, dass Menschen eben nur beschränkt aus freien Stücken handeln, weil sie eben nicht alleine im luftleeren Raum stehen, sondern sich ihr Handeln ganz zwangsweise aus ihrer Interaktion mit der sie umgebenden Umwelt ergibt. Oder mit anderen Worten: Gesellschaft ist keine Verschwörung der Psycholanalyse, um mit Unzufriedenen Geld zu verdienen, sondern das, was uns als Menschen entscheidend prägt.“
Da hast Du natürlich recht. Das Sein (um jetzt mal recht pauschal zu antworten, ich kenne natürlich die Einwände der Hirnforschung und die resulierende Negation des freien Willens, die ich nur bedingt auf Grund der beobachtbaren Effekte teile) bestimmt das Bewustsein – oder um es mit meinen Worten auszudrücken – den Bezugsrahmen in dem sich ein Mensch bewegt ist variabel, die Konstante bleibt gleich. Natürlich entfaltet sich das Wesen des Menschen immer im Kontext dessen, was er als richtig und wahr erachtet. Dennoch wird er sich innerhalb dessen, was er als richtig und wahr erachtet, seinem Wesen entsprechend, egoistisch verhalten. Sprich der Bezugsrahmen verändert sich, aber die Konstante bleibt gleich.
Als Resultat bewegt sich der Mensch in seinem Bezugsrahmen und entfaltet seine Natur in ebendiesem, was dazu führt, dass in jedem politischen System das Wesen des Menschen andere Resultate zeitigt, sich der unabänderliche Egoismus nur anders manifestiert und man (in einer idelatypischen Betrachtung) verschiedene politische Systeme dadurch gegeneinander abwägen kann, in wie weit diese dazu neigen, das Wesen des Menschen in so weit zu begünstigen, dass dieses sich positiv oder negativ auf die Wohlfahrt einer Gesellschaft (utilitaritisch betrachtet) als Ganzes auswirkt.
Um aber auf die eigentliche Ursache unserer (wirklich netten 😉 ) Diskussion zurückzukommen, bietet das Internet zumindest die Möglichkeit innerhalb unserer Sozialistion gewisse negative Auswirkungen der gesammtgesellschaftlichen Sozialisation in so weit abzumildern, dass die „umgebende Umwelt“ innerhalb des Bezugsrahmens erlernte Verhaltensmuster durch den Grad der Anonymisierung (z.B. geschlechtlichen) nur bedingt umsetzen kann.
Die Fragen, warum mein Exkurs in die „Sexualisierung des Internet“ sehr wohl „mit der politischen Entscheidungsfindung im Internet“ zu tun hat und warum die Frage nach dem Wesen des Menschen, wenn man über gesellschaftliche Phänomene redet, sehr wohl gestellt werden darf bzw. gestellt werden muss – ebenso wie die Frage, wieso der Himmel blau ist, in einem Diskurs über die Beschaffenheit der Erdatmosphäre – sind meines Erachtens doch elementar, um den Dissenz zwischen uns hier zu begreifen: Wenn ich dich richtig verstanden habe, scheinst du ja der Meinung zu sein, dass der Mensch als Individuum uneingeschränkter Herr seines Handelns ist. Ich hingegen meine, dass Menschen eben nur beschränkt aus freien Stücken handeln, weil sie eben nicht alleine im luftleeren Raum stehen, sondern sich ihr Handeln ganz zwangsweise aus ihrer Interaktion mit der sie umgebenden Umwelt ergibt. Oder mit anderen Worten: Gesellschaft ist keine Verschwörung der Psycholanalyse, um mit Unzufriedenen Geld zu verdienen, sondern das, was uns als Menschen entscheidend prägt. Als Fachkollege von mir dürfte dir doch eigentlich bekannt sein, dass der Umstand, ob ein Mensch im antiken Rom, im 18. Jahrhundert oder heute vollkommen andere gesellschaftliche Erfahrungen gemacht hat und dem entsprechend ein vollkommen anderes Weltbild pflegt.
Des Weiteren erscheint mir die Idee des vollkommen freien Individuums angesichts der derzeitigen gesellschaftlichen Verhältnisse ziemlich elitär. Ist „selbst Schuld“ etwa wirklich eine sinnvolle Antwort einer Frau, die sich etwa von sexistischen Kommentaren belästigt fühlt oder einen Arbeitnehmer gegenüber, der nie eine andere Chance bekommen wird, seinen Lebensunterhalt zu bestreiten, als das Sitzen hinter der Lidl-Kasse? Und glaubst du wirklich, dass einstudierte Verhaltensweisen einfach verschwinden, sobald sich Leute in die Anonymität des Internets begeben? Ich denke doch, aus dem Alter, als wir tatsächlich geglaubt haben, dass der Jahrmarktzauberer hinter seinem Zaubertuch tatsächlich den Hasen verschwinden macht, heraus sein sollten.
Oder, um dessen revolutionären Ansatz mal kurz aufzugreifen und Stirner gegen Stirner zu lesen: „Hätte Ich Individualanarchisten, Individualanarchisten von echtem Schrot und Korn vor Mir, so müßte Ich hier aufhören und sie vor diesem Mysterium stehen lassen, wie sie seit beinahe zweihundert Jahren ungläubig und erkenntnislos davor stehen geblieben sind. Da Du aber, mein lieber Leser, wenigstens kein Vollblutindividualanarchist bist, – denn ein solcher wird sich nicht bis hierher verirren – so wollen Wir noch eine Strecke Weges miteinander machen, bis auch Du vielleicht Mir den Rücken kehrst, weil Ich Dir ins Gesicht lache.“ Ziehe doch bitte nur einmal kurz den Faktor „Gesellschaft“ in deiner Betrachtung von Gesellschaft in Erwägung. Vielleicht verstehst du dann auch, was ich mit meinem Artikel eigentlich sage.
mz, der sein Spinoza-Hütchen jetzt wieder abgesetzt hat.
Was die Sexualisierung des Internet mit der politischen Entscheidungsfindung im Internet zu tun haben soll, erschließt sich mir nicht so ganz. Schließlich werben einzelne User ja nicht mit ihrem Avatar für irgendein Rollenbild. Für die politische Entscheidungsfindung sind Rollenbilder absolut irrelevant, da das Geschlecht eines Users als solches ja auf erste nicht erkennbar ist- Ein großer Vorteil im übrigem gegenüber klassichen Face-to-Face Entscheidungsprozessen. Zudem wo ist das Problem sich von klassischen Rollenbildern zu lösen? Wer sich nicht von seiner Sozialisierung lösen kann, ist selber schuld. Es ist ja nicht so, dass wir noch im 19. Jahrhundert leben würden und alternative Rollenbilder nicht verfügbar wären.
Luhman bemühe ich nur insoweit, wie ich manche seiner poitischen Begrifflichkeiten als Vokabular einer anderen Systemtheorie für nützlich erachte. Daher ist deine Kritik zu kurz gegriffen.
„Was ist denn deiner Meinung nach der Grund dafür, dass sich “menschliche Handlungsmotivation (blanker, ungehemmter, gerne maskierter Egoismus)” grundsätzlich als naturgegeben darstellt? Die Gene? Gott?“
Ist das wichtig? Warum ist der Himmel blau? Wenn gewisse Konstanten beobachtbar sind und über die Jahrtausende in verschiedensten Gesellschaften als Konstante zu finden sind, ist es eigentlich, um es bayrisch auszudrücken, absolut wurscht. Konstante ist Konstante und jedes politsche System, jede Systemtheotie muss sich zu allererst an dem Wesen des Menschen orientieren, wie mein lieber Namensgeber schon so richtig erkannt hat.
Ist der Mensch, wie es viele linke Theoretiker postulieren, ein Ergebnis seiner Sozialisation und damit das Wesen des Menschen als solches variabel und veränderbar, sind auch linke Utopien keine Utopien mehr, was grundsätzlich eine schöne Vorstellung wäre). Leider sehe ich das Ganze, nach Jahren des Studiums der Geschichte, anders. Die Konsequenz daraus ist natürlich auch eine andere.
Um hier keinen falschen Eindruck entstehen zu lassen, ich bin hier zufällig gelandet und diskutiere gerne 😉 Links, wenn man zweidimensional denken möchte, bin ich beileibe nicht. Wenn überhaupt, finde ich in Stirner noch interessant, aber natürlich nur aus einer individuell, egoistischen-hedonistischen Perspektive heraus 😉 Also bei Bedarf meine Posts bitte einfach löschen.
Tut mir leid, dich jetzt vielleicht enttäuschen zu müssen, aber ich war nie ein großer Freund des Kaderprinzips und würde mich auch nie einer Organisation anschließen, die ein solches pflegt. Und dass der Versuch, der Fetischisierung des Internets mit Luhmanns Systemtheorie eine theoretische Basis zu geben, zielführend ist, möchte ich auch mal stark anzweifeln. Die Vorstellung vom Internet als in sich geschlossenes und autonomes Subsystem funktioniert doch nur, wenn man sich die User weg denkt, die ja bekanntermaßen ein Leben außerhalb des Internets führen und damit gesellschaftlichen Zwängen unterworfen sind, die sie ganz logischerweise auch in das Netz mit rein tragen.
So braucht man kein Wissenschaftler zu sein, um zu erkennen, dass innerhalb der heteronormativen Matrix sozialisierte Männer und Frauen ein anderes Surfverhalten an den Tag legen. Als Stichwort sei nur einmal der ganze Sektor „Internetpornographie“ genannt, welche genauso wie die „altmodischen“ Verkaufsvideos vor allem sexistische Rollenklischees bieten und hauptsächlich von Männern konsumiert werden. Auch auf Internet-Foren bietet sich ein ähnliches Bild: Der Großteil aller Internet-Blogs wird von Männern betrieben und auch die meisten Kommentare auf Blogs, Foren etc. stammen von Männern. (Sicherlich mit Unterschieden: Foren wie „Go Feminin“ ziehen vor allem Frauen an, während man(n) diese etwa etwa im Heise-Foren vergeblich sucht.)
Die von dir so angepriesene Anonymität des Internets ändert also in der Realität überhaupt nichts an der Reproduktion von Rollenbildern. Im Gegenteil: Sie versteckt sie nur und erweckt den Anschein, die Probleme wären im Internet nicht da. Mir ist aber kein historischer Fall von sozialer Emanzipation bekannt, der dadurch funktioniert, dass man sich Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse einfach weg denkt.
Zum Thema Demokratie: Ich glaube tatsächlich, dass diese eine gute Idee wäre. Und ich bin auch immer gerne dazu bereit, in dieser Hinsicht Neues auszuprobieren und dafür auch neue Medien zu gebrauchen. Und einige demokratietheoretische Ansätze der Piraten halte ich für sehr unterstützens – und prüfenswert und würde mir wünschen, dass diese Überlegungen auch Einzug in den Diskurs der LINKEN finden. Allerdings gibt es in dieser Hinsicht einen großen Unterschied zwischen mir und den Piraten: Für mich sind sowohl Transparenz als Anonymität an und für sich bereits wichtige politische Prinzipien, die es gesellschaftlich durch zu setzen gilt. Für die Piraten bekommen sie aber erst in untergeordneter Instanz in der Verbindung mit dem Prinzip „Demokratie“ Sinn. Dass aber etwa Demokratie und Transparenz nicht deckungsgleich sind, genauso wenig wie Transparenz und Anonymität deckungsgleich sind – was aber nicht die Wichtigkeit in Frage stellt, alle drei Prinzipien zu erreichen, sondern lediglich ihrer Verschiedenheit Rechnung trägt – auf diese Idee scheinen sie gar nicht zu kommen. Im Gegenteil: Dadurch, dass sie Demokratie nicht im Sinne eines politischen Prinzips, sondern im Sinne einer allem anderen übergeordneten Instanz begreifen, gleichzeitig aber durch völlig andere Prinzipien, etwa Transparenz und Anonymität eben diese Demokratie erreichen wollen, sprich: Demokrate mit Transparenz und Anonymität verwechseln, stellen sie das Prinzip Demokratie auch als Ganzes in Frage.
Dies zeigt sich u.a. in ihrer Verweigerungshaltung, über gesamtgsellschaftliche Problematiken wie Kapitalismus, Sexismus oder Nazismus in ihren eigenen Reihen zu reflektieren. Auch die Tatsache, dass diese ihrem Selbstverständnis nach so „offene“ Partei bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu rechtlichen Schritten greifen zu wollen, anstatt sich an einem offenen Diskurs zu beteiligen (eine Krankheit, die aktive Mitglieder aus der Linken selbstverständlich zu gut kennen dürften. Allerdings schafft man es auch hier immerhin noch, irgendeine Kommunikation vor den Richterspruch zu stellen, auch wenn diese oft nur aus gegenseitigem Anschreien bestehen mag.).
Aber das mit der im Kern zutiefst antidemokratischen Haltung der Piraten brauche ich dir wohl nicht zu erklären, zumindest, wenn ich dein Kommentar: „“Echte“ Demokratie ist sowieso eine linke Utopie“ ernst nehmen darf. Was ist denn deiner Meinung nach der Grund dafür, dass sich „menschliche Handlungsmotivation (blanker, ungehemmter, gerne maskierter Egoismus)“ grundsätzlich als naturgegeben darstellt? Die Gene? Gott? Zumindest vom Menschenbild her erkenne ich den Machiavelli in deinen Worten.
Baruch de Spinoza, nicht der Philosoph, aber der Verfasser des obigen Artikels 😉
Zu „Partizipation“
Na das hört sich für mich an, als könne sich da jemand nicht vom Konzept der Kaderpartei verabschieden 😉 Wo gibt es denn schon „echte“ Demokratie. Das Internet funktioniert genauso wie alle anderen gesellschaftlichen, politischen und ökonomischen Subsysteme nach einer systemimmanenten Logik. Die Regeln sind bekannt und offen zugänglich.
Dass nun einzelne Diskussionen dominieren, sich Interessengruppen bilden und die Systemlogik genutzt wird, um eigene Positionen durchzudrücken ist genauso logisch, wie menschlich. Was der Autor jedoch vergisst zu erwähnen ist, dass das Internet den großen Vorteil bietet, dass jeder User (um das Beispiel der Programmfindung bei den Piraten aufzugreifen) zumindest von gewissen gängigen Mechanismen der Diskriminierung verschont bleibt. Ob sich hinter einem Nickname ein Mann, eine Frau, ein Mensch mit Migrationshintergrund, ein alter oder junger Mensch verbirgt ist aufs erste zumindest nicht ersichtlich. Von solchen Handicaps befreit, kann jeder die (Herrschafts-)Werkzeuge, die das System Internet bietet nutzen, um mit seiner Position reüssieren.
Wo liegt der Unterschied zu klassischer Parteipolitik? Der Zugang steht jedem ohne irgendwelche Schranken offen. Egal jemand von Natur aus mit Charisma gesegnet ist, gut aussieht, ein guter Demagoge ist, jeder kann erst einmal partizipieren. Dass dann natürlich manipuliert wird, was das System hergibt, ist nur allzu verständlich und unterscheidet sich nicht von klassischer Parteipolitik, lediglich die Logik und die Werkzeuge für die Manipulation sind eine andere.
„Echte“ Demokratie ist sowieso eine linke Utopie. Wo immer Menschen interagieren kommt die dominante menschliche Handlungsmotivation (blanker, ungehemmter, gerne maskierter Egoismus) zum Tragen. Je nach Logik des politischen Systems manifestiert sich diese unterschiedlich. Wenn man aber trotz der systemimmanenten Schwächen ein demokratisches System möchte, dann bietet die Entscheidungsfindung über das Internet wenigstens eine kleine Verbesserung.
Niccolo Machiavelli, kein Pirat, aber lupenreiner Demokrat 😉
Danke für den Link, Frank. Er ist ein wundervoller Beleg für meine These, auch die Piraten würden die Fetischisierung des Internet betreiben. Den letzten Absatz deines Zitats, das angeblich einen „antihierarchischen Ansatz belegen“ soll, würde ich anders schreiben:
„Genaugenommen ist jedoch das Gegenteil der Fall. Nirgendwo ist es besser möglich, einen vermeintlich offenen Diskurs in autoritär und hierarchisch geordneter Form zu gestalten, als über Wikis und Foren. Außerhalb des Internets würde die vermeintliche „Basisdemokratie“ des WWW in etwa so aussehen:
Nehmen wir als Beispiel eine Abstimmung, in der 100 Leute stimmberechtigt sind. 95 Stimmberechtigten wurde gar nicht Bescheid gesagt, dass es eine Abstimmung gibt. Die anderen 5 haben mehr durch Zufall von der Abstimmung erfahren. Stimmberechtigter 1 hat die Abstimmung ins Leben gerufen und ist selbst erklärter Moderator, da die Abstimmung bei ihm Zuhause statt findet. Gewählt wurde er für das Amt nie. Nummer 2 hat eine Meinung, die 1 nicht gefällt. Nummer 1 schließt Nummer 2 also unter dem vorgeschobenen Grund, er sei ein Troll, von der Debatte und Abstimmung aus. 3 und 4 haben sich vorher abgesprochen, wovon der Rest aber nichts weiß. Sie treten vermeintlich unabhängig auf, spielen sich aber gegenseitig in die Hände. 5 fährt eine andere Strategie: Mal gibt er sich als 5 aus, dann stattet er sich zwischendurch mal mit einem falschen Bart, einer Brille oder einen Hut aus und behauptet, er wäre Nummer 6,7 und 8.
Natürlich muss das nicht so sein, es ist aber möglich. Da solche Machtstrukturen im Internet aufgrund der beschränkten technischen Möglichkeiten von Wikis und Foren für die User, die nur die Maske der graphischen Weboberfläche kennen, auf der die Illusion eines transparenten Diskurses unter Freien und Gleichen erzeugt wird, während sich die tatsächlichen Machtverhältnisse hinter Administratorenrechten und Nicknames verbergen, nicht einsehbar sind, bemerken die User die von den entsprechenden Plattformen ausgehende strukturelle Gewalt gar nicht mehr.
Wie so etwas zu vermeiden ist, ohne gleichzeitig die Möglichkeiten der Partizipation, die Foren und Wikis tatsächlich bieten, über Bord zu werfen, eben das sollte Aufgabe einer emanzipatorischen Linken sein. Für die Piraten scheint hingegen zu gelten: Internet ist grundsätzlich und immer geil. Kritik? – brauchen wir nicht, zu wenig „postpolitisch“ und zu „ideologisch“. Und genauso verhält es sich mit den Piraten auf allen anderen Politikfeldern auch. Klar, dass die Piraten damit die FDP ersetzen können und das sei ihnen auch gegönnt. Das aber als links, emanzipatorisch oder demokratisch zu bezeichnen, ist mir aber ehrlich gesagt zu blöd.
Lesenswert. Hoffentlich bleiben diese Überlegungen in der LINKE nicht als weiteres Positionspapier auf der Strecke. Ebenfalls einen (nicht ganz so akademischen) Ansatz zur Kritik bietet: http://www.deliberation.eu/?p=5
Insbesondere der antihierarchische Ansatz wird betont: „Das sich die Piratenpartei quasi ohne Parteispitze und Führung organisiert, über Wikis und Foren Kommunikationsmedien geschaffen wurden welche für alle, auch nicht Parteimitglieder offen stehen und es jedem ermöglichen eigene Meinungen, Ideen und Kritik mit einzubringen wirkt auf Menschen welche mit den Organisationsstrukturen des Internets nicht vertraut sind natürlich ersteinmal sehr chaotisch. Es entsteht der Eindruck eines diffusen haufens von Menschen die nur durcheinander reden und Diskutieren ohne das dabei die Diskussion jemals ein Ende findet. Für die älteren Generationen welche es gewohnt sind sich in feste Hierarchien einzuordnen und sich an Führungspersonen auszurichten wirkt eine solche Form des Diskursanarchismus vermutlich so chaotisch das sie das Gefühl entwickeln das die Partei auf diese Weise niemals fähig sein wird komplexe Strategien und eine sinnvolle Programmatik zu entwickeln.
Genaugenommen ist jedoch das Gegenteil der Fall. Der offene Diskurs sorgt für eine ständige Evolution neuer Kreativer Ideen und schafft die Möglichkeit das Mitglieder sich untereinander vernetzen um kurzfristige, spontane Aktionen durchzuführen bei denen die Aktiven Gruppen eine weitgehende Autonomie haben. Das dies im Grunde recht effektiv funktioniert beweist die Landtagswahl in Baden Württemberg, trotz einer im Vergleich zu den anderen Parteien sehr viel niedrigeren Anzahl an aktiven Mitgliedern ist es den Piraten in allen Landkreisen, Direktkandidaten aufzustellen und Wahlkampfteams zu organisieren welche weitgehend ohne zentrale Führung den Wahlkampf in ihrem Einflussgebieten sogut des die knappen Personalressourcen erlaubt haben organisieren konnten.“