Brief an den Parteitag aus Brasilien von Oswaldo Maria de Andrade

Liebe Genossinnen und Genossen,

weil ich Mitglied der kleinen P-Sol in Brasilien bin, die gegenüber der großen Schwester, der PT, noch kleiner wirkt als ihr gegenüber Eurer alten Tante SPD, darf ich Euch so anreden. Als Brasilianer umarme ich Euch herzlich und wünsche dem Parteitag einen großen Erfolg!
Nur eine deutsche Linkspartei (PL) ist fähig, eine solches Programm voller Wissenschaft, mit ausgiebigen Ausflügen in die Vergangenheit aller Parteien und Bewegungen, aber auch vollständiger Auflistung aller möglichen sichtbaren und unsichtbaren Kompromisse zwischen diversen Parteiflügeln zu verfassen. In Brasilien hätten wir uns längst als Partei gespalten (und wir haben ja neben meiner Partei die wieder auflebende Kommunistische Partei (PCdoB) und noch eine Linkspartei (PSB). Natürlich für Wahlen hätten wir je nach Bundesstaat eine Aktionseinheit organisiert – oder eben nicht. Leider sind die Anarchisten (oder wie man bei Euch stets schreiben muss – unbedingt bei diesem Personenkreis – : AnarchisTinnen; ihr müsst mir bitte verzeihen, dass diese moderne deutsche Revolution nicht in der portugisischen Sprache nachahmbar ist), die Anarchistinnen meinetwegen nicht organisierwillig, trotzdem sie sind in Brasilien wie noch mehr in Argentinien Teil einer großen Tradition der Arbeiterbewegung sind.

Wenn ich nichts übersehen haben, gehören die tollen Kerle Bakunin, Mühsam, Landauer bei Euch nicht in die Reihe derer „Woher wir kommen“ (216-218). Es sei denn, ihr subsumiert sie unter ‚linkssozialistische Bewegungen“, doch da hätten sie energisch protestiert. Ich werde nur noch in Ausnahmen Eurer deutsche Genauigkeit (die Zeilenzählung) folgen: verzeiht mir das als leichtlebigen Brasilianer – und natürlich: ich bin ja kein Delegierter und kann ohne die bürokratische Textverwaltung, die für Abstimmungen nötig, auskommen. Ich gestehe Euch gern, dass mir anderes viel mehr Kopfschmerzen macht. Eine, wie es im Fachjargon heißt, unglaubliche Redundanz! Einfach gesagt: wenn dem Redaktionskollektiv ein Gedanke gefällt, muss der dauernd wiederholt werden, so wie ein Liebespaar nie genug bekommen kann, sich ihrer Liebe zu vergewissern: „Liebst Du mich? (Ja! -Nein wäre ungewöhnlich). Zuweilen aber wird in der Wiederholung doch ein kleiner Akzent verschoben – da hat ein Flügel taktisch den anderen übertrickst. Nun haben Parteiprogramme in Brasilien natürlich nicht so ehrwürdige Traditionen, die neuerdings Stefan Bollinger mit größter Könnerschaft herausarbeitet. Ich hatte bislang, ausgestattet mit brasilianischer Oberflächlichkeit, mich mit dem berühmten Satz von Marx begnügt: „Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger als ein Dutzend Programme“. Doch Bollinger meint, den würde in der LP jeder kennen – was erfreulich – , und er meint, dass Marx/Engels das viel verzwickter gesehen haben – was mich nicht erfreut. Doch ich bitte Euch herzlich, für das nächste Programm, das naturgesetzlich nach diesem mit 90 % beschlossenen kommen wird, seine Argumente zu lesen und zu beherzigen.

Grundeinkommen, Vertsaatlichung. Zur Ökonomie:

Ich greife in diesem Brief, der sowieso schon viel zu lang ist, -aber das Programm gibt ja 44 Seiten vor – im Kern zwei Probleme heraus: Grundeinkommen und Verstaatlichung. So richtig werde ich nicht schlau aus unterschiedlichen Verwendungen in verschiedenen Programmteilen:
– klar Verstaatlichung ist nicht Vergesellschaftung, aber was wäre schlimm an Verstaatlichung, wenn wie in alten Zeiten eine Partei der Arbeiterklasse die Machtpositionen besetzt? Ihr denkt, dass sei ein historisch widerlegtes Modell (warum?). Habt ihr schon einmal über die VR China und ihrem kommunistischen Ein-Parteien-System etwas gehört? Aber die steht uns als Schwellenland natürlich näher, oder bin ich hier bloßer linker Patriot? China hat die USA, nachdem seit 2004 sich der Handel mit Brasilien vervierfacht hatte, seit 2009 die USA als wichtigster Handelspartner abgelöst, worüber sich bei uns kein Linker wirklich ärgert, denn so beliebt wie bei Euch in Deutschland sind nach den Unterstützungen aller reaktionären Militärregime in Latein- und Mittelamerika die USA nicht. Verzeiht die Abschweifung. Ich glaube Euer unausgesprochenes Vorbild dagegen sind die skandinavischen Länder – oder habt Ihr gar keines? Meine Nachbarstaaten Venezuela, Bolivien (etc) können ja wohl nicht ernsthaft als Kandidaten in Frage kommen, dafür sind sie für die Mehrheit Eurer Partei und ihrer Wähler zu exotisch, wie früher Cuba. Wenn das so ist, dann vergesst die Verstaatlichung (auch wenn ihr sie schamhaft so umschreibt: „in demokratisch gesellschaftliche Eigentumsformen überführen und kapitalistisches Eigentum überwinden“ (1077)). In unseren Ländern gibt es eine pluralistische Demokratie, deren Teil ihr als Partei des demokratischen Sozialismus ihr gerne sein wollt. Demokratische Eigentumsformen wären also welche, in denen alle Parteien, nicht nur ihr allein, zu bestimmen hätten, welche Leute (Bürokratie) diese leiten sollten. Wenn ihr mal viel gewinnt, habt ihr 20 bis 25% bundesweit, und selbst in den neuen Bundesländern nicht die absolute Mehrheit (wie Adenauer 1957, neuerdings die SPD in Hamburg und früher die CSU in Bayern), das heißt: alle durch den Staat in den Betrieben eingesetzten Verwalter, statt der nach GG 14.3 bei Seite gestellten Privateigentümer (ich hoffe Ihr zahlt denen eine gute Pension – ihr wisst ja, Menschenrechte…!) müssten nach Parteiproporz ausgewählt werden, wie die Rundfunkräte etc. Was soll eine Verstaatlichung dann, wenn eine Pleitebank wie die bayrische Hypo Real Estate, die 2009 verstaatlich wurde, der der Staat irgend was um 123 Milliarden Kapitalhilfe und Garantien nachgeworfen hat, inzwischen daran gemessen winzige 700 Millionen Minus im ersten Halbjahr macht? Wenn sie damals behauptet hat, dass die Garantien gut abgesichert seien „vor allem durch erstklassische Forderungen in Form von Staatsschulden“ , dann meinte die HRE z.B. Griechenland (!) Verschreibungen – und schon sind nette 10 Milliarden 2011 in den Sand gesetzt, die man vor 2 Jahren noch weitgehend auf dem Markt erlöst hätte. Im Oktober kam eine von der Regierung eingesetzte Kommission – die diese neue Dummheit, denn zum Teil wurden eifrig Griechenlandpapiere gekauft in ihrer neuen Verstaatlichungsphase, noch gar nicht berücksichtigte – , zu dem Urteil, die HRE müsse sofort, am besten gestern, in die Insolvenz geschickt werden, weil „sie keine volkswirtschaftlich unentbehrliche Leistungen“ erbringt. Immerhin ermöglichte die Verstaatlichung im Sinne Eures Programms, dass eine Frau an die Spitze der einzigen deutschen Großbank gesetzt wurde. Noch einmal: Euer Tarnbegriff Vergesellschaftung ist an sich völlig neutral, denn beschrieben wird ein Strukturvorgang der Moderne, die Absetzung von der Gemeinschaft, ihrer Kolonialisierung, wie leicht von Tönnies & Max Weber zu lernen ist, weswegen kluge Marxisten den Gegenbegriff negative Vergesellschaftung zur Konkretisierung der kapitalistischen Form dieser Strukturbildung entwickelt haben. Aber wir sind hier nicht im Seminar – sorry. Ich möchte fragen: Was ist so schlimm an Verstaatlichung? Wollen linke Parteien nicht, wenn ich die Theorie Gramscis richtig in Erinnerung habe, in die Regierungsmacht kommen? Wollen sie dann nicht die von der Verfassung möglichen Spielräume benutzen, Privateigentum aufzuheben, indem sie die Betriebe in Staats-, Landes-, Kommunaleigentum rechtlich überführen und Besitzer entschädigen – was ist das anderes als Verstaatlichung? Warum das verschleiernd Vergesellschaftung nennen?
In Brasilien, welches zur Zeit ökonomisch ganz gut dasteht (was ich, unter uns, bedaure, weil unsere Menschen sich immer mehr mit dem Kapitalismus abfinden) wurden wir von Cardoso, unserem Präsidenten 1995-1903, dessen Politik Ihr neoliberal nennen würdet, über Ökonomie gegen unseren Willen und gegen unsere Ideologie belehrt, und Lula ist sein eifrigster Schüler. Zum Kapitalismus gehört das Ernstnehmen der berufenen Ideologen des Systems, der neoliberalen Ökonomen, gegen die der frühe Cardoso glänzende soziologische Arbeiten geschrieben hat (die Dependencia-Theorie) . Neoliberale und damit verwandte Theorien existieren für Eure wissenschaftlichen Berater nicht oder gelten bei den meisten von Euch verständlicherweise als teuflisches Feindbild. Dabei ist der neueste Ratschlag eines ihrer Chefideologen, nach dem die Laffer-Kurve benannt ist, goldrichtig. Banken , die im Minus sind, müssen pleite gehen, sofort und ohne jede Krankenbettbeatmung durch den Staat. So was sieht Euer Programm nicht vor, weshalb keine Kenntnis des realen Kapitalismus für mich erkennbar ist. Besser gesagt: Mit den immanenten Logiken der Hayekschen Ökonomiewelt, könnte eine ungeahnte Handlungsmacht erobert werden, mit den Waffen des Feindes gewissermaßen ….
Die Forderungen zur Demokratisierung (Euer Lieblingswort für alles und jedes) des Finanzsektors sind alle o.k., common sense (1425-1430); es kann nicht schaden so etwas zu fordern. Aber und das frage ich mich ständig: Geht Euch das wirklich was an? Ihr kämpft für eine Bündnis von unten mit den absteigenden Teilen der Mittelschicht – was haben die mit dem Finanzsektor zu tun? Diese Frage gilt am meisten für den gesamten Absatz zu Europa. Früher habt Ihr Europa abgelehnt, was in zwei großen Ländern ähnlich gesehen wurde, als in Volksabstimmungen die sog. Europa-Verfassung ablehnt wurde. Das war ehrlich. Jetzt träumt Ihr wie in „wünsch dir was“ Euch in Abs. IV.4. ein Europa zusammen (Hauptverb: „wir wollen“), von dem es nicht einmal Spuren in der Realität gibt, in dem Bestehenden sind keinerlei soziale Bewegungen zu erkennen sind, die auch nur einen diesen Forderungen interessant finden würden, und das zu sich selber kommt in den antidemokratischen Zwangsorgien gegen Griechenland, Portugal, etc. Hätte man nicht die deutschen Bürger mit allen Mitteln daran gehindert, selbst über das Verhältnis ihres Landes zu Europa zu entscheiden, dann würde der Euro nicht existieren, dann würde keine Verfassung neoliberalen Unsinn legitimieren, und dann würde die Union zu einer gemeinschaftlichen Wirtschaftszone zurückgefahren. Wir haben daraus in Brasilien viel gelernt, es nie zu einer, noch dazu durch ein neoliberal-ideologisiertes Gericht dominierten Zwangsvereinigung kommen zu lassen, sondern wir koppeln unsere Ökonomie mit unseren Nachbarländern locker und mit Geduld. Nachdem wir us-amerikanische Zwangsvereinigungspläne (ALCA) erfolgreich sabotiert haben. Ein nicht geringer Verdienst unseres Lulas. Aber mal ganz pragmatisch: diese Europaträumerei bringt Euch nicht eine Wählerstimme; nur ist das nicht schlimm, weil niemand außerhalb der politischen Elite Europa wichtig findet. Dazu gibt es genügend von Brüssel bezahlte Studien, etwa zu den Europawahlen oder dem Ansehen des Pseudo-Parlaments, die eindeutige negative Ergebnisse haben. Doch ich will weder Euch noch mich politologisch langweilen.

Vorschläge zur Veränderung des Wirtschaftssystems

Ganz anders zentral sind die Programmteile zu Arbeit, Wirtschaft. Was ich dabei gut erkennen kann ist, dass ihr in der guten Tradition sozialdemokratischer Wissenschaftler und Parteidenker steht. In der hiesigen brasilianischen Friedrich-Ebert Stiftung fand ich ein verständlich geschriebenes Buch zu 45 Ökonomen der SPD. Einige kennt Ihr aus der Geschichte: Kautsky, Bernstein, Hilferding; andere leben noch: Bofinger, Flassbeck. Am Interessantesten fand ich einen Vergessenen, der vor allem in den Gewerkschaften gewirkt hat. Er heißt Erich Potthoff, von dem Eure Sarah Wagenknecht erheblich mehr lernen könnte als von dem bei ihr seit ihrem letzten Buch so gelobten Prof. Erhard. Potthof zeigt, was unter kapitalistischen Bedingungen möglich ist, was nicht, was wie und wann verstaatlicht werden sollte, was nicht, wie die Bürokratie kontrolliert und wie Unfähigkeit verhindert werden kann (Stichwort: Neue Heimat, Konsum und heutzutage alle Landesbanken). Mit dem politischen Marx, mit USPD- (Räte)=Träumereien hat das allerdings nichts zu tun, aber wenn ihr irgendwo mal wieder mitregiert, wäre das eine nützliche Anleitung zum Handeln.
Trotzdem hat Marx als Analytiker völlig recht: Arbeitslosigkeit gehört systemrelevant, um ein wenig zu witzeln, zum Kapitalismus -siehe sein Kapital. Euer Programm sieht das anders. Ihr wisst, wovon ich rede: „gute Arbeit“, sozial, ökologisch & Geschlechtertechnisch nachhaltig, kurz: Vollbeschäftigung (1183). Es sei denn, ihr hättet kompetente Wissenschaftler, die das bedeutendste Werk der politischen Ökonomie in diesem elementaren Punkte widerlegt hätten. Why not? Man hätte es nur gerne gewusst – und wäre es nicht nett, wenn man darüber diskutieren könnte? Jedoch wäre es in diesem Fall ohne jeden Sinn & Verstand zu sagen: Deutschland ist eine Klassengesellschaft (572), wenn man zentrale Aussagen von Marx revidiert.
Ihr bezieht Euch einmal halboffen bzw. halbverschleiert auf das „Manifest der Kommunistischen Partei“ (98), welches ihr schamhaft, obwohl ihr ja auch eine Partei seid, nicht so nennt, und schlimmer: wo ihr in kleinbürgerlichem Geniekult schlicht seinen Mitautor & Freund, der zudem die erste Fassung allein entworfen hat, unterschlagt: Friedrich Engels. Wie wäre es denn mit einem anderen, viel interessanteren Satz als den von Euch durch Zufallsgenerator Herausgefischten, den: „Kommunismus in einem Wort nennen wir die Aufhebung des Privateigentums“. Und wie die Aufhebung ein Prozess wird, den alle diskutieren und wenn Wege gefunden worden sind, diese befragen, ob sie verallgemeinerbar sind? Da steht vieles Gutes im Programm: Commons, soziale Güter, Genossenschaften, Non-Profit-Organisationen, kommunales Eigentum und nützliche Staatsbetriebe wie die Bundesbahn vs. den überflüssigen wie der Bundeswehr. Bitte, seid so selbstbewusst und bittet alle Bürger, die das wollen, mit Euch zu streiten. Erst dann konkretisiert sich in der Diskussion in der Öffentlichkeit dieser philosophische Begriff der Aufhebung, durch die Praxis der das Privateigentum kollektiv aufhebenden arbeitenden Menschen, jedoch nicht paternalistisch für sie, denn als Bürger können und dürfen sie getrost diese Segnungen ablehnen, die ihnen von Euch versprochen werden, die eines „vormundschaftlichen Staates“ (ein prognostischer Begriff von Eduard Gans, einem linken Hegelschüler). Verzeiht, meine Berufskrankheit als Philosoph, mir fallen dauernd wichtigere Kolleginnen (Marilena!) ein… . Im Programm sagt Ihr (etwa 10x wiederholend): Die Belegschaften, die Verbraucherinnen und Verbraucher (wie soll ich das nur im Vortrag portugiesisch übersetzen, ohne meine Sprache zu barbarisieren, und meine Redezeit um 20 Minuten zu überziehen?), die RepräsentantInnen der Gemeinwohlinteressen sollen eine starke demokratische Mitsprache haben und an den wirtschaftlichen Entscheidungen direkt partizipieren“ (1048-52) – Was wäre übrigens indirekt partizipieren? (Zwar kann ich nicht deutsch schreiben und danke sehr meinem Übersetzer ML, doch ich dachte, ich könnte es lesen – na ja….). Jetzt kommt mein anarchistisches Geschoß: Was, wenn sie aus guten oder auch aus schlechten Gründen nicht wollen, weil ihnen anderes viel näher steht? Was, wenn z.B. die Belegschaft von BASF, wo die höchsten Lohne in Deutschland verdient werden, dankend darauf verzichtet, dass ihr Laden in Belegschaftseigentum (Lieblingswort von Wagenknecht) überführt wird. Und sei es, weil sie zu anderem mehr Lust hat, als einen weltweiten Großkonzern quasi nebenbei mittels Dauerversammlungen zu leiten, sei es, weil sie kein Interesse haben, ihr Einkommen zu schmälern, wenn BASF in einer internationalen Marktkonkurrenz Verluste einfährt? (Und sie dann ja gemeinerweise die Besitzer sind, die die Verluste auffangen müssen!) Werdet Ihr sie dann zwingen, wollen zu wollen bzw. zu müssen? Das Problem wird leider auch nicht besser, wenn ihr von Bürgerinnen sprecht: auch viele Eurer feministischen Vorschläge sind paternalistisch – aber das ist mich trotz meines zweiten Vornamens, der in guter katholischer Tradition steht, nicht mein Problem. Mein Problem sehe ich bei der Mehrheit der Frauen, die alleinerziehend sind, denen immer mehr Berufspositionen allein in Billiglohngruppen vorbehalten werden, in Richtung einer grundlegenden Aufhebung ihrer Prekarität.

Gleichheit von bezahlter und unbezahlter Arbeit

Großartig ist Euer Programm, wenn man einen Halbsatz in eine Überschrift verwandelt. „Jede Arbeit, bezahlte oder unbezahlte, soll Wertschätzung erfahren“. (1058) Dann allerdings verstehe ich nicht die sprachliche Abwertung, wenn es um Grundeinkommen geht, die parallel mit einer rhetorischen Aufrüstung einhergeht, wenn es um Lohnarbeit geht. Gleiche Wertschätzung von unbezahlter Arbeit, das ist für mich der Kerngehalt von Grundeinkommen. Es ist wie vieles im Programm deutsche Metaphysik, besonders tiefsinnig ist, mit dem Adjektiv bedingungslos jede Diskussion zu unterbinden. Um was geht es?
Wer eingestellt wird, und genau so wichtig, wer arbeiten mag, der muss vom Lohn leben können. Daher die vernünftigen Forderungen: Mindestlohn, daher die richtige Forderung: Verbot von Zeitarbeit. Arbeit muss heißen: In einem, wie die Juristen sagen, Normalarbeitsverhältnis, mit Urlaubs- und Weihnachtsgeld, mit schützenden Kündigungsgesetzen, mit Urlaub unter Ausbau von einem erweiterten gesetzlichen Bildungsurlaub, mit großzügigem Ausgleich im Krankheitsfall (keine Lohnminderung) und generösen Regelungen bei Arbeitseinschränkungen bzw. Frühverrentungen. Alles andere ist keine Arbeit, zu dem jemand vom Arbeitsamt gezwungen werden darf.
Aufregend finde ich, dass ich damit zwar für Brasilien eine Utopie male, nicht für Euch. Denn bei einem Vortrag im Sader-Kreis berichtete uns ein Kollege, – eigentlich ging es um eine These des früheren DDR-Philosophen Land, den jemand von uns aus einer Tagung in Siena 1990 kannte, und dessen Texte, vom Kollegen für die Deutschlesenden angeregt, uns durch seine webseite im internet zugänglich sind -, der auf europäische Sozialstaaten spezialisiert ist, von einem aufregenden Buch eines bei euch sehr anerkannten Historikers, der den Sozialstaat der BRD untersucht hat. Das eben ausgeführte, scheinbar Utopische war – in eurem Kapitalismus – bereits ab ca. 1960 Wirklichkeit. Ihr könnt viel einfacher als in Euren seitenlangen halbwissenschaftlichen Textgräbern in das Programm schreiben: Wir wollen genau das wieder haben, weil es mit Freiheit und Marktwirtschaft, mit Gewinn und auch mit Innovationen, in der Praxis nachweisbar systemrelevant kompatibel ist. Ihr stellt einfach zusammen, was es alles gab. Wie in Arbeitsbeziehungen, so im Bereich Gesundheit (Übernahme der Kassen von fast allem, besonders großzügig Kuren), Rentenversicherung, die als staatliche mit Zusatzversicherung die Arbeitnehmer mit bis zu 90% des letzten Verdienstes aus dem Arbeitsprozess für einen vierten Lebensabschnitt, dem Alter, befreiten. Viele Bürger haben daran Erinnerung, die jüngeren durch Erzählungen, die älteren durch Erfahrung. Mit ihnen kann ein Katalog all dieser verwirklichten und nicht vergessen: erkämpften Sozialerrungenschaften hergestellt werden: Ihr wäret überrascht, wie viel Details, auf die eure Professoren nie kommen, dann zusammen kämen. Danach könnte der Katalog erweitert werden, was aus den Erfahrungen für die Zukunft zu verbessern wäre. Beispiele: Arbeit; Arbeitszeitverkürzungen, Sabbaticals (fragt die Gewerkschaftskollegen, was das ist), Krankenkassen; Bezahlung der alternativen Medizin; Rente; Betreuungsdichte wie in Schweden, Norwegen. Kindergarten; alles frei. Mit den Bürgern könnte nach der Diskussion und Erstellung eines solchen Katalogs Schritt für Schritt ein Prioritätenplan aufgestellt werden. In Absprachen mit den Verwaltungen, je nach Eurer Stärke in den Kommunalparlamenten, wird dann immer mehr Entscheidungsmacht nach unten delegiert. Wie das geht, könnt ihr von einem nicht so wie Euers entwickelten, gleichwohl kapitalistischen Land, meinem eigenen, lernen, von denen seit Jahrzehnten funktionierenden Bürgerhaushalt(en) – längst nicht mehr allein in Porto Alegre, dort jedoch kontinuierlich seit 1989.
Euer Programm atmet den Geist von Kleinmut. Verzeiht, dass ich das so offen sagen, wobei ich berücksichtige, dass wir Brasilianer immer optimistisch sind, die Brasilianerinnen immer fröhlich. Wir werden der nächste Fußballweltmeister – Ihr nicht! Und wenn wir alle ausländischen Gäste in einen Dauerkarneval einschlummern, so dass in unseren Stadien nur Brasilianer die Mannschaften anfeuern – oder eben nicht. Wer uns kennt, weiß, dass wir unsere Klischees nicht ernst nehmen (ich mag keinen Fußball, bin fast nie optimistisch – sonst wäre ich ja nicht in meiner Partei.). Kleinmut durchzieht deshalb das Programm, nicht weil vieles nicht richtig wäre, aber Ihr nie an die Weisheit der Massen, wie es früher romantisch hieß, glaubt.

Grundeinkommen

Was würden sie vorschlagen, wenn sie über das Grundeinkommen diskutieren und abstimmen dürften? Kaum das bedingungslose für alle, obwohl es ihnen egal wäre, ob ein Ackermann das auch bekommt. Auch würden sie weder den netten Drogeriemilliardär, der ein angenehm freundliches Menschenbild hat, darin widersprechen noch ihm seine Steuerumverteilungsfantasien abnehmen. Noch weniger würden sie die störrische Gewerkschaftsablehnung kapieren. Denn die Gewerkschaften sollen sich um die Arbeitenden kümmern, da haben sie genug zu tun. Es wäre recht einfach. Wer keine Arbeit findet oder nicht finden will, dem steht jetzt HartzIV zu, was wir umnennen können in WernerI. (Die Presse würde Euch mal mögen, Ihr würdet einen unfähigen Unternehmer, der nur durch SPD-Mafiabeziehungen seinen Vorstandsposten bei VW zugeschustert bekommen hat, durch einen erfolgreichen, der aus eigener Kraft sich die Millionen erworben hat, austauschen). Nebenbei: Vor 3 Jahren besuchte mich eine deutsche Professorin aus dem höheren Bürgertum. Sie hatte Götz Werner erlebt und war ganz hin: 1.500 Leute, die Eintritt bezahlten, waren gekommen, um begeistert die Utopie des Grundeinkommens mit ihm sich auszumalen. 2 Wochen später, eine Veranstaltung der LP (damals noch PDS)mit einer der bekanntesten Vertreterinnen dieser Forderung in der LP: kein Eintritt, ca. 30 Leute, die meisten an keinerlei Utopisches interessiert. Tenor von Gewerkschaftlern: Die leben dann ja von unserer Arbeit, sie sind nichts anderes als die Börsenspekulanten. So schockiert sie damals von der Unbeweglichkeit der Partei war, wurde ich umsomehr überrascht, dass sie später nach einem Auftritt Lafontaines bei einer Wahl die LP gewählt hat. Aber Bündnisse mit bürgerlichen Schichten waren stets Problemzonen von Linksparteien, obwohl die inzwischen dutzendfach erstellten Wahlanalysen das gebildete Bürgertum als neben dem Prekariat wichtigstem Wählerreservoir der LP ausweisen.
WernerI würde 1.) erhöht, auf 1.000. (Oder die Summe, auf den die Bürger sich qua Abstimmung einigen können, wobei sie selbstverständlich Abstand zu denen in Arbeit einhalten). Werner I würde den Anspruch wie bisher prüfen, dann aber die Genehmigung gleich auf 4 Jahre (o.ä). festschreiben. In diesen braucht keiner zum Arbeitsamt, erhält jeden Monat ohne Leistung sein Geld, quasi als demokratische Bürgerrecht; er kann aber, wenn er will, in aller Ruhe mit Beraterinnen über eventuelle Tätigkeiten nachdenken: Umschulungen, Weiterbildungen, so viel er will. Um das Geschlecht zu wechseln: Sie kann wie jetzt auch betrügen (wenn sie im Lotto gewinnt, das verschweigen), sie kann Schwarzarbeiten, aber man kann ja auch die Freibeträge raufsetzen, sie kann mit Kindern studieren, ohne WernerI zu gefährden. Alle können soviel ehrenamtliche Arbeit machen wie sie können, eventuelle Aufwandsentschädigungen werden großzügig bei WernerI nicht angerechnet.
Das war’s! Wenn der Kapitalismus systemisch Arbeitslosigkeit erzeugt und für seine Systemlogik benötigt, dann wird ein Teil der Gesellschaft arbeiten, eine anderer nicht. Das Wechseln zwischen beiden Abteilungen der Reproduktion wird nicht vom Staat bestimmt, sondern ist ein Recht auf Demokratie, freie Wahl. In meinem Vortrag auf der Chaui-Ehrung werde ich in diesem Punkte erheblich theoretisch argumentieren, aber das ist jetzt unangebracht, und verändert auch die Sache nicht. Mir geht es um eine tiefe Einsicht des späten Lenins: Die Politik bestimmt die Ökonomie! Eine politische Partei ist, wenn die Bürger das durch ihre Wahl wollen, das Subjekt des politischen Prozesses, nie das Kapital und ihre Klassenfraktionen. Das von Euch so gefürchtete Finanzkapital, nach Eurem Ex-Präsidenten ein Monstrum, ist ein Papiertiger: von 80 Millionen Deutsche sind höchstens 3 Millionen Aktienbesitzer. Ihr müsst euch bescheiden: diese werden Euch nie wählen, wenn Ihr ihnen ihr Spielzeug wegnehmt. Der Staat wird keinen Pfennig mehr in die Banken stecken, auf diese Parole müsst ihr Eure Wähler festlegen. Der Staat hat genügend Geld (siehe die 120 Milliarden für eine Bank, die bestenfalls 500 Millionen-Aktienwert hatte), zudem verfeuert er es in überflüssigen Kriege (die 17 Milliarden, die allein Afghanistan seit Beginn gekostet hat). Und bei Einzug von den Steuern (Einkommen, Erbschaft, Unternehmergewinn), die in Skandinavien üblich sind, wird der Staat rasch finanziell handlungsfähig, die von der Bürgergesellschaft, anders: der Zivilgesellschaft diskutierten und von ihnen beschlossenen Vorschläge umzusetzen. Man nehme den höchsten Steuersatz dieser Länder, die allesamt kapitalistisch sind, (nicht vergessen!), lege noch 5% dazu, weil unsere Produktivität höher ist, und schon hat man die richtige Größe. Damit hätte man Butter bei die Fische, wie Eure Norddeutschen [Friesen, Dänen! (1938)] sagen, getan: das wäre eine nützliche „Koordinierung der nationalen Steuerpolitiken“ (1433).
Meine Hauptkritik ist mit anderen Worten, das Programm wird nebulos und intransparent, wenn eine Forderung nach der nächsten aus den Köpfen (Alltags-)Lebensunerfahrener Wissenschaftler und Politiker entspringt, stattdessen – so mein Vorschlag – sollten wir entweder das Gute Alte oder das Gute der Nachbarn aufgreifen und zu Piratenparteiähnlicher Einfachheit umschmelzen. Historiker lehren seit Jahrzehnten, dass viele erfolgreiche Revolutionen dann möglich wurden, wenn die Massen an eines der beiden Vor-Bilder anschließen konnte. Etwas war so und besser, und kann daher wieder so werden bzw. etwas ist bei anderen, die mit uns das gleiche Wirtschaftssystem haben, besser und das wollen wir auch.

Brasilianische Erfahrungen

Gestattet mir abschließend noch Erfahrungen aus Brasilien zu schildern, die vielleicht lehrreich sind:
1) Warum interessiert uns Brasilianer das ganze Öko-Thema nicht? Wenn man von außen Euer Programm ansieht, „Zentralität der ökologischen Frage“ (841), würde man zu Zeidritteln annehmen, ihr wäret das konkurrierende kleine Pendant zu Grünen Partei, nicht wie in Eurem langausufernden Geschichtsteil erzählt, das zur Sozialdemokratie. Offen gesprochen, ich wundere mich, warum nicht wenigstens 50% von Euch bei den Grünen Mitglieder sind, wenn es nichts wichtigeres als Klimakatastrophen, Gen- Technologie und AKWs gibt ( 2192)? Dass Ihr die Wähler schon vor der Verabschiedung des Parteiprogramms davon überzeugt habt, das das Heil der Welt in Energiewenden und Bahnhofsverhinderungen besteht, kann man leicht an der letzten Wahl in Baden-Württemberg ablesen. In Brasilien hatten wir eine Star-Grüne, Marina (Silva), die von unsere konservativen Massenpresse geradezu emphatisch gefeiert wurde. Typisch war, dass die Vorsitzende der Grünen Brasiliens zudem Mitglied der reaktionären evangelikalen Pfingstler-Gemeinde ist, dessen Positionen in der Frauenfrage selbst in der CSU zum Ausschluß führen würde. Dass sie Homosexualität wie ihre usamerikanische Glaubensbrüder als widernatürlich bekämpft, versteht sich von selbst. O.k., mit so was redet man einfach nicht. Das zu Brasilien und den Grünen. Die Sache wird auch nicht besser, dass sie nach der Wahlniederlage gegen unsere Dilma rasch ausgetreten ist, der Rest dieser Partei ist ähnlich obskur. (Ach so, guckt mal in die Homepage der Böll-Stiftung Brasiliens: da wird sie als emanzipierte, Claudia Roth-Gleiche abgefeiert).
Zu Dilma Rouseff: Unsere „presidente brasileira“ seit 2011, wäre ein wahrlich würdigerer Gegenstand zum Lob. Welches andere Land hat mit großer Mehrheit eine Guerilla-Kämpferin, die während der Militärdiktatur 1964-1985 im Gefängnis gefoltert wurde, was jeder weiß, zur Präsidentin gewählt? Und typisch brasilianisch ist auch, dass sie darüber kein Wort verliert, keine Anweisung, in den Schulen wöchentlich die Diktatur zur Abschreckung aufzuarbeiten, wie in den neuen Bundesländern, wo man noch 50 Jahre nach dem Untergang der DDR diese wöchentlich als Terrorregime in die armen Schülerköpfe eintrichtern wird. Aber Eure deutsch-gründliche Vergangeheits(anti)begeisterung (2114) kann ich als Brasilianer sowieso nicht verstehen. Wir sind, da hatte Euer (na ja : er war Österreicher, hatte aber in D. die größte Leserschaft) ins Exil getriebene Dichter Stefan Zweig völlig recht, das Land der Zukunft!
2) Armee: Ihr habt größte Geschütze gegen die Bundeswehr aufgefahren, die mit prinzipiellen Botschaften verknüpft sind: Raus aus der NATO etc. Viel Spaß. Wir trauen uns in Brasilien als Angsthasen nicht, die USA so zu verärgern. Dabei habt Ihr tolle Voraussetzungen, eine national – außer bei Fußball – ausgenüchterte Bevölkerung, die mit immer höherer Umfragen-Rate alle Auslandseinsätze ablehnt. Aber Ihr macht nichts draus, weil jeder normale Wähler vor solch Prinzipien-Größenwahn Angst bekommt. Ich habe von meinem Freund Manfred gehört, er hätte mit seinen Ideen bei der Fraktion Gehör gefunden, die Bundeswehr ins Lächerliche zu ziehen, ihre Unfähigkeit zum Kämpfen herauszustreichen, obwohl sie ja nur Söldner mit ca. 9.000 Euro steuerfreien Extra-Sold in die Kampfgebiete schickt, sie zu entlegitimieren. Forderung wäre also ganz einfach: Wir wollen die alte Bundeswehr, die vor den Auslandseinsätzen wieder haben (erneut: das Gute Alte). Erster Schritt: die Bundestagsfraktion der LP bringt Gesetzesentwurf ein: Im Falle eines Auslandseinsatzes kein Cent Zulage – und das Problem löst sich von ganz alleine. Brasilien hat seit einem Jahrhundert keinen Krieg, wird nicht überfallen und hat seit ewig die Verteidigungskosten minimiert (mit meiner Partei an der Macht sofort auf Null, aber die PT ist halt sozialdemokratisch). Beschäftigt doch die wissenschaftlichen Hilfskräfte mit einer Statistik: Brasilien, Schweiz, Schweden, Japan sind die Länder, die am wenigsten für die Rüstung verschwenden. Mit dem dann herausgefundenen Anteil am Haushalt zieht Ihr in den Wahlkampf mit der einleuchtenden Parole: Wir wollen wie die anderen vier reichen Industriestaaten auch so wenig für Verteidigung bezahlen. Ergebnis: wieder Milliarden für Sozialprojekte und eine zu jedem Auslandseinsatz unfähige Armee.
3) Zwei Beispiele, dass Ihr Forderungen aufstellt, die gegen die Einsichten und Aktivitäten der Betroffenen entschieden verstoßen. Ihr fordert wie alle Gutmenschen eine sog. Entwicklungshilfe (2574) und scheint nie gehört zu haben, dass gerade Aktivistinnen gegen Hunger und Unrecht in Afrika wie die Soziologin Dambisa Moyo aus Sambia eindeutig Entwicklungshilfe als konterproduktiv ablehnen. Wir hatten sie nach ihrem Buch 2009 in der USP zu Gast und ihre Argumente wurden von den Soziologen und Anthropologen , die an der USP sehr wichtig sind, in der Hauptsache geteilt. Das andere Beispiel: Wir hatten in Brasilien einen der klügsten und einfallsreichsten Pädagogen des 20. Jahrhunderts, Paolo Freire. Pädagogen wissen um seine Bedeutung für die Herausarbeitung einer freien Erziehung von Kindern der Unterschichten. Doch ihr habt wie die CDU einzig die Idee, und gebt das noch angeberisch als emanzipatorische Bildung aus (1962), diese Kinder in die Mittelschichtsnormen einzupressen. Sicherlich, die „Bildungsprivilegien der oberen Klassen werden zementiert“ (1976), doch Eure Lösung ist kurzatmig. Die Linie muss sein, wie kann man ein würdevolles Leben führen, auch ohne Schulabschluß, ohne Abitur. Doch verzeiht mir, ich bin Lokalpatriot (also Freire-Fan, kein Pädagoge). Nur habe ich bei diesen beiden politischen Feldern den Eindruck, ihr bleibt völlig im Kontext des kapitalistischen Normalismus, reflektiert nicht einmal radikale Alternativen, die von unten thematisiert und gegen Widerstände realisiert werden. Ob Ihr deshalb den Anarchismus verdrängt und tabuisiert? Und daher könnt Ihr auch den Erfolg auch die Piratenpartei, der Ihr schon jetzt nach einem einzigen Erfolg nachlauft wie vielen anderen Bewegungen (1792), weder richtig begreifen noch gar daraus lernen.
Darf ich es wagen, Euch als Brasilianer an den deutschen Dichter Brecht zu erinnern? Der schlicht genial die Ausstrahlung der Piratenpartei (und übrigens: entgegen eines täuschenden Augenscheins auch der 68er-Bewegung, wie mir im Gespräch Manfred erklärte) vor einem halben Jahrhundert antizipiert hat. „Ich habe bemerkt“, sagte Herr Keuner, „daß wir viele abschrecken von unserer Lehre dadurch, daß wir auf alles eine Antwort wissen. Könnten wir nicht im Interesse der Propaganda eine Liste von Fragen aufstellen, die uns ganz ungelöst erscheinen?
Ein wenig (zu wenig) in diese Richtung zielt und mit brasilianischen Erfahrungen übereinstimmend, ist Eure Diskussion um eine Mosaiklinke. Mein Freund Boaventura hat aus unserem Hintergrund glasklar in seiner freundlichen Art gegen die deutsche Tendenz alles zu harmonisieren, die dynamischen Widersprüche herausgearbeitet, Pluralitäten, die sich ausgerechnet dann entpolitisieren, wenn eine Organisation alles unter einen Hut bringen will. Vor allem reflektiert er die brasilianische Erfahrung strategisch, dass es für die meisten Nicht-Politiker = Arbeiterklasse, = Bürgergesellschaft, = Unterschicht wichtigeres als Politik gibt. Mit entpolitisierter Massen muss man und kann man Politik machen – mit wem sonst? Darin war unser Lula einer der Größten in unserer Geschichte. Individuen neigen in ihrer „freien Entwicklung“ (991) dazu und das muss eine Partei mit neuem Politikstil erfreut selbst provozieren (2794) und mit Vergnügen anerkennen, nicht in allen Aktionen einer Meinung zu sein, sich immer aufs Neue zu entscheiden, ob man mitmacht und wenn, wie. Ob man z.B. bei dem Kampf gegen Abschiebung aktiv wird, einem aber die Klimakatastrophe wurscht ist, ob man lieber eine Partei wählt, in der zu 90% Männer auf den Listen stehen (die Piraten) als die anderen Quotenparteien, ob man kein Bock auf Parteisitzungen hat oder Delegiertenkonferenzen als den Höhepunkt seines Trieblebens empfindet, alles das kennzeichnet die Mosaiklinke. Zu ihr gehört, wer Cuba, Israel, China mag, und jede wer sie nicht mag; wenn einem solche Neigungen missfallen, muss man in einer politischen Partei Mehrheiten organisieren, die nach außen verdeutlichen, was die Mehrheits- und was die Minderheitsmeinung ist.
Damit sei genug. Jetzt klinge ich beinahe so Lehrerhaft, wie der Duktus des ganzen Programms. 44 Seiten Färben halt ab.

Ich wünsche Euch einen schönen Parteitag. Vielleicht verscheucht mein Brief aus Brasilien bei einigen die Langeweile, die solchen Ritualen zu eigen ist, oder besser noch, Ihr ärgert Euch und findet alles richtig, was Eure Parteiführung sagt. Über die 90% mach ich mir im fernen Brasilien keine Sorgen, doch nicht vergessen: „Jeder Schritt wirklicher Bewegung ist wichtiger…“

Anmerkung des Übersetzers:
Oswaldo Maria de Andrade ist Philosoph an der UFG. Er arbeitet in Sao Paulo in einem Diskussionskreis von Emir Sader, dem marxistischen Soziologen, mit. Vom 7. bis 10. November findet dort an der USP eine Tagung zum 70. Geburtstag von Marilena Chaui statt, der berühmtesten Philosophin Brasiliens, die legendär in der intellektuellen Welt sowohl für ihren politischen Mut während der Militärdiktatur wie andererseits auch für die weit mehr als Tausend Seiten ihres Hauptwerkes „A nervura do real“ [zu Spinoza]. Oswaldo wird auf dieser Tagung, Republicanismo e Democracia, über die Demokratiekonzeptionen europäischer Linksparteien sprechen. Ich bat ihn – meinem Freunde seit meiner Professur in Brasilien 1999 – deshalb, diesen Brief zu schreiben, den ich übersetzt habe (Manfred Lauermann). Die beiden Aufsätze, die er erwähnt, habe ich Oswaldo für seinen Vortrag geschickt. Boaventuras Thesen sind ihm natürlich gut vertraut, doch er hat sich für die deutsche Fassung interessiert.
– Boaventura de Souza Santos: Entpolitisierte Pluralitäten, in: Luxemburg 1/2010
– Geschichte, Programme und Politik. Linkes Suchen, ewiges Hoffen und die Notwendigkeit, hier und heute Politik zu machen, in. Klaus Kinner (Hg.): Linke zwischen den Orthodoxien. Dietz 2011
Das Programm besitzt er in der überarbeiteten Fassung: Leitanträge zum Erfurter Parteitag, Red. Schluss 2011.
Des weiteren erwähnt Andrade:
– (Der anerkannte Historiker) ist Hans Günter Hockerts: Der deutsche Sozialstaat. Göttingen 2011.
– Rainer Land ist leicht auszugoogeln; in Luxemburg Heft 2/2010, was Andrade nicht wissen konnte, steht ein kleiner Auszug aus seinen Thesen zum Teilhabekapitalismus.
– Stefans Zweigs Grab in Salvador de Bahia haben Oswaldo und ich in großer Nachdenklichkeit aufgesucht; auch wenn Brasiliens Gastfreundschaft seine Trauer über den Verlust seiner deutschsprachigen Leserinnen nicht mindern konnte; umso schöner sein Buch, quasi sein Testament: Brasilien. Ein Land der Zukunft. Fkf/m./Leipzig 1995
– Hinweis auf Bundeswehr/ Thesen. Da liegt ein Missverständnis vor. Ich hatte per Skype Oswaldo von der Tagung von Linksreformismus 4-6 Febr. 2009 in Berlin erzählt, wo eine Mitarbeiterin von Paul Schäfer mit mir Kontakte geknüpft hat; Schäfer selbst hat keinerlei Interesse, weder politisch noch gar intellektuell. Mein damaliger Beitrag ist inzwischen erschienen: Manfred Lauermann
– Einladung in USP.(für Nicht-Brasilianer, die Elite-Universität Brasiliens). Das Buch von Dambisa Moyo,. Dead aid. ist 2009 in englisch erschienen; deutsch ganz neu jetzt mit dem Untertitel: Warum Entwicklungshilfe nicht funktioniert… Berlin 2011
– Brechts Keuner. Da ich ja 1999 Oswaldo mein altes Exemplar geschenkt hatte, kann ich natürlich die Quelle in einer schönen Neuausgabe leicht finden. Bertolt Brecht: Geschichte vom Herrn Keuner. Fkf./M 2004. S. 49.
(ml)