Schlüsselthese des Buches ist: Der Neoliberalismus ist eine perverse Form des (Wirtschafts)-Liberalismus, in Form und Wirkung das genaue Gegenteil des klassischen liberalen Marktmodells, gewissermaßen sein Zerrspiegel, allerdings historisch aus ihm hervorgegangen. Bekanntlich können Stadien des Kapitalismus in ihrer Formstruktur und inhaltlich durch ihre Regulationsweisen als je verschiedene, staatspolitische Akkumulationsregime unterschieden werden. Nach Horkheimer/Pollock also: Konkurrenzkapitalismus, Monopolkapitalismus, Staatskapitalismus. Aus diesen Bausteinen setzte sich der in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dominierende Fordismus zusammen. Sein politischer Ausdruck war die parlamentarische Demokratie. Der ihm folgende Neoliberalismus ab Thatcher/Reagan/Schröder, dessen politischer Ausdruck nach Crouch die Postdemokratie (engl.2003)1 ist, ist nach der Finanzkrise 2008 in eine Krise geraten, um deren Deutung es in diesem Buch geht. Wie es ebenfalls während des Fordismus viele Welten des Kapitalismus gleichzeitig gab, – allein der Unterschied Skandinavien-USA! – hat sich diese Differenzstruktur nicht wesentlich verändert, es sei denn, China wäre keine weitere Variante des Neoliberalismus, sondern die andere Seite des Empires (was ich nicht beurteilen kann).
Neoliberalismus ist die ideologische Selbstbeschreibung des Kapitalismus, die vor allem die Substanz, die reale Prozessualität des postfordistischen Kapitalismus unsichtbar machen soll: den um das Finanzkapital erweiterten Ausbau eines staatsmonopolistischen Kapitalismus, wie Lucas Zeise2 in seinen Büchern und Aufsätzen nicht müde wird zu erläutern. Früh hatte Joachim Hirsch gewarnt, auf diese Selbstbeschreibung hereinzufallen: „Das neoliberale Modell ist entgegen der herrschenden Ideologie in der Realität ein höchst etatistisches.“ Die Linke hat seine Mahnung in den Wind geschlagen: „Daß das höchst verschwommene Wort ‚Neoliberalismus‘ an die Stelle des einstmals ebenfalls recht kruden Wort ‚Imperialismus‘ getreten ist, bleibt nicht ohne Folgen. Dahinter verbirgt sich ein gravierendes kapitalismustheoretisches Defizit, das verschleiert, daß die neoliberale Wende keine Abweichung, sondern vielmehr die Rückkehr zur Normalität des kapitalistischen Produktionsverhältnisses ausdrückt.“3 Übereinstimmung dürfte in der marxistischen und / oder Marxismusaffinen Linken über den „genetischen Code“ des Neoliberalismus zu herrschen. „Die als ‚Globalisierung bezeichnete Durchsetzung des neoliberalen Kapitalismus war vor allem durch eine weitgehende Deregulierung der Kapital- und Finanzmärkte gekennzeichnet. Die dadurch intensivierte Standortkonkurrenz engte den wirtschafts- und sozialpolitischen Spielraum der Staaten ein und führte zu einem enormen Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen. Die Klassenkräfteverhältnisse verschoben sich weltweit zugunsten des Kapitals und die Profite explodierten. Weil es zugleich an kaufkräftiger Nachfrage und damit an Gelegenheiten für profitable Investitionen im produktiven Sektor mangelte, flossen diese in eine sich immer weiter aufblähende Blase der Finanzspekulation. Als sie im Herbst 2008 platzte, wurde die lange verdeckte Überakkumulationskrise offenbar, die aus den ökonomisch-politischen Strukturmerkmalen des neoliberalen Strukturmerkmalen des neoliberalen Kapitalismus resultierte. […] Die Krise kann jetzt ganz unmittelbar dazu genutzt werden, das Kapital durch eine weitere Umverteilung der breiten Bevölkerung zu sanieren. […] Die liberale Demokratie ist zur Formalie verkommen und die Regierungen gerieren sich unverblümter denn je als Erfüllungsgehilfen des Kapitals. [Crouch: Postdemokratie! lis] Die Krise führt nicht zuletzt dazu, dass sich der Monopolisierungsprozess beschleunigt und die Verflechtung von Kapital und Staat weiter zunimmt. […] Einiges deutet daher darauf hin, dass der neoliberale Marktkapitalismus von einer neuen Variante des Staatsmonopolkapitalismus angelöst wird.“4 Würde Crouch dieser marxistischen Analyse von Hirsch widersprechen? Nein! Würde er sich so ausdrücken wollen? Ebenfalls: Nein! Seine originelle Leistung ist vielmehr, im Detail sich zu vergewissern, wie der Neoliberalismus Kopf und Herz derjenigen erobert hat, die Opfer seines Akkumulationsregimes sind; das großartige Kunststück, dass man/frau selbst in das heiße Wasser des Topfes springt, in dem man gar gekocht wird. (wenn jetzt die koloniale Imaginologie assoziiert würde, – der Missionar von Kannibalen / KannibalInnnen?!/ umtanzt -, läge man nicht falsch). Sammeln wir also für unseren Topf Brennholz zusammen.
Warum der Neoliberalismus ineffektiv ist
Unter dem trefflichen Titel: Privatisierungskult, der den quasi religiösen Fanatismus von neoliberalen Marktfetischisten jenseits jeder ökonomischen Rationalität benennt, ist dem liberalen Publizisten Tony Judt5 eine gute Beschreibung des real existierenden Neoliberalismus gelungen, die mir für die Diskussion über Crouch neues Buch einen guten Ausgangspunkt liefert.
1. Der Kapitalismus ist uns vertraut in seinem Stadium als Fordismus. Seine Normalität verschwindet eine Zeit für die Akteure, besonders für die Repräsentanten der Arbeiterklasse, aus dem Bewusstsein, was sich am besten im Terminus Teilhabekapitalismus6 des Fordismus ausdrücken lässt: das strukturelle Nebeneinander von Markt und Staat, ökonomisch basiert auf die keynesianische interpretierbare Spirale von „Masseneinkommen und Massenkonsum“ (31), politisch gesteuert durch Neokorporatismus (33).
„Im Laufe der letzten hundert Jahre wurden Verkehrswesen, Krankenhäuser, Schulen, Post, Militär, Gefängnisse, Polizei und Kultureinrichtungen – wichtige Dienstleistungen, die nicht nach marktwirtschaftlichen Gesichtspunkten funktionieren – vom Staat betrieben oder reguliert. Nun geht alles wieder in die Hände von Privatunternehmern über. Kontinuierlich werden staatliche Aufgaben an den privaten Sektor abgetreten – ohne erkennbaren Vorteil für die Gesellschaft. Im Gegensatz zu ökonomischen Theorien und populären Mythen ist Privatisierung nicht effizient. Die meisten Betriebe, die vom Staat an Privatunternehmer verkauft wurden, operierten mit Verlust. Ob Eisenbahnen, Bergwerke, Postdienste, Energieversorger – die Kosten für Bereitstellung und Unterhalt sind immer höher als die möglichen Einnahmen“.
2. Der Staat des Postfordismus7 zwingt (verlockt) die Unternehmen, die politisch-rechtlich von ihm privatisierten Dienstleistungen zu kaufen. Könnte es sein, dass er der neue Vampir wird, der die von Marx im ‚Kapital‘ als Vampire ausgewiesene Kapitalistenklasse8 seinerseits aussaugt? [In Englisch heißt Crouch Buch The Strange Non-Death on Neoliberalism]
„Eben deshalb waren solche Betriebe nie sehr interessant für Privatunternehmer, wenn sie nicht gerade äußerst günstig angeboten wurden. Wenn der Staat billig verkauft, bedeutet das einen Verlust für das Gemeinwesen. Der bewusst günstige Verkauf von Staatsunternehmen in der Ära Thatcher soll zu einem geschätzten Nettotransfer von 14 Milliarden Pfund aus Haushaltsmitteln an Investoren und Aktionäre geführt haben. Zu diesem Verlust kommen noch einmal 3 Milliarden Pfund an Gebühren für die Banken, die die Privatisierung abwickelten. Die öffentliche Hand hat der Privatwirtschaft etwa 17 Milliarden Pfund für die Übernahme von Betrieben bezahlt, für die sich sonst kein Käufer gefunden hätte Als effiziente Verwendung öffentlicher Gelder wird man das kaum bezeichnen können. Die beste wissenschaftliche Untersuchung hierzu kommt zu dem Schluss, dass die Privatisierung in Großbritannien einerseits nur geringe Auswirkungen auf das langfristige Wirtschaftswachstum hatte und andererseits Steuergelder zugunsten der Aktionäre der privatisierten Unternehmen umverteilt wurden.
Privatinvestoren sind überhaupt nur deswegen bereit, wenig profitable Staatsunternehmen zu übernehmen, weil der Staat ihnen sämtliche Risiken abnimmt. So wurde im Falle der Londoner U-Bahn zwecks Anlockung von Investoren eine Public Private Partnership gegründet. Mit der Zusage, die Käufer in jedem Fall vor Verlust abzusichern, konterkarierte man das Profitmotiv, das ja die ökonomische Begründung für Privatisierung lieferte. Unter derart privilegierten Bedingungen wird sich der private Sektor als mindestens so ineffizient erweisen wie der öffentliche Sektor – er wird die Gewinne abschöpfen und die Verluste auf den Staat abwälzen.“
3. Der Markt des Neoliberalismus ist durch permanente Staatseingriffe pervertiert, er kann nicht gemäß seiner eigenen Logik funktionieren, seine Autopoiesis wird pathologisch gestört. Weder Gewinn (Tauschwertperspektive) noch Effizienz (Gebrauchswertperspektive). Seine eigentliche Funktion ist die Umverteilung von Steuern auf kapitalistische Unternehmen, die Fortsetzung der Dauersubvention aus Steuergeldern der Wirtschaft durch den Staat (2010, vom IfW in Kiel allein für die BRD geschätzte 110 Mrd. zuzüglich 50 Milliarden Steuervergünstigungen). Dieses widerspricht dem Geiste Hayeks9 absolut, in seiner Theorie wäre das Sozialismus oder „Zentralwirtschaft“ (Eucken), was hier unter Neoliberalismus vermarktet wird.
„Das Ergebnis ist eine gemischte Wirtschaft der schlimmsten Sorte – Privatunternehmen, deren Verluste uneingeschränkt von der öffentlichen Hand getragen werden. In England geraten die jüngst privatisierten Krankenhäuser regelmäßig in Schwierigkeiten, weil sie Gewinne erwirtschaften sollen, aber keine marktüblichen Preise verlangen dürfen. In dieser Situation wendet sich Krankenhausverwaltung (wie im Fall der Londoner U-Bahn, deren Public-Private Partnership im Jahr 2007 kollabierte) an die Regierung und beantragt staatliche Hilfe. Wenn derlei regelmäßig passiert – wie bei den staatlichen Eisenbahnen -, haben wir eine schleichende De-facto-Renationalisierung, allerdings ohne die Vorteile staatlicher Kontrolle. Das Ergebnis ist Moral Hazard. [Def: Versuchung der Banken zu risikoreichen Investitionen unter der Annahme, dass die Staatskasse für Verluste einspringt;lis ] Die beliebte Parole, wonach die aufgeblähten Banken, die die internationale Finanzwelt erschütterten, „too big to fail“ seien, lässt sich natürlich endlos erweitern. Kein Staat könnte sich einen Zusammenbruch seines Eisenbahnsystems erlauben. Ebenso wenig dürfen privatisierte Energieversorger oder Flugsicherungsagenturen wegen Misswirtschaft oder Inkompetenz pleite gehen. Und das wissen die neuen Manager und Eigentümer natürlich.
Moral Hazard kommt selbst bei Institutionen und Unternehmen vor, deren Aktivitäten prinzipiell im Interesse des Gemeinwohls sind. Man erinnere sich an Fannie Mae und Freddie Mac, die beiden amerikanischen Hypothekenfinanzierer, die in einer Konsumgesellschaft, in der das Eigenheim und billige Kredite von großer Bedeutung sind, eine wichtige Dienstleistung erbrachten. Jahrelang hatte Fannie Mae sich vom Staat Geld geborgt (zu künstlich niedrigem Zins) und zu „äußerst lukrativen Bedingungen weiterverliehen.
Da es sich um ein Privatunternehmen handelte (das allerdings Zugang zu besonders günstigen staatlichen Geldern hatte), waren die Gewinne nichts anderes als Steuergelder, die in die Hände von Aktionären und Managern umgeleitet wurden. Dass dabei millionenfach Hypotheken vermittelt wurden, verschlimmert die Sache nur noch. Als Fannie Mae ihre Kredite zurückrufen musste, brachte sie großes Elend über zahllose Familien der amerikanischen Mittelschicht.“
Fannie & Freddie sind ein vorbildliches Modell des Neoliberalismus! (siehe Wikipedia): Im Juli 2008 bezeichnete der Chef der Fed in St.Louis Fannie Mae erstmals als ‚faktisch zahlungsunfähig` und forderte die Politik auf, nach Rettungsmöglichkeiten zu suchen. Am 13. Juli 2008 kündigte die US-Regierung an, Fannie Mae und Freddie Mac mit Krediten und Aktienkäufen in Milliardenhöhe zu stützen, um einen Bankrott zu verhindern. Bald darauf, am 7. September 2008, übernahm die zuständige Aufsichtsbehörde (FHFA) die Kontrolle über Fannie Mae. Im Geschäftsjahr 2008 machte Fannie Mae 58,7 Milliarden Dollar Verlust. Im 3. Quartal 2009 machte Fannie Mae einen Verlust von 19 Mrd. Dollar und beantragte weitere 15 Mrd. Dollar Staatsbeihilfen. Bisher hatte die Immobilienbank bereits knapp 61 Mrd. Dollar Staatsbeihilfen erhalten. Im August 2011 ersuchte das Unternehmen die Regierung um weitere 5,1 Milliarden Dollar. Und Freddie Mac? Bis zum 1. Juli 2009 hat Freddie Mac insgesamt staatliche Hilfsgelder in Höhe von 51,7 Milliarden Dollar bezogen! Die Gesamtsumme der staatlichen Finanztransfers an die beiden staatsnahen Hypothekenbanken Fannie Mae und Freddie Mac beläuft sich damit auf 170 Milliarden Dollar. Zählen wir allein die 130 Milliarden für die Münchner Hypo Real Estate – um das ob seiner Bedeutungslosigkeit lächerlichste Objekt staatlicher Fürsorge zu erwähnen – hinzu, dann ist die Frage: Wie lächerlich gering sind eigentlich die Schulden Griechenlands? Und warum hat die EU sie nicht in einer Rate stillheimlich angewiesen, statt Papandreou auf den Marktplatz der Öffentlichkeit zu treiben? Vielmehr: er hat sich listig dahin mit Vergnügen treiben lassen, weil er 2009 die ökonomischen Kennziffern gefälscht hatte, – wie in Griechenland seit ewig Landessitte -, anders als beim Eurozugang dieses Mal im Soll; er hat erheblich mehr Staatsschulden behauptet als vorhanden, um unter den Regenschirm der EU schlüpfen zu dürfen! Dadurch antizipiert Papandreou instinktiv die großen Erzählungen der Staatsschulden , besonders den 5. Mythos (Flassbeck) der Schulden kleiner Euroländer!10
Warum nicht der Markt, sondern Unternehmen, Neoliberalismus bestimmen
Crouch gelingt es diese Verkehrungen zu entmystifizieren: unter dem Deckmantel ‚Neoliberalismus‘ versteckt sich der ganz normale Kapitalismus, der seine erweiterte Reproduktion als staatsmonopolitischer Kapitalismus im Neoliberalismus invisibilisiert. Das Herz ist nicht das Spekulations=Finanzkapital, sondern es sind die Unternehmen. Ihr strategisches Ziel ist Abbau von Arbeitnehmerrechten (40), vor allem der Kampf gegen den Normalarbeitsvertrag, die Spaltung der Arbeiterklasse.11 Gerade weil C. dieses Ziel nicht marxistisch interpretiert, ist er überrascht von den einfallsreichen Politiken dieser konzertierten Aktion. Mir ist sehr sympathisch, wenn er deutlich seine höfliche Distanz von Linken Projekten und marxistischen Wünschen formuliert: „Das Buch richtet sich an jene, die in dieser Welt klar kommen müssen, nicht an jene, die sie von Grund auf ändern wollen.“ (243/4). Wäre es aber nicht schön, wenn man endlich (nach Lektüre von Crouch zunehmend) in der Welt besser klarkommen würde, hätte man dann nicht Energie für Veränderung gewonnen?
Im 3. Abschnitt ‚Marktbeherrschende Konzerne‘ begründet C. seine These, es gäbe einen in der Ideologie ausgeschlossenen Dritten, der die Logik der Konfrontation Markt-Staat überhaupt erst verständlich macht. „Unternehmen, das eine marktbeherrschende Stellung einnimmt, den Markt also mit Hilfe seiner Organisationsmacht selbsttätig manipulieren kann, und das darauf in mehreren Ländern tätig ist.“ (79) Die von Marx im Kapital behandelten Gesetze der Akkumulation, der Konzentration und Zentralisation von Kapital seien hier vorausgesetzt – sie sind jeweils empirisch zu analysieren – , C. konzentriert sich seinerseits auf das Verhältnis, wie der Staat sich selbst positioniert, um gegen den Markt Unternehmen zu stärken. Beispiel (Riester)-Rente oder die impotente Obama-Halbreform der Krankenversicherung: „So werden Privatunternehmen staatlich subventionierte Zwangskunden zugetrieben.“ (102) Die Regulierung vom out-put der privatisierten Betriebe durch Staatsbehörden konterkarieren die Privatisierung: „Echte Märkte werden durch solchen Privatisierungen nur selten eröffnet. […] Auf den Mangel an Markt, der solche Monopolprivatisierungen kennzeichnet, reagiert der Staat mit Gründung von Aufsichtsbehörden. [Vor allem] geht es um die Nachbildung dessen, was auf einem echten Markt geschehen würde. Eine Privatisierung bedeutet in der Regel keine ‚Rückkehr des Marktes‘, sondern ist der Versuch einer neuartigen Kompromißbildung zwischen Markt und Behörde, zwischen Privateigentümern [und Bürokratien]. Staatliche Agenturen spielen dabei nach wie vor eine Hauptrolle“ (120/ 121). Trotzdem ist die Ideologie des Neoliberalismus konkret brauchbar, um die innere Verfassung der Bürokratien in Richtung zu einer den Unternehmen entnommene Leistungsideologie umzuformen und mit dem Universalschlüssel prekäre Arbeitsverhältnisse in dieselben zu übertragen. Bestand der Arbeitsamt im Fordismus aus Beamtinnen und mittels Kündigungsschutz ihnen arbeitsrechtlich nahezu gleichgestellten Angestellten, so finden wir in der ARGE für das Personal eine Vielzahl von befristeten Zeitarbeitsverträgen und den ironischen Späßen der marktorientierte Personalführung (das berüchtigte Public-Private Partnerships): „Die Mitarbeiter öffentlicher Dienste werden verpflichtet, sich so zu verhalten, als ob sie Beschäftigte eines profitorientierten Privatunternehmens wären und die Inanspruchnahme ihrer Dienstleistungen wie Kunden zu behandeln.“(44) Folgt: Wenn die Beraterin erfolgreich ihre Kunden vermittelt, wird der Punkt erreicht, dass sie ihre Tätigkeit mangels Kunden selbst überflüssig macht und auf die andere Seite wechseln darf: Nach Nichtverlängerung ihres Zeitvertrages jetzt Kundin in ihrer alten Behörde.
Die Schwächung der Arbeitnehmerposition in Betrieb und Gesellschaft (die Schwächung und Selbstentmannung der Gewerkschaften; eleganter in Englisch: „concession bargaining“) ist politisch gewollter Nebeneffekt des Neoliberalismus, darin dem klassischen Wirtschaftsliberalismus treu. Ansonsten werden wesentliche Elemente der Hayekschen Welt entweder transformiert oder ins Gegenteil verkehrt. Bei verbaler Verbeugung vor Markt und Marktfreiheit „haben die Chicagoer Neoliberalen diese Entscheidungsfreiheit neu definiert, so daß sie oft nur noch die Wahl zwischen den Angeboten weniger marktbeherrschender Großkonzerne hat.“ (97) Liberalistisch bleibt das Mantra als ideologische Hülle, der Staat solle sich aus der Wirtschaft raushalten, gemeint ist, der Staat, die Politik soll sich aus den Unternehmensaktionen heraushalten, es sei denn um ihren Aktionsradius zu vergrößern, als nationaler Wettbewerbsstaat oder um sie gegen die Bevölkerung abzusichern. Man gewinnt den Eindruck, nicht die Linke hatte Gramscis kluge Staatsbeschreibung, Hegemonie gepanzert mit Zwang12, verstanden, obwohl sie beredt darüber schreibt, sondern in der Umsetzung des neoliberalen Diskurs hat der Staatskapitalismus erheblich an Boden gewonnen, zu mindestens eine wichtige Schlacht (Musterfall: Griechenland!13) Die hegemoniale Leistung besteht nicht zuletzt darin, dass Kritiker des Neoliberalismus, die sich als Sozialisten verstehen, entweder im Unterschied zu C. (229) in die schönen Zeiten des Fordismus zurückwollen, also die neueste Form des Kapitalismus durch eine idyllische ersetzen – nicht vergessen dürfen wir, dass diese Idylle der 40-90er Jahre für ausgesuchte Nationalstaaten („Der Westen“) nicht zuletzt deshalb funktionierte, weil die Umwelt (die 3. Welt und die sozialistischen Mangelökonomien) durch direkte oder strukturelle Gewalt exkludiert wurden, selbstredend mit nachhaltige Ignorierung der ökologischen Dimension. Oder noch seltsamer klingt es, wenn gegen den Neoliberalismus das an Schumpeter und Keynes gemessen, das eher schlichte Alltagsverständnis von Mittelständler ins die Sprache der Ökonomie verdolmetscht wurde: als Ordoliberalismus – nach Hayek eine Leerformel. „Es zeigt aber einen bestimmten Grad an wissenschaftlicher Naivität, mit zentralen Aussagen ordoliberaler Ökonomen einen modernen und kreativen Sozialismus stützen zu wollen. Dieser Ordoliberalismus verstand und versteht sich selbst nicht nur als entschieden antisozialistisches, sondern auch als antikeynesianisches Programm.“14 Diesen Versuchungen einer nostalgischen Rettung vergangener besserer Welten des Kapitalismus entgeht Crouch, weil er an sich selbst bemerkt, wie er dazu neigt als mitfühlender Demokrat mit sozialen Empfindungen und sich deshalb intellektuell in Acht nimmt. Deshalb hat er moralisch-bürgerbewegte Vorschläge in seinem 7. Abschnitt unter dem einschlägigen Titel: Zivilgesellschaft und Moral (203) versammelt bzw. aus seinem analytischen Teil ausgegliedert. Ihm geht es darum eine bestimmte historische Phase des sich transformierenden Teilhabekapitalismus zu begreifen, die sich selbst als neoliberal von Freund & Feind beschreiben läßt.
Warum der Neoliberalismus die Marktform zerstört
Crouch’ Vorgehen ist klassisch: Der Begriff des Marktes, wie ihn liberale Ökonomie aller Richtungen bildet wird immanent dargestellt (Voraussetzungen und Störungen des Marktes; 56), oder mit seinen Worten: „Doch scheint es mir für die Kritik des Neoliberalismus durchaus fruchtbar, diesen sozusagen auf seinem ureigensten Gebiet herauszufordern, indem man sich mit dem Markt selbst auseinandersetzt.“ (55)15 Theorietechnisch werden eine Vielzahl von empirischen Phänomenen auf diese Annahmen, auf diesen Idealtypus Markt bezogen und Ergebnis ist der Selbstwiderspruch zwischen dem Begriff und „seiner“ verwirklichten Tatsachenwelt. Ähnlich wurde von der Frankfurter Schule der Übergang vom Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus als Funktionswandel interpretiert, ähnlich operierten Baran/Sweezy bei ihrer Kritik des fordistischen Kapitalismus. Wenn ich einem Kenner trauen darf, gibt es gegenwärtig keine marxistische Theorien, die wie die eben genannten älteren zu einer gehaltvolle Beschreibung der Wirtschaft und ihres sowohl ideologischen wie auch wissenschaftlichen Diskursgemenges fähig wären16. Diese Anstrengung unternimmt stattdessen der explizit nicht marxistische Colin Crouch mit einem produktiven Ergebnis, das mich zum Weiterdenken angeregt hat.
Warum die Wirtschaft nicht die Politik determiniert
Die beliebte Henne & Ei Frage, Politik oder Wirtschaft, die die LINKE gedankenlos mit der Phrase, erstere sei am Gängelband des Finanzkapitals, zu beantworten pflegt, baut C. um in die Frage, ob Deregulierungen, die die Banken dann eigensinnig und nachhaltig für sich interpretieren (dürfen), nicht aus dem politischen Feld kommen müssen. „In den USA erfüllte man 1999 [Clinton!] mit dem ‚Gramm-Leach-Biley Financial Services Modernization Act‘ eine Hauptforderung des neoliberale Deregulierungsprogramms und schaffte den ‚Glass-Stegall-Act‘ von 1933 ab, der nach dem Wall Street-Crash 1929 erlassen war und des den Banken untersagt hatte, die Einlagen ihrer Kunden für hochriskante Investitionen zu verwenden. Durch die Aufhebung dieses Gesetzes erhielten die Investmentbanker Zugriff auf die Ersparnisse von Millionen Menschen, die selbst nichts davon wußten.“(144/5) Politisch muss entschieden werden, wie Banken zu regulieren sind, politisch, wenn Regulierungen ausgehebelt oder verstärkt werden soll. Es ist jeweils Politik, was die Wirtschaft ent- oder bemächtigt. In Parenthese: Daher versteht es sich von selbst, dass in China ein Bankengesetz gilt, welches den Geist von Glass-Stegall bewahrt.17
Gleich, welche Materie C. sich vornimmt, wie etwa das amerikanische Kartellrecht, immer gilt: „Ironischerweise war dieser Entwurf, der darauf abzielte, den Staat aus der Wirtschaft herauszuhalten, von Anfang an eine politische [=staatlich-rechtliche] Aktion.“(85)
Mit dem Fall, den C. behandelt, dem amerikanische Kartellgesetz hat er ins Zentrum des Verhältnis von Politik und Ökonomie getroffen. Während in früheren Phasen Monopole und Kartelle das Geschehen dominierten und der Staat gesetzlich dagegen vorging – ähnlich wie die Arbeitschutzgesetze die Arbeitnehmer so sollten die Kartellgesetze (und -Gerichte) die kleinen Unternehmer beschützen – definierte die Chicagoer Schule das Problem um, um dem Staat keinen Vorwand einer Intervention = Regulierung zu geben. Eine innertheoretische Operation gegen den Liberalismus alter Art ist nötig: das Marktmodell der freien (und rationalen) Entscheidung von Käufern muss leicht umgedeutet und depotenziert werden. Faktisch ist längst durch die Manipulation der Konsumentenentscheidung, die durch die marktbeherrschende Stellung der Unternehmen materialisiert wird, der Freiheitsgrad des Konsumenten arg verringert (82), ideologisch wird aber die Grundannahme negiert. „Nach der Chicagoer Deregulierungslehre wurde der Wettbewerb nicht mehr als Prozeß betrachtet, der eine Vielzahl von Anbieter, nahezu perfekte Märkte und reichhaltige Wahlfreiheit für die Konsumenten garantiert. Vielmehr sollten Gesetzgeber und Ökonomen ihn ergebnisorientiert betrachten: An die Stelle der liberalen Idee der Wahlfreiheit trat damit die paternalistische Sorge um seinen Wohlstand, derzufolge er vor allem von sinkenden Preis profitiere, die natürlich eher von Großkonzernen als von mittleren und kleineren Unternehmen gewährleistet werden können.“ (38/9)
Kurz, der Neoliberalismus kreist um „Unternehmen, die sich vom Markt emanzipiert haben“ (185). „Wenn größere Unternehmen wirtschaftlicher und effizienter agierten als kleinere und diese deshalb aufkaufen könnten, diene dies der Konsumentenwohlfahrt, selbst wenn es weniger Wettbewerb und einer geringeren Auswahl von Waren führe. […] Während die Wahlfreiheit der Konsumenten ein demokratisches Konzept ist, bei dem der einzelne Verbraucher selbst entscheidet, was er will, ist die Idee der Konsumentenwohlfahrt ein technokratisches Konzept. […] Es handelt sich um eine zutiefst patriarchalische Idee, die zumal, wenn der Staat sie sich zu eigen macht, den Verdacht der Bevormundung nahelegt. […] Die Konsumentenwohlfahrt soll als genereller Effizienzgewinn der gesamten Volkswirtschaft verstanden werden. […] Diese Theorie bevorteilt die Großunternehmen; ihren Kern bildet das Argument, daß Unternehmenszusammenschlüsse und Fusionen, aus denen Großkonzerne hervorgehen, die gesamtwirtschaftliche Effizienz stets vermehren.“ (86/7)
Das Heineinkopieren der vordem staatlich Hegemonialformel des Gemeinwohls18 in die Diskursstrategie von Unternehmen schließt Markt und Staat kurz, was besonders eklatant wird, wenn wie bei der Privatisierung sich die obskure Situation ergibt, dass der Staat privatisiert, die Angebote dann aber wie im klassischen Fall der Rüstungsproduktion vorwiegend einen Abnehmer haben, den Staat als Kunden (126); zumindest subventioniert bei üblichen Konjunkturkrisen dann der Staat die Löhne der privatisierten Betriebe, um die Gewinnanteile der Eigentümer nicht zu schmälern. Man kann von einer lockeren Kopplung Staat (Verkäufer an Privateigentum) zu Staat (als Käufer der Dienstleistung, z.B. Krankenhaus, Pflege, Müllabfuhr, Energie etc) sprechen. „Einen ‚Markt‘ gibt es hier nur in kurzen Moment des Vertragsabschlusses; anschließend hat man es mit einem unflexiblen privaten Monopol zu tun, das auf längere Zeit keine Konkurrenz zu fürchten hat.“ (128) Diese Aufhebung des Marktes auf dem Boden des Marktes erklärt dann viele von C. detailverliebt traktierten Paradoxien. Privatisiert kann nur, was vorher ausgeschrieben ist. Nun wäre es peinlich, gäbe es keine Nachfrage. Der Organisationssoziologe Oliver Williamson kann zeigen, „daß die Vertreter von Auftraggebern und- nehmern, die über komplexe Vertrage brüten, quasi von selbst miteinander zu kooperieren beginnen, um die Arbeit zu bewältigen zu können – selbst wenn diese bedeutet, die Ausschreibungsbedingungen in gewissem Maße zu verändern -, um dabei nicht selten zu vergessen, daß sie eigentlich verschiedene Partner des Vertrages repräsentieren.“ (131/2). Billigend in Kauf wird dabei genommen, dass keineswegs der Markt genügend Privateigentümer mit Sachverstand (Gebrauchswertperspektive) als Nachfrager erzeugt, sondern primär eine kreative Spezies Unternehmen mit trainierter Tauschwertperspektive, die dann die Umsetzung der vertraglich geregelten Leistung beliebig verstreuten und rechtlich unterkomplex gehaltenen Subunternehmern überträgt. „Das ‚Kerngeschäft“ solcher Unternehmen besteht darin, behördliche Ausschreibungen zu gewinnen, fast völlig unabhängig davon, worum es bei der ausgeschriebenen Tätigkeit eigentlich geht.“(129)
Warum Neoliberalismus dauernde Staatsintervention erzeugt
Crouch vertieft sich dankenswerterweise für uns in die Dogmatik der herrschenden Ökonomie, um jeweils immanent nachzuweisen, dass der Neoliberalismus seinem Begriff des Marktliberalismus nicht allein widerspricht, sondern ihn sabotiert. Die Probleme, die aus einer Privatisierung („Ökonomisierung“; Kommodifizierung) unter Steuerung der Unternehmen als Bestandteil der Einheit Staat-Unternehmen nach dem Motto „Eins teilt sich in Zwei“ resultieren liegen in der Sache. Ich demonstriere das mit seinen Tabellen (116/7)
1.) Aus technischen Gründen ist oft nur teilweise Ökonomisierung möglich; der Staat bleibt als Regulierer im Boot. Dauernde Staatsintervention in den Markt ist die Folge, die seine Eigenlogik beschädigt, und zu einer verwirrten Vermengung von Politik und Wirtschaft im Großen führt: „Je mehr der Staat in die Wirtschaft eingreife, desto mehr Grund gebe es für die Unternehmen, ihre politische Macht in politischen Einfluß umzusetzen. [Netter Sophismus! [lis] …Einmal mehr empfehlen die Chicagoer Wirtschaftswissenschaftler politische Maßnahmen zur Lösung von Problemen, die wie das der Wohlstandsverteilung außerhalb der Profitmaximierung liegen, nur um gleich anschließend zu betonen, daß der Staat sich aus allem heraushalten müsse.“ (100) Vergessen wir nicht die alchemistische Formel: Liberalismus = Profitmaximierung; Neoliberalismus = Konsumentenwohlfahrt.
2.) Nur ausgewählte Marktteilnehmer verfügen über zureichende Information zum Bieten, da die Rankings von ‚oben‘ kontrolliert werden. Behörden legen Preise fest; bestimmte Anbieter – Insiderfirmen – , die schon vorher Ausschreibungen gewonnen haben, werden bevorzugt. C. hat hier ein grundlegendes Moment im Blick: die Aushebelung eines Grundmechanismus der Marktwirtschaft, denn da der freie Zugang zum Markt ist immer fiktiv gewesen ist (68ff), wird jetzt die andere Seite der Marktform pathologisiert durch Zementierung von Hindernissen, den Markt zu verlassen (58).
3.) Unklare Verantwortlichkeiten, unflexible Verträge (ähnlich Planwirtschaft DDR). Korruption, klassische durch Geldzuwendungen oder Urlaube/Reisen etc; modernere dadurch, dass der Gesetzgeber Firmenmitarbeiter leihweise bei Weiterbezahlung durch die Unternehmen übernimmt, um ihn Gesetze für die Unternehmen zu formulieren zu lassen, von denen er delegiert wird. Korruptive Verflechtungen von Politik und Wirtschaft, von den allzuvertrauten Lobbyaktivitäten bis hin zu Parteienfinanzierungen durch Unternehmen, ganz zu schweigen von lukrativen Verträgen für ausgefallene und abgewählte Politiker.
4.) Leugnung der Tatsache, dass für meritorische = Kollektivgüter (Bildung, Gesundheit, Infrastruktur) eine nicht staatliche, resp. kommunale Bewirtschaftung bestenfalls unproduktiv ist, zumeist unangemessen. Systemische Nicht-Berechnung von sog. Externalitäten, uns vertraut durch die Ökologiediskussion, aber auch die Grenze von Kommodifizierung. „Sollen wir einer jungen Frau Arbeitslosengeld [in BRD: HartzIV] bewilligen, obwohl sie sich weigert, ihren Lebensunterhalt als Prostituierte zu verdienen? Soll die Bergrettung einen verunglückten Bergsteiger retten, ohne abzuschätzen, ob das Leben dieses Menschen die dabei eingesetzten Ressourcen überhaupt wert ist?“ (65).
Neoliberalismus bedeutet strukturell die Verformung der Marktform (Eucken), der ewige historisch wie strukturell auftretende Widerspruch von Konkurrenz und Monopol wird erneut in Richtung Monopol verschoben, aber unter der rhetorischen Maske des Gegenteils, der Konkurrenz. „Den Unterschied von Konkurrenz und Monopol zu verwischen, liegt im Interesse der wirtschaftlichen Machtgruppen. Dadurch wird die Wirksamkeit von Monopolen verharmlost, und es werden die besonderen […] Probleme, die das Vorhandensein privater Machtkörper stellt, verschleiert.“19
Unter der Deckmantel des Neoliberalismus hat sich also eine neue Form des Staatskapitalismus entwickelt. So wie der Fordismus dem Stadium des Monopolkapitalismus korrespondierte, wiederholt der Neoliberalismus die Merkmale des Staatskapitalismus in der Fassung Horkheimers / Pollocks.20 Ohne sich mit solch theoretischen Schwergewichten zu belasten, formuliert Crouch: “ Die klassische Alternative ‚Markt oder Staat‘ ist aus zwei Gründen fadenscheinig. Erstens, weil die neoliberale Rechte, wenn sie ‚Markt‘ sagt, in Wahrheit ‚Großkonzern‘ meint. Und zweitens weil ein Staat, in dem die Linke [nur die sozialdemokratische? ML] so lange ein Gegengewicht zur Macht des Marktes und der Unternehmen sah, heute zumeist auf Seiten der Großkonzerne steht, ganz gleich, welche Partei gerade die Regierung stellt.“ (203)
Warum das Spekulations=Finanzkapital maßlos überschätzt wird
Überraschend ist, dass die beliebteste Kritik am Neoliberalismus, er zementiere die Herrschaft des Finanzkapitalismus über die „reale Wirtschaft“, oder die Analyse eines „Finanzgetriebenen Kapitalismus“ bei C. keine hervorgehobene Rolle zu spielen scheint21. Obwohl C. das Buch erst 2011 bei „Polity Press“ veröffentlicht, übergeht er mit voller Absicht eine zentrale Entwicklung: „In den drei Jahren seit 2008 hat sich der Verteilungskonflikt des demokratischen Kapitalismus in ein kompliziertes Tauziehen zwischen globalen Finanzinvestoren und souveränen Nationalstaaten verwandelt.“22
Ökonomen heben vor allem die Schwerpunktverlagerung von Realwirtschaft zu Finanzwirtschaft hervor, wenn sie marxistisch gepolt sind, die Verwertungszwänge der Unternehmen, die von den exorbitanten Profiten im Finanzkapital ausgeht. Von Dienern der Realwirtschaft zu Finanzalchemisten (Schulmeister). Ackermanns berühmte 25% Rendite! Oder die Billionen, die sich in Hedgefonds, Versicherungen, Investmentbanken, Aktienbesitzern anhäufen. „Ihr Umfang stieg von 12 Billionen Dollar im Jahr 1980 auf 157 Billionen Dollar 2006, d.h. auf das 14-fache; 2006 war das Finanzvermögen dreieinhalb so hoch wie das Weltsozialprodukt.“23 Schön sind auch Verlaufskurven, wie die: 1990 hätten 600 Fonds 40 Milliarden verwaltet (als Spielkasinogeld?), 2011 8000 Fonds 1700 Milliarden, wobei einer der größten die Gesamtsumme aller von 1990 problemlos überbieten kann. Ferner könnte man sich gruseln lassen über die Billionen , die täglich finanztechnisch in Devisengeschäften und Aktien (Futures, Derivate) um die Welt zirkulieren, inzwischen an einigen Börsen davon 60-70% durch computerprogrammerierte Verkäufe – Ankäufe im 100stel Sekunden Takt.24
Crouch übersieht diese Fixierung auf Finanzspekulationen souverän, seine Analyse geht von (realkapitalistischen) Unternehmen aus, die als transnationale Konzerne zumeist genügend eigene (Bank)-Reserven für jede Investition haben; die Banken als Unternehmen wecken insoweit sein Interesse, soweit sie als klassische Geschäftsbanken fungieren. „Die mächtigen Akteure auf den Finanzmärkten ‚halten’ überhaupt keine Aktien, sie handeln mit ihnen.“ (154) Der Wert von Aktien wird nicht gewonnen durch eine Analyse der realwirtschaftlichen Potenz der Unternehmen, sondern allein anhand von Börsenpreisen – so war während der Spekulation eines massenmedial überschätzten Porsche-Angestellten, der gegen VW operierte, VW einer Zeit an den Börsen mit Abstand mehr wert als der weltgrößte Konzern, bis der klassische Eigentümer Piech aus ihm (und Porsche) die Luft rausließ, mit dem Ergebnis: Entlassung des Spekulanten, Übernahme von Porsche in den VW-Konzern und: Millionenverluste von Anlegern, die darauf gewettet hatten, dass Porsche 75% der VW-Aktien kaufen wollte und auf weitere Steigerung von VW gewettet hatten. „Für das Wachstums des Aktienmarkts schien nur eine einzige, selbstreferentielle Information notwendig: der vom selben Markt gebildete Preis, der eine höhere Realität als die reale Wirtschaft widerspiegelte.“ (74) Mit seiner heiteren Ironie markiert C. den „perfektesten Markt, den die Welt je gesehen hatte“(147), ein Paradies der Selbstreferentialität, das sich von der materiellen Profanwelt der Warenproduktion zu emanzipieren scheint, welche gezwungen ist stofflich durch Arbeit Werte zu schaffen, um Mehrwert zu generieren. Etwas, was viele Linke mit Occupy Marxfern25 gern als Herrschaft von fiktivem Kapital kritisieren, wirft theoretisch reizvolle Probleme auf, die eine neue Theoriesprache benötigt, was Kurz halbbewusst ausspricht mit seinem Seitenhieb gegen ‚virtualistische und dekonstruktivistischen’ Ideologien. Wie würde er gar auf systemtheoretische Theorieeffekte regieren? „ Man kann in diesem Zusammenhang von Techniken der ‚Entfuturisierung‘ sprechen, die die Offenheit der Zukunft begrenzen, ohne dies sichtbar zu machen, d.h. ohne sie mit einer einzigen Ereignissequenz gleichzusetzen. Man gibt nicht vor, die Zukunft vorwegzusehen, hat aber trotzdem den Anspruch, sich davor zu beschützen. […] Alle Versuche, die Kontrolle der Zukunft in der Gegenwart zu intensivieren…, kehren sich in ihr Gegenteil um, so dass die zukünftigen Gegenwarten am Ende noch mehr Überraschungen bereithalten – die Volatilität zeigt eine ‚Grimasse‘ (skew).“26
Doch so anregend die Reflexion der neuen Gestalt des Finanzkapital genau 100 Jahre nach Hilferdings großem Wurf27 ist, besonders seitdem dessen Hypothesen ihre Empirie gefunden haben, die eines Kapitalismus der sich selbst von seinem Bewegungsgesetz verabschiedet, einem in diesem Sinne Exit-Kapitalismus28, so elementar stellt sich für Crouch die Sache dar. „Wenn ein Anbieter unwirtschaftlich produziert, muß er vom Markt verdrängt werden können, damit die Ressourcen an Maschinen, Arbeit und Kapital für eine effizientere Verwendung umverteilt werden können.“ (58) Die Erklärung der Barrieren gegen den Marktaustritt liegt auf der Hand, da es den Banken gelungen ist, „ihre Gewinne zu privatisieren und ihre Verluste zu vergesellschaften.“ (148). Für seine kalkulierte Vernachlässigung der Finanzspekulationen im Buch braucht Crouch weder die Marxsche/Schumpetersche Orthodoxie noch elaborierte systemtheoretische Reflexionen über Futures, Instabilitäten und Exit-Kapitalismen. sondern den britischen common sense: „Die Preise, die sich auf den sekundären Märkten erzielen ließen, waren wichtiger geworden als die ursprüngliche Einschätzung des Risikos. Der Glaube setzte sich durch, daß die auf den sekundären Märkten zu erzielenden Preise den Wert eines Papiers sogar besser wiedergaben als dessen Einschätzung auf dem primären Markt, da die sekundären Märkte inzwischen ökonomisch bedeutsamer waren. Es ergab keinen Sinn mehr zu fragen, ob die auf dem sekundären Markt gehandelten Papiere ‚reale’ Werte reflektierten; die sekundären Werte waren die realen. Es war, als würde man auf Pferde wetten, die niemals ein Rennen liefen – man setzte lediglich auf seine Erwartungen hinsichtlich der Wetten der anderen Spieler“. (146)
Der neoliberale Kapitalismus läuft leer, weil er immer mehr gezwungen ist, gegenstrebige Elemente sozial zu integrieren, er zerstört sich selbst, weil er sowohl wirksame Konkurrenz wie nachhaltigen Profit sabotiert. Große Teile der Linken, vor allem die Gewerkschaften, versuchen wie weiland Don Quichote die alte Ritterherrlichkeit den Kapitalismus vor sich selbst zu retten: Wohlstand für alle von links. Dagegen setzt der Finanzmarktgetriebene Kapitalismus, wenn man ihn nicht nach rückwärts zu einem ‚Rheinischen Kapitalismus‘ der sozialen Marktwirtschaft zerrt, nach der Einsicht von Rainer Land wider Willen einen Innovationsschub für einen neuen Typus wirtschaftlicher Entwicklung frei, der die Verwechslung von Wachstum mit Entwicklung dekonstruiert. „Die Neukombination, die einen Zyklus wirtschaftlicher Entwicklung tragen könnte, müsste die zentrale Entwicklungsgrenze des alten Zyklus überwinden: das Zurückbleiben der Ressourcen-Effizienz hinter der Produktivitätsentwicklung, das Überschreiten von Tragfähigkeitsgrenzen der Natur durch die Belastungen, die mit dem steigenden Energie- und Rohstoffbedarf sowie den zunehmenden Emissionen von Kohlendioxid und anderen Klimagasen einhergehen. […] Dies würde ein neues wirtschaftliches Paradigma, nämlich Ressourcen-Effizienz, möglichst geringen Material- und Energieverbrauch sowie Ökokonsistenz, mit der Massenproduktion und der Massenteilhabe rekombinieren und so einen neuen Pool für technologische und zugleich sozioökonomische Inventionen und Innovationen schaffen“.29
Warum der Neoliberalismus die ökonomische Macht des Konsumenten entdeckt
Am besten gelingt C. die Illustration der Sackgasse des aktuellen, veralterten Entwicklungspfades im stimulierenden Abschnitt 5, Neoliberaler Keynesianismus: Privatverschuldung statt Staatsverschuldung. Ihm schwebt vor, die Identifikation der Akteure, die das Überleben des Neoliberalismus sichern, dessen ansonsten unvermeidliche Instabilität aufhält und die nicht zuletzt daher den blinden Fleck der Linke beschreibt: einen Keynesianismus der privaten Hand. (164).
Dieser Begriff ist provisorisch, weil er zuviel Planung und Steuerung impliziert. Erst als der kurze Traum immerwährender Prosperität30 zerplatzte, von Lutz als die systemische Instabilität des Kapitalismus nachgezeichnet wurde, begann der Keynesianismus als Kompensationsideologie des „Wirtschaftswunders“ seine Karriere und lebte eigentlich erst auf in linken Diskursen der ‚Memorandum-Gruppe‘: eine typische wissenssoziologische Rationalisierung. Wiederholen wir den Elementarvorgang: das System Kapitalismus wird durch staatliche Schulden vorangetrieben, aus denen Investitionen als Vorwegnahme künftigen Wachstums ermöglicht werden, um daraus dann die Schulden zu tilgen. Ohne jede Theorie galt das als staatliche Praxis was bereits in der kapitalistischen Frühzeit im 19. Jahrhundert, wie denn im Kaiserreich Eisenbahnbau und Sozialgesetze, Kommunalpolitik und Sozialistengesetze eine fruchtbare Ehe eingingen. „Wie William Roy31 anhand der Geschichte des Kapitalismus in den USA nachweist, [kam] der kapitalistische Markt erst dann so richtig in Schwung, als der Staat einige der Risiken, die mit großen Investitionen einhergingen, absicherte und damit vergesellschaftete.“ (76) Um die im Fordismus erreichten Lohnerhöhungen zu entwerten, kam ein Dritter in das Boot: die „säkulare Inflation.“32
Schnitt. In der Rekonstruktionsphase des Postfordismus wird ein neuer (Massen)-Akteur gesucht und gefunden, der das Gesamtsystem mit Schulden am Laufen hält. „In den vergangenen dreißig Jahren griff die Schuldenmacherei auf Menschen mit bescheidenen Einkommen über, deren einziges Vermögen ein mit bescheidener Hypothek belastetes haus war.“ (159) Allgemeiner: „Wie wir heute wissen, wirkten zwei sehr unterschiedliche Kräfte zusammen, um das neoliberale Modell vor der ansonsten unvermeidlichen Instabilität zu bewahren: das Wachstum der Kreditmärkte für Menschen mit kleinem und mittleren Einkommen (sowie die Entstehung von Märkten für Derivate und Terminkontrakte für Menschen mit großem Vermögen). Diese Kombination brachte einen ‚Keynesianismus der privaten Hand‘ hervor, der zufällig entstand, dann aber von der Politik aufgegriffen und gezielt gefördert wurde. Statt daß der Staat Schulden machte, um die Wirtschaft anzukurbeln, verschuldeten sich Privatleute, nicht zuletzt die, deren Einkommen gering war.“ (164) Diese Beobachtung weckt das Bedürfnis nach einer historischen Monographie des Konsumentenkredits und seiner kleinen Schwester, dem Dispo. Oberflächliches Wahrnehmen unserer Konsumwelt genügt für die Ausgangsfrage: was wäre der Neoliberalismus ohne Verschuldung von 15jährigen (für Handyrechnungen), von jungen Erwachsenen (Auto-Rate = 50 Euro Monat), von flächendeckender Kreditkartenbezahlung bei Lidl u.a. Billiganbietern wie bei auch e-bay und amazon) und den Klassikern: Privatversicherungen gegen alles und jedem, Wüstenrot und das Eigenheim, Riester und die Rente. Wie immer in solchen Fällen, liegen als Erklärung beliebige Fetzen an Beschreibungen in der Sozialgeschichtsschreibung vor – etwa in den Forschungen zu den 50er und 60er Jahren (vorwiegend im Archiv für Sozialgeschichte) – , doch verständlicherweise ohne theoretisches Interesse an unserer Frage: wie gelingt es, kontinuierlich die Mehrheiten in der Bevölkerung, die sog. kleinen Leute oder in anderer Sicht, die Arbeiterklasse so zu integrieren, dass ihnen der Zusammenbruch des Finanzmarktes, das Schreckbild von Banken, die wie in Argentinien 2001 kein Geld mehr auszahlen, Angst einjagt? Wie oft: gleichfalls ‚immer in diesen Fällen‘, liegt längst eine gemeinhin ignorierte soziologische Theorie vor, an die marxistisch anschließbar wäre: Pierre Bourdieus großartiges Werk; hier namentlich: Der Einzige und sein Eigenheim. Die heimliche Verführung zum Schuldenmachen, die Werbung für Schrott wie Riester-Rente, Wohneigentum und Konsummüll wie PKWs, „ist allein deshalb so effizient, weil sie – wie jegliche Demagogie – den bereits bestehenden Dispositionen schmeichelt, um sie besser ausbeuten zu können; sie zwingt den Konsumenten unter das Joch seiner eigenen Erwartungen und Ansprüche, indem sie vorgibt, sie zu bedienen. (Eine wirklich befreiende Politik würde sich dagegen einer realistischen Kenntnis seiner Dispositionen zu bedienen, um auf ihre Veränderung oder Hinwendung zu authentischeren Objekten hinzuarbeiten).“33 Wenn Bischoff/Detje – mit einem, wie bei Engels gewohnt klugen Klassikerzitat – Crouch darum kritisieren, weil er die Veränderung der Normalarbeitsverhältnisse zu Fexibilitäts-„Selbstsorge“-Zumutungen unbeachtet lässt, die berühmte ideologische Wendung vom Proletarier zum ‚Arbeitskraftunternehmer‘, zum „Marketing-Charakter“ (Erich Fromm) und zur Ich-AG, dann wollen sie das zum Gegensatz stilisieren, was leicht kombinierbar wäre.34 Zur neuen kapitalistischen Landnahme35 gehören beide Prozesse, die „arbeitspolitische Flanke des Neoliberalismus mit seiner spezifischen Gouvernementalität“ und „die auch von Crouch herausgestellte Einbindung der Lohnabhängigen in das Regime des Vermögensbesitzes.“36
Wie diese Einbindung quantitativ genau zu messen wäre, ist eine Frage, die nicht von Crouch, auch nicht von Bischoff/Detje zu beantworten ist, sondern die man an die tradierte Nationalökonomie adressieren muss. Seit Jahrhunderten (Quesnay (1694-1774) verfügt sie über Kreislaufmodelle: Produktion, Zirkulation, Konsumtion. Wird beachtet, dass grundlegend a) die Produktion und b) die Produktion dieses Zusammenhangs ist, kann analytisch sinnvoll von jedem der Elemente ausgegangen werden. Warum mit Crouch also nicht von dem ‚privaten Keynesianismus‘ des Konsums? Meine ersten kursorische Nachforschungen über die systemische Qualität des Konsums für den Reproduktionszyklus versanden rasch; entweder sind die privaten Schulden noch nicht im Horizont der Makroökonomie Thema geworden, oder man bleibt fixiert auf die unteren Schichten, statt die mittelschichtige Normalfigur des Privatkonsumenten als Basisgröße der Konsumtion idealtypisch zu konstruieren, oder gelangt soziologisch zu feuilletonistischen Aussagen, die gleichwohl zutreffend eine neue Realität anreißen: „Hier nun vollbringt der Kapitalismus – ganz ohne Religion – ein noch viel größeres Wunder: Er zieht und schafft sich Subjekte, welche nicht nur produzieren, ohne zu konsumieren, sondern auch noch kaufen, ohne zu konsumieren.“37
Es ist eine ebenso ironische wie unbeabsichtigte Folge, dass das Aufblasen lohnabhängiger Konsumschuldner in die Produktionssphäre zurückschlägt: die für Unternehmer wie Gewerkschaften heilige Einheit von Lohn und Leistung wird nachhaltig wie in Salzsäure aufgelöst!38 Nicht allein Kauf ohne Konsum, sondern auch Lohn ohne Leistung!
Wer Neues wie den Individualismus (Beck) der Arbeitenden (weiblich & männlich) in ihrer Funktion als Konsumenten, nur dann denken will, wenn eine Traditionssemantik zur Verfügung steht, der greife getrost zu Marx; Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses.39 Da die Arbeitskraft Menschen als Träger ihrer produktiven Energie erforderlich macht, trennt Marx mit höchster Präzision ihre Rollen als Produzenten und Konsumenten. Dieses Rollenset wird strukturell durch „Personifizierung der Sachen und Versachlichung der Personen“ determiniert, durch die Dynamik der kapitalistische Produktionsweise, daß sich die Produkte der Arbeit, als Gebrauchswerte wie als Tauschwerte – sich dem Arbeiter gegenüber auf „die Füsse stellen und als ‚Kapital“ gegenübertreten“. (R42) Die Funktionen, Kapitalist als Käufer der Ware Arbeitskraft konstituiert ein Verhältnis von Gleichen in der Zirkulation. „Dass sich die beiden Warenbesitzer als Käufer und Verkäufer von einander unterscheiden, ist nur ein beständig verschwindener Unterschied, indem alle dieselben Rollen abwechselnd gegeneinander in der Zirkulationssphäre spielen.“ (R41)“. Daher gilt strukturell: „ganz wie die abstrakte Möglichkeit bleibt, dass dieser oder jener Arbeiter selbst Kapitalist und Exploiteur fremder Arbeit wird.“ (R58) Als „Selbsteigner seines Arbeitsvermögens“ fungiert der Arbeiter ausserhalb der Produktionssphäre als Konsument, der sukzessive lernt im Medium des Geldes sich zu verhalten, nach langem Zögern des Kapitalismus als Kreditnehmer entdeckt zu werden, was Marx im Laboratorium von Nordamerika in Keimform erkennt (R60). Die besondere Differenz der Ware Arbeitskraft, die als lebendige Arbeit durch das Kapital angewendet wird (R35), erlischt in der Zirkulation, wo Kapitalist und Arbeiter nur als Warenverkäufer sich gegenüberstehen (R17): „seine Privatkonsumtion, die zugleich Reproduktion seines Arbeitsvermögens ist, fällt ausserhalb des Produktionsprozesses der Ware.“ (R31). Die aktuelle Gestalt dieser dialektischen Weiterentwicklung der Konsumenten-Rolle in der modernen nachfordistischen Geld- und Schuldenökonomie in aller Klarheit erkannt und leicht lesbar ausgedrückt zu haben, ist neben den vielen anderen nicht das geringste Verdienst des Buches von Colin Crouch.
Anmerkung der Redaktion: Wir freuen uns, ab Januar 2012 für eine monatliche Rezension, Magdalena Liscow gewonnen zu haben. Da sie von sich sagt, sie sei eine „überzeugte Liberale mit anarchistischen Einsprengseln“ dürfte sie eine erquickende, hoffentlich provozierende Abweichung für unsere Potemkin-Leserschaft sein. Weil sie die Nichte von Manfred Lauermann ist, werden wir ihre Rezensionen unter Essay Lauermann archivieren, womit Liscow einverstanden ist, auch, weil ihr Onkel, wie sie uns anvertraute, die allermeisten Fußnoten in ihre Texte hineinwebt, „weil er seit fünfzig Jahren permanent liest.“
(Wir bitten die sehr verspätete Veröffentlichung von Rez 1/12 zu entschuldigen, die Redaktion hat Magdalena gebeten, die Februar-Hefte von Konkret und Sozialismus einzubeziehen).
1 Colin Couch: Postdemokratie. Frankfurt a.M. 2008. Das ist naturgemäß kein Begriff, sondern ein einprägsames Etikett, welches irgendwo zwischen Postmoderne und Postfordismus vagabundiert, was aber dem internationalen Erfolg keinen Abbruch getan hat. Während die durchaus vergleichbare Demokratie von Agnoli zwar viel radikaler ist – was dem Zeitgeist von 68 entsprach – aber außerhalb marxistischer Sekten unbekannt geblieben ist. (Johannes Agnoli/Peter Brückner: Die Transformation der Demokratie. Berlin. Voltaire Verlag 1967). Niemand ist aber gehindert, trotz dieses modischen Präfixes ‚Post‘ aus Crouch‘ Warwicker (gedanklicher) Leichtsinnigkeit unter Zusatz von französisch-deutscher Philosophie ( Ranciere, Arendt) – ein Schuß Lefort hätte gut dazu gepasst – ein durchreflektiertes – prächtiges Produkt anzurichten, wie Katrin Meyer: Kritik der Postdemokratie. In: Leviathan Jg. 39, 2011, S. 21-38.
2 u.a. in Lucas Zeise: Geld – der vertrackte Kern des Kapitalismus. Köln: Papy Rossa 2010, S. 153ff. Marxisten wie Wendl (Fn. 14. S. 64) sind unfähig, den innovativen Gehalt dieser scheinbar veralteten, vorgeblich vulgärökonomischen Theorie zu kapieren; also muss zu bürgerlichen Darstellungen gegriffen werden wie Gerold Ambrosius: Zur Geschichte des Begriffs und der Theorie des Staatskapitalismus und des staatsmonopolistischen Kapitalismus. Tübingen: Mohr 1991. Bis heute unausgeschöpft ist die theoretisch anspruchsvollste Studie innerhalb dieses Paradigmas von Heinz Jung: Deformierte Vergesellschaftung. Zur Soziologie des staatsmonopolistischen Kapitalismus der BRD. Frankfurt am Main [& Berlin: Akademie] 1986.
3 Joachim Hirsch: Vom Sicherheitsstaat zum nationalen Wettbewerbstaat. Berlin: ID Verlag 1998 ; S. 36 & 153. Ähnlich wird diese Rückbewegung auch von Cox gesehen, der den Neoliberalismus (bei ihm: hyperliberalism) als Zwischenstufe zu erneuerten state-capitalist Strukturen einstuft, der lernt die Erweiterung durch die sog. Globalisierung systemisch als Störungen kleinzuarbeiten. Robert W. Cox: Approaches to world order. Cambridge University Press 1996, S. 204ff..
4 Joachim Hirsch: Politische Globalisierung ‚von unten‘. In: Michael Jäger, Tom Strohschneider (Hg.): Die letzte Krise. Analysen zur Zukunft des Kapitalismus. Berlin : ‚Freitag‘-Debatten. 2009, S. 103- 199, hier. 103 & 105. – Geschrieben vor der Diskursverschiebung auf Staatsschulden ab 2010/11!
5 Tony Judt: Dem Land geht es schlecht. München: Hanser 2010. S. 89-98. [lis]
6 Teilhabekapitalismus wird marxistisch vorgeschlagen von Rainer Land: Moderner Sozialismus als Evolutionstheorie. In: Luxemburg Heft 2 2010, S. 82-89. Wir können „vier historische Regime der Kapitalverwertung unterscheiden: den Kapitalismus der sogenannten ursprünglichen Akkumulation, der ersten Industrialisierung, der großindustriellen und kolonialen Expansion (nach Rosa Luxemburg der äußeren Landnahme) und den Teilhabekapitalismus.“ (84) Da es sich um jeweils andere Regime wirtschaftlicher Entwicklung mit anderen Selektionsrichtungen und Fortschrittskriterien handelt, ist die spannende Frage, worin verorten wir genauer unseren Neoliberalismus? Vermutlich ist er funktionelles Äquivalent aus dem Teilhabekapitalismus, mit anderen Teilhabern und anderen Klassenkonstellationen.
7 Die beste Skizze zum Fordismus und Übergang zum Postfordismus findet sich bei Joachim Hirsch: Postfordismus: Dimension einer neuen kapitalistischen Formation. In: Hirsch/Jessop/Poulantzas: Die Zukunft des Staates. Hamburg: VSA 2001, S. 171-209. Erweitert durch Bob Jessop: Kapitalismus, Regulation, Staat. Hamburg: Argument 2007, bes. Kap. 13, Was folgt dem Fordismus? Sehr interessant ist seine Übernahme von Petits These, „dass in jedem Akkumulationsregime eine dominante Strukturform die Achse ausmacht, um die herum der umfassende Regulationsmodus organisiert ist. Für den Fordismus war es das Lohnverhältnis, im entstehenden postfordistischen Regime ist es die Konkurrenz.“ (262).
8 „Als Kapitalist ist er nur personifirtes Kapital. Seine Seele ist die Kapitalseele. […] Das Kapital ist verstorbene Arbeit, die sich nur vampyrmässig belebt durch die Einsaugung lebendiger Arbeit und um so mehr lebt, je mehr sie davon einsaugt.“ Karl Marx: Das Kapital. Hamburg 1867, S. 200.
9 Eingriffe des Staates mit Phrasen wie „systemrelevant oder unverzichtbarer Wert für die Gesellschaft, gar: „der Euro sichere den Frieden in Europa“, verachtet der Liberalismus: „wenn Staatseingriffe gefordert werden, so geht es meisten darum, die einmal erreichte Position irgendeiner Gruppe zu schützen“, ergo: „daß sich die Regierung jeglicher Unterstützung von Monopolen enthält“ usw.. Vgl. Friedrich A. von Hayek: Grundsätze (42-54) einer liberalen Gesellschaftsordnung, in: Fünf Aufsätze. Zürich 1982, S. 42 &46) Zur Wichtigkeit dieser Ausdifferenzierung Liberalismus / Neoliberalismus, bzw. Neoliberalismen vgl. Lars Gertenbach: Die Kultivierung des Marktes. Berlin: Parodos 2010, bes. Abs. II. Innerhalb der Neoliberalismen (Freiburger Schule vs. Chicagoer Schule) ist wesentliches gemeinsam, beide „misstrauen einer Regierungspraxis, die den Markt als autonome Sphäre seiner intrinsischen Gesetzmäßigkeit überlässt und dem eng umgrenzten Rahmen des Staates gegenüberstellt. Anstatt auf die automatische Selbststeuerung des ökonomischen Systems zu vertrauen und die Gouvernementalität in Richtung einer Begrenzung des Regierungshandelns auszuüben, wird die juridisch-institutionelle Verflechtung dieses marktlichen Mechanismus proklamiert.“ (S. 81.) – (siehe auch C 100).
10 Sehr schön und für einen Ökonomen sprachlich brillant: Heiner Flassbeck: Zehn Mythen der Krise. Berlin: Suhrkamp 2011. Leider gilt nicht nur für die herrschende politische Klasse, dass man Staaten auf demselben Abstraktionsniveau wie Familien naturalisiert, wie Merkels schwäbische Hausfrau…! Es ist allerdings eine unwillkürliche Operation des Alltagsbewusstseins, die Komplexität von Abstraktionsklassen zu reduzieren: was ein nicht unwesentliches Ingrediens des ‚falschen Bewusstseins‘ (Lukács) ist.
11 Heute ist es leicht, zu erkennen, wie zentral für den Neoliberalismus die Zerschlagung der Arbeitskraft-Sicherung durch den Normalarbeitsvertrag ist. Ende der 80er Jahre ist es eine hervorragende Leistung, diesen Übergangsmechanismusl zum Postfordimus gefunden zu haben wie Ulrich Mückenberger: Zur Rolle der Normalarbeitsverhältnisse bei sozialstaatlicher Umverteilung von Risiken. In: PROKLA 64,1986, S. 31-45, und: ders.: Der Wandel des Normalarbeitsverhältnisses unter Bedingungen einer ‚Krise der Normalität‘. In: Gewerkschaftliche Monatshefte 1989, S. 31-45.
12 Sonja Buckel/Andreas Fischer-Lescano (Hg): Hegemonie gepanzert mit Zwang. Baden-Baden: Nomos 2007 und auf den Raum der sog. globalisierten Weltgesellschaft bezogen: Benjamin Opratko/Oliver Prausmüller (Hg.): Gramsci global. Hamburg: Argument 2011
13 Dieses Laboratorium eines quicklebendigen Neoliberalismus ist bislang von der Linken unbegriffen, denn der Hauptakteur, die großen Unternehmen sind in Griechenland nahezu inexistent, was organisiert wird ist die vom Staat vollzogene Bezahlung der Unternehmensforderungen aus der Umwelt des EG-Raumes; die griechische Ökonomie ist eine klassische, sich täuschend im Medium des Marktkapitalismus bewegende Rentseeking-Ökonomie, wie sie „Entwicklungsländern“ eigentümlich ist. Man kann auch schlichtere Erklärungen finden, wie die längst fällige Übernahme des Ausbeutungsmodell des Südens durch den Norden, der Peripherie durch das Zentrum, der Entwicklungsländer durch die Industrieländer, jetzt b in Europa beginnend mit Griechenland, Portugal, Ungarn usw. Vgl. Stephen Gill: Progressives politisches Handeln und die Krise. In: Gramsci global, ebd., S. 274. – Erste Faktensammlungen liegen vor wie das Luna Park Spezial, Griechenland und die Euro-Krise (Heft 21, 2011) und Alexander Wehr: Griechenland, die Krise und der Euro. 2. erw. Aufl. Köln: PapyRossa 2011
14 Michael Wendl: Linke Wirtschaftspolitik als Tugendlehre. Gibt es eine innere Verwandtschaft von Ordoliberalismus und ‚kreativem‘ Sozialismus? In: Sozialismus Heft 12: 2011, S. 61. Vgl. auch eine andere Reaktion auf das neue Wagenknecht-Buch (Sahra Wagenkecht: Freiheit statt Kapitalismus. Frankfurt am Main: Eichborn 2011) von Harry Nick. Rezension in Z. Sept. 2011, S. 203-209. – Beide Marxisten haben sicherlich recht: Theoretisch ist der Rückgriff auf Erhards „Wohlstand für alle“ und auf die Euckensche Illusion einer politischen Kontrolle von Monopolen und Kartellen, gar transnationalen Unternehmen, Chuzpe bei einer langjährige Repräsentantin der Kommunistischen Plattform (der PDS); aber ihr Buch muss theoriepolitisch gelesen werden als Gramscianische Intervention in den Raum der bürgerlichen Hegemonie. Ob erfolgreich, wird der (ideologische) Klassenkampf zeigen nicht das Messen an der Marxschen Orthodoxie, denn anders als es die KPF will, Marx-Dogmatik gehört keinesfalls zu den Eintrittsbedingungen in die Partei DIE LINKE; darin ist ihr Programm von 2011 mit dem Godesberger des SPD von 1959 identisch… .
15 In ihrer ausführlichen Crouch-Rezension zeigen Bischoff/Detje diese Immanenz auf, im Unterschied zu den naiven, vollkommen wirklichkeitsfremden Vorstellungen, die Steingart, der Chefredakteur des Handelsblatt, beteuert zu glauben , um die Kapitalismuskritik von Jürgen Habermas zu neutralisieren. Vgl. Joachim Bischoff/Richard Detje: Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus. In: Sozialismus 2/2012, S. 24-31, hier S. 26.
16 „Dahinter steht das Problem, dass weder die Partei DIE LINKE noch die politische Linke (einschließlich SPD, Grünen und Gewerkschaften) insgesamt über eine konsistente ökonomische Theorie verfügen – weder über eine im Rahmen des keynesianischen oder monetär-keynesianischen Paradigmas, noch über eine marxistische, die auf der Höhe der Zeit ist. “ Wendl, a.a.O. (Fn 14). S. 67.
17 Manfred Lauermann: Chinas dialektische Planwirtschaft ein Antwort auf die Finanzkrise. In Z. Nr.78 2009, S. 112-118. Natürlich korrespondiert die strikte Regulierung des Finanzkapitals mit der dominierende Rolle von produktiven Staatsbetrieben, wie überhaupt das (direkt und indirekt) verstaatlichte Eigentum entscheidend das Privateigentum begrenzt. Vgl. Felix Lee: Die Gewinner der Krise. Was der Westen von China lernen kann. Berlin: Rotbuch Verlag 2011. Besprechung von Manfred Lauermann in Z Nr.87 2011, S. 208-212.
18 Die Decodierung solcher Formeln müsste nach dem Muster des Laclauschen Theorems ‚leerer Signifikanten‘ erfolgen; vgl. Martin Nonhoff: Soziale Marktwirtschaft – ein leerer Signifikant? In: Johannes Angermüller/Katharina Bunzmann/Martin Nonhoff: Diskursanalyse. Hamburg: Argument 2001, S. 193-208
19 Walter Eucken: Die Grundlage der Nationalökonomie. (4.Aufl.) Jena: Gustav Fischer 1944, S. 123
20 Siehe die klassische Textsammlung: Max Horkheimer/Friedrich Pollock [u.a.].: Wirtschaft, Recht und Staat im Nationalsozialismus [1939-1942]. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1981
21 Zu den Termini: Paul Windolf (Hg.): Finanzmarkt-Kapitalismus. [soziologische] Analysen zum Wandel von Produktionsregimen. Wiesbaden: VS-Verlag 2005 (bes. Christoph Deutschmann: Finanzmarkt-Kapitalismus und Wachstumskrise, S. 58-84; Klaus Dörre / Ulrich Brinkmann: Finanzmarkt-Kapitalismus: Triebkraft eines flexiblen Produktionsmodells? S. 85- 116); sowie Jörg Huffschmid: Kapitalismuskritik heute. Vom Staatsmonopolistischen zum Finanzmarktgetriebenen Kapitalismus. Hamburg: VSA 2010
22 Wolfgang Streeck: Die Krisen des demokratischen Kapitalismus. In: Lettre International Nr. 95. 2011, S. 11. Dieser Aufsatz ist Teil einer neuen Orientierung des Soziologen . Mit Bringing the capitalism back in die politische Theorie, 20 Jahre nach dem der Marxist Jessop forderte, Putting capitalist state in place, schließt einen Kreis und ermöglicht eine produktive friedliche Koexistenz innerhalb der Politologie. Streecks Überlegung, den Kapitalismus erneut zu thematisieren, gründet darauf, dass dieser sich seit 2008 selbst machtvoll (als Krisensemantik) in die Realität zurückgebracht hat; vgl.: Wolfgang Streeck: Re-Forming Capitalism. Oxford University Press 2010, (bes. Kap. 17) S. 233. – notabene: Crouch ist mit Streeck Herausgeber von: Political Economy of Modern Capitalisms. London: Sage 1997 und Mitautor in der Streeck-Festschrift von 2006: Transformationen des Kapitalismus). – Fiehler hat im Sozialismus Heft 2/2012 (S. 18-23) zeigt sich überrascht von Streecks Wende zu einer materialistischen Politischen Ökonomie und schließt seine Vorstellung des Krisen- Aufsatzes unter dem Titel „Wie weit kann die besitzende Klasse gehen?“ mit der lakonischen Feststellung: “ Schließlich befindet sich der demokratische Kapitalismus in einer Periode, in der beide Seiten schlicht Nervenstärke brauchen.“
23 Huffschmid, Kapitalismuskritik, a.a.O., S. 53
24 Sehr eindringlich beschrieben bei Stephan Schulmeister: Mitten in der großen Krise. Ein ‚New Deal‘ für Europa. Wien: Picus 2010, S. 38ff.
25 Dagegen halten orthodoxe Marxisten wie Wendl (Fn. 14) und Robert Kurz an der widersprüchlichen Einheit – mit Hinweisen auf Marxens Kredittheorie in Kapital Bd. III (MEW 25) – des Arbeits- und Verwertungsprozesses des Kapitals fest. „ Der Kredit verwandelte sich aus einem Hilfstreibsatz der Mehrwertproduktion in deren Ersatz. Die Akkumulation speist sich seither weniger aus der vergangenen realen Arbeitssubstanz, sondern in wachsendem Ausmaß aus dem Vorgriff auf eine imaginäre Arbeitssubstanz der Zukunft. Mittels einer beispiellosen globalen Verschuldung und daraus entstandenen Finanzblasen werden Investitionen und Beschäftigung ohne reale Grundlagen finanziert. Das war auch die gesellschaftliche Bedingung der Möglichkeit für den Siegeszug der virtualistischen und dekonstruktivistischen Ideologien. Trotz zeitweiligen Anscheins wird dabei jedoch kein Kapital akkumuliert, wie sich an der Bauwirtschaft vieler Länder nach dem Platzen der Immobilienblasen gezeigt hat. […] An der Oberfläche des Weltmarkts nahm der stetig weiter vorgeschobene Verbrauch zukünftiger Profite und Löhne die entsprechend absurde Verlaufsform einer Funktionsteilung von Überschuß- und Defizitländern an. Die einen kaufen mit Geld aus zukünftigen Einnahmen Waren, deren Produktion von den anderen durch Zugriff auf zukünftige Erlöse vorfinanziert wurde. Zwischen vergangener realer und fiktiv vorweggenommener zukünftiger Wertschöpfung klafft ein sich ausdehnendes schwarzes Loch.“ Robert Kurz: Die Klimax des Kapitalismus. In: Konkret 2/2012, S. 19.
26 Elena Esposito: Die Zukunft der Futures. Die Zeit des Geldes in Finanzwelt und Gesellschaft. Heidelberg: Carl Auer 2010, S. 254/5. Eine interessante Ergänzung auf Makroebene dazu ist inzwischen auf deutsch erschienen: Hyman P. Minsky: Instabilität und Kapitalismus. Zürich: Diaphanes 2012. Grundsatz: „Dieselben Operationen, die der Risikovermeidung dienen, tragen demnach zur Steigerung des Risikopotentials des Marktes in seiner Gesamtheit bei.“ (112). M.a.W.: der Versuch, Instabilität zu vermeiden, zwar an Risikotransaktionen zu profitieren, ohne wirklich am Risiko zu scheitern zu können, konstituiert eine neue Variante von Staatskapitalismus.
27 Rudolf Hilferding: Das Finanzkapital; Wien 1910 [Moskau 1912]. Lenins Exzerpt will empirisch wissen, ob und wie die Banken die Industrie beherrschen, ansonsten wäre das Bankkapital ein Papiertiger (Mao). W.I. Lenin: Hefte zum Imperialismus (LW 39), S. 335.
28 „Der Begriff des Exit-Kapitalismus verweist darauf, dass in risikokapitalfinanzierten Unternehmen die Investoren [das Personal] ihr Engagement aus der übergreifenden Perspektive auf einen möglichst profitablen Ausstieg planen. Es wird gezeigt, dass sowohl in Boomphasen an der Börse als auch beim Einbruch der Börsenkurse Profit als Mythos genutzt wird, um weitere Finanzierungen am Kapitalmarkt zu erhalten.“ Stefan Kühl: Profit als Mythos. In: Windolf, Finanzmarkt-Kapitalismus, a.a.O., S.117
29 Rainer Land: Auf der langen Welle aus der Sackgasse. Macht die Finanzkrise den Weg in einen sozialen Ökokapitalismus frei? In: Jäger/Strohschneider, a.a.O. (Anm. 4). S.41-47, hier: 45/46
30 Burkart Lutz: Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Frankfurt/NY: Campus 1984 weckt in seiner Empiriegesättigten BRD-Strukturgeschichte für Soziologen die Luxemburgsche Kategorie „Landnahme“ aus ihrem Dornröschenschlaf.
31 William G. Roy: Socializing Capital. Princeton: University Press 1997. Im deutschen wäre die Übersetzungsvariante denkbar: Negative Vergesellschaftung. Roy verunsichert die mechanische Einteilung Konkurrenzkapitalismus/ Monopolkapitalismus, weil historisch längst vor dem legendären Umschlagsjahr 1895 (Lenin und Eugen Schmalenbach) Großunternehmen die Akteure des corporate capitalism (Roy: 271) waren. Allerdings anders als heute waren sie nicht vor dem Markt geschützt, nicht ‚to big to fail‘. Großartig kann das an dem Eisenbahn-Industriellen Strousberg demonstriert werden, der zeitweise 100 000 Arbeitskräfte beschäftigt hatte und in Bankrott endete. Siehe: Joachim Borchart: Der europäische Eisenbahnkönig Bethel Henry Strousberg. München: Beck 1991. Interessant wäre der direkte Vergleich mit dem us-amerikanischen Eisenbahnbau und den jeweiligen Funktionen des Finanzkapitals (Roy: 100ff./ Borchart, 192ff.).
32 Klassisch: Werner Hofmann: Die säkulare Inflation. Berlin: Duncker & Humblot 1962. Vgl. den neueren Begriff der Stagflation (Minsky), referiert bei Fiehlers Streeck-Auseinandersetzung, a.a.O. (Fn 22), S. 20. Politökonomisch ist Inflation Ausdruck einer Strategie von starken Verbänden – wie konkret Unternehmer und Gewerkschaften im Teilhabekapitalismus – (innerhalb der Olsonschen Theorie des kollektiven Handels), ihre Probleme auszulagern.
33 Pierre Bourdieu u.a.: Der Einzige und sein Eigenheim. Hamburg: 2006, S. 54. Ein vielstimmiger Versuch, marxistische Linke von Bourdieus Theorie zu überzeugen, blieb absolut folgenlos! Vgl. das Kongress-Buch der RLS, Berlin 2007 von Effi Böhlke, Rainer Rilling (Hg.): Bourdieu und die Linke. Berlin: Dietz 2007
34 Die Dimension, die ausgelassen zu haben, Bischoff/Detje (a.a.O) monieren, ist längst Gegenstand in der neuen Arbeitsphase von Crouch. Vgl. Colin Crouch: Flexibilität und Sicherheit auf dem Arbeitsmarkt: Zeit für eine erweiterte Analyse. In: WSI Mitteilungen 11/ 2011, S. 597-605. „Management und Politik des einzelnen Unternehmens ist gemeinsam mit anderen Arten von Governance verantwortlich für das Entstehen unterschiedlicher Sicherungsstufen für die Beschäftigten – etwa durch die Definition unterschiedlicher Typen von Arbeit und zugehörigen Privilegien.“602; bes. die systemische Diskriminierung von Frauen in der Arbeitswelt (603).
35 Vgl. Klaus Dörre: Die neue Landnahme. Dynamiken und Grenzen des Finanzmarktkapitalismus und ergänzend Stephan Lessenich: Mobilität und Kontrolle. In: Klaus Dörre/ Stephan Lessenich/Hartmut Rosa: Soziologie, Kapitalismus, Kritik. Eine Debatte. Frankfurt am Main: Suhrkamp 2009
36 Vgl. Bischoff/Detje, a.a.O. (Fn.15) S.30 (Engels aus MEW 2: 487 = Anm.7). Sie resümieren zu Crouch: „Eine klare Ansage lautet also: Die Herrschaftsstrukturen bleiben stabil – in der Krise lauert weder eine Chance, noch steht ein über Postdemokratie hinausgehender autoritärer Kapitalismus zu befürchten. Nimmt man [Bischoff/Detje] dagegen die skizzierte Einbindung breiter Bevölkerungsschichten in ein System des Kleineigentums um den Preis der massiven Verschuldung und schließlich des Wertverfalls dieses Hauseigentums ernst, dann wird die Machtbasis der Konzerne in der Realökonomie und im Finanzsektor angreifbar.“ (29) Was dem Angreifen entgegensteht, ist weniger Crouch, dessen zivilgesellschaftlicher Entwurf nichts gegen eine solche praktische Aufklärung der Massen hätte, sondern die Mechanismen des Ausschließens der Linken aus dem politischen Feld, wie Klages mit Bourdieu analysiert. Johanna Klages: Die ökonomische Krise und die Krise der politischen Repräsentation. In. Walter Otto Ötsch/Katrin Hirte/Jürgen Nordmann (Hg.): Krise! Welche Krise?. Marburg: Metropolis 2010, S. 209-222
37 Hartmut Rosa, in: Ludger Heidbrink, Imke Schmidt, Björn Ahaus (Hg.): Die Verantwortung des Konsumenten. Frankurt/NY Campus 2011, S. 129. Dass die entscheidende makroökomische Rolle der Privatnachfrage kaum zureichend erkannt ist, behauptet neben anderen auch Luca Rebbegiani: Personelle Einkommensverteilung, privater Konsum und Wachstum. Marburg: Metropolis 2007, S. 193. Eva Diana Wendt: Sozialer Abstieg und Konsum. Wiesbaden: Gabler 2010, gelingt der Nachweis, wie bei den Auswirkungen finanzieller Verknappung von Konsumenten wegen Zeitarbeit, unterbezahlter Frauenarbeit, Arbeitslosigkeit oder genereller: wegen Prekaritätslagen immer noch alte Erwartungsstrukturen aus dem früheren Konsumentenleben weiter existieren (S. 102ff.), und wie trotzdem wie gewohnt mit privater (Weiter)-Verschuldung als Verhaltensmodi kalkuliert wird (S. 140ff.), so dass das Verlassen der privatkeynesianischen Schuldenmacherei entweder nur temporär ist oder verdeckt doch fortdauern kann (Stichwort: Schattenwirtschaft, Crouch, 2011, a.a.O. (Fn.34) S. 602)
38 Schön mit viel neuerer Empirie wird eine sehr frühe Intuition von Claus Offe bestätigt, vgl. Sighard Neckel: Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft. Frankfurt/NY: Campus 2008. Wieder zu lesen wäre: Claus Offe: Leistungsprinzip und industrielle Arbeit. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1970.
39 Karl Marx: Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses. Frankfurt am Main: Neue Kritik 1969 [zuerst Moskau 1933] erneut: Berlin: Dietz 2009] Seitenzahlen im Text nach der 1969-Ausgabe. Erste Gedanken zu den theoretischen Konsequenzen, marxistisch den Kreislaufprozess aus den verschiedenen Perspektiven zu konstruieren, liegen vor bei: Manfred Lauermann: Marx als Wirtschaftssoziologe. Eine Problemskizze. In: Warnke, Camilla/Huber, Gerhard (Hrsg.): Die ökonomische Theorie von Marx – was bleibt?. Reflexionen nach dem Ende des europäischen Kommunismus. Marburg: Metropolis 1998: 193-218. [Für diesen Abschnitt hat mein Onkel mir seine Resultate-Exzerpte elektronisch übermittelt; lis]
Die Rosa Luxemburg Stiftung hat bereits vor Wochen den internationalen Call for Papers „Einladung zur internationalen Diskussion ‚Die Akkumulation des Kapitals. Ein Beitrag zur ökonomischen Erklärung des Imperialismus‘ – ein Jahrhundertwerk bleibt aktuell, provokativ und produktiv“ veröffentlicht. Siehe dazu: http://ifg.rosalux.de/2013/04/22/fortgeschriebene-einladung-zur-internationalen-diskussion-100-jahre-akkumulation-des-kapitals/
Wir möchten unsere Einladung nachdrücklich bekräftigen und stehen für Fragen gerne zur Verfügung. Kontakt: Judith Dellheim – dellheim@rosalux.de
Entschuldigung, aber dass ist doch wirklich affig. Wer spricht/schreibt hier jetzt eigentlich? Die Nichte oder der Onkel? Liberaler Anarchismus mit sozialistischen Fussnoten?
Das ist ja schön, dass der Onkel den Artikel der Nichte mit 50 Jahren Literatur aufpimpt, aber können sie nicht einfach getrennt schreiben? Damit man weiss, wer spricht? Den Verweisen, Referenzen und Anspielungen in Lauermanns Solo-Artikeln zu folgen, ist schwierig genug – da brauche ich nicht noch so ein Kuddelmuddel.
Oder ist alles nur ein Gag? Lauermann dekonstruiert die „Autor“-Fiktion und lacht sich eins? Dann gilt natürlich: Helau!