Der Berufspolitiker Sohn leidet: „dass ich in den letzten Jahren durch Parlaments- und Parteiarbeit absorbiert bin, dass es gemessen an der Zahl der Bücher, die ich noch zu lesen schaffe, an systematischer Selbst-Verblödung grenzt.“ (S 27) Es ist zu schade, dass sein Zukunftsmodell der allseitigen Räte noch nicht Wirklichkeit geworden ist: „jederzeit abwählbar“ (135). Hoffentlich ist er nicht in den Landtag gelangt, weil wie in der DDR ihn die führende Partei dorthin delegiert hat, sondern weil er – wissend, was er tut? – sich von seiner Partei DIE LINKE zum Spitzenkandidaten hat aufstellen lassen. Nun ist ja , sollte die Partei ihn nicht wieder einer Selbst-Verblödung unterziehen wollen, bald seine unproduktive Zeit im Landtag vorüber.1 Doch Politiker können oft nicht warten, so dass er sich auch ohne Lesepotentialität ein Buch zur Erbauung vorgenommen hat. Tenor: Mit Jürgen Kuczynski, der mehr Bücher geschrieben hat als Sohn je zahlenmäßig gleich welchen Inhalts wird lesen können, datiert er den Beginn des Kapitalismus auf das 13. Jahrhundert, also grob geschätzt brauchte sein Lieblingsfeind mehr als ein halbes Jahrtausend, bis ihn Marx und Engels wenigstens theoretisch niederstreckten. „Dies ist ungefähr der Zeitraum der Kämpfe, die wir und unsere Ururenkel auszufechten haben – und zwar egal, ob im Zentrum dieser Kämpfe aus unserer Sicht die geschlechter- oder die Klassenfrage steht.“ (S 157) Wir haben eine Art Mischtext vor uns: Politisch-Historische Erzählungen, vielleicht in der Absicht ein kollektives Gedächtnis zu beeinflussen, aber er geniert und ziert sich durch linkisch Selbstironie (Vereinnahmung des Feminismus? S 143) und garniert seine persönlichen Meinungen und Glaubenssätze durch ausufernde Zitationen aus wissenschaftlichen Diskursen und kanonischen Autoritäten. „Lenin als einer der genialsten russischen Politiker der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts und Walter Ulbricht als einer der hellsichtigsten Marxisten der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben das [=Stärkung kleiner Einheiten; Dezentralisierung; lis] für ihre jeweiligen Verantwortungsbereiche ökonomisch berücksichtigt.“ (S 81) Warum ist das Ganze denn so erfolgreich gescheitert? Ach – und Lenin wird bloß als Politiker, nicht wie Ulbricht als Marxist bezeichnet: eine typische eurozentrische Arroganz?
Der 3. Anlauf – heißt das: Alle guten Dinge sind drei? Zuerst die Niederlage der Pariser Kommune 1871 (1. A.), dann die permanenten Niederlagen des Sozialismus in der Folge der Oktoberrevolution von 1917-1989 (2.) – mein Onkel spricht gerne wie alte Lehrbücher des Histomat von Gesetzmäßigkeit der „Epoche des Übergangs vom Kapitalismus zum Sozialismus, die mit der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution begann und in deren weiterem Prozeß sich das entwickelte sozialistische Weltsystem entwickelte, dessen politische, ökonomische und ideologische Kraft ständig zunimmt.“2
Jetzt also der 3. Anlauf: „Der historische Ort, an dem wir Linken heute leben und handeln, ist vergleichbar mit jenem in den Jahrzehnten nach der Pariser Commune – nur einen Versuch später. […] Wir sind die Generation also, welche theoretisch und parallel dazu politisch praktisch die Synthese zu erarbeiten hat aus der These der Commune und der Antithese der Oktoberrevolution.“ (S 23). Das klingt klug: Negation der Negation, nach Altmeister Lenin: eine „Entwicklung die die bereits durchlaufenden Stadien gleichsam noch einmal durchmacht, aber anders, auf höherer Stufe, sozusagen in der Spirale vor sich geht.“3 (Wörterbuch;216). Daher können wir uns bequem zurücklehnen, weil ja gesetzmäßig der 2. Anlauf scheitern musste, damit wir die großartige Möglichkeit zu einem 3. haben! S. weiß jedoch noch mehr, er kennt den neuen Träger, pardon: die neue Trägerin dieser Entwicklung. „Erstens wird es einen neuen Anlauf zum Sozialismus erst dann geben, wenn ihn die Frauen massenhaft zu ihrer Sache machen“. [Frage: wenn also die 40% Frauenquote im Vorstand der Dax-Unternehmen verordnet ist?] Zweitens wird er nur von Dauer sein, wenn er dauernd ihre Sache bleibt. [Frage: Und die Männer nicht mehr dagegen anstänkern oder gar sabotieren? oder die Frauen wie viele meiner Freundinnen keine Lust mehr haben emanzipativ wie ihre Mütter zu sein?] Und drittens bleibt er das nur, wenn der künftige Sozialismus nicht hierarchisch und zentralistisch, sondern ein Sozialismus der autonomen Kommunen und Betriebe und somit dezentral organisiert wird.“ ( S 69/ 70). [Auja! Zuckererbsen für jedermann, jede Frau!]
Noch einprägsamer und/oder formelhaft gelingt S. seinen 3. Anlauf zu propagieren: “ Damit haben wir zwei aktuelle Schlüsselelemente eines Aufbruchs in eine in der Perspektive klassenlose Gesellschaft beisammen: Die Forderung nach radikaler Arbeitszeitverkürzung4 und die Forderung nach Dezentralisierung, nach mehr [warum nicht: alle?; lis] Macht für die kommunalen und betrieblichen Räte. Die Frage der Arbeitszeitverkürzung muss allerdings auch deshalb mit der Geschlechter Frage verknüpft werden, weil sie einen Block vor eine Gefahr legt, die sonst drohen würde. Denn die Frage ist, wofür die Gesellschaft die frei gewordene Zeit nutzt.“ Vorschlag Sohn – gewissermaßen sein kategorischer Imperativ: „die Konzentration auf die Entfaltung von Erziehung, Beziehung, Liebe, Kultur, Gesundheit und Sport in unseren Dörfern und Städten das wäre das edelste Ziel, mit unserer Zeit sinnvoll umzugehen“ (S 152/3). Es ist kein Zufall, dass er seine Reihe edler Güter („commons“) mit Erziehung anfangen lässt, weil seine alte DKP signifikant von Lehrern und Studienräten geprägt war, besser gesagt, von Lehrerinnen, denn keine Partei der alten BRD hatte einen so hohen Frauenanteil (43,7%). Wie er bei Sport natürlich nicht an passives Fußballgucken vorm Fernseher mit Chips und Bierdose, wie er bei Kultur natürlich an das Lesen ernster Bücher (seines z.B.) denkt – wie er gern im Buch ausstreut, so hat er über Beziehung und Liebe auch seine ihm wohl originell scheinende Meinung. “ … Menschen, die im Frühjahr jeden Morgen im selben Haus [Bourdieus Eigenheim – bloß keine Mietwohnung; lis] schlafen und frühstücken wie im Sommer , Herbst , Winter und im nächsten Frühjahr wieder, sich an ihrer Frau und ihren Mann freuen (und sich gelegentlich mit ihnen herumärgern und gemeinsam hoffentlich gesunde Kinder großziehen.“ – Wieso fällt mir bei solcher Idylle andauernd Rosamunde Pilcher ein? Bei gleichzeitigem Verscheuchen finsterer Assoziationen wie „Heterosexuelle Matrix und Phallogozentrismus“5 (Judith Butler)!
Sohns Referenzen sind eher deutsche: Frigga Haugs ‚Vier-in-einem Perspektive‘ (S 136), die er mit seiner Liebe zur pathetischen Floskel für sich aneignet als „Nur mit Rosa wird Karl siegen können“ (nicht Liebknecht, Marx: versteht sich). Für seine zwei ersten Anläufe bietet er wenig auf: aus einem arg verkürzten Werbeschriftchen für die ‚Vereinigung der Freunde der Pariser Kommune‘ erwähnt er „gleiche Löhne bei Lehrerinnen und Lehrern, das Recht auf außereheliche Lebensgemeinschaften, Gründung einer Berufsschule für Mädchen. Frauen oder Lebensgefährtinnen von Kommunarden, die im Kampf ums Leben gekommen sind, erhalten Pensionen, ebenso ihre Kinder.“ (S 63)6 Wie viel hätte man aus diesem Impuls machen können, wenn man die breite Kommune-Forschung zur Kenntnis genommen hätte? Hören wir eine Originalstimme der russischen Revolutionärin Jelisaweta Tomanowskaja:
„Wir mobilisieren alle Frauen von Paris, ich mache öffentliche Versammlungen. In allen Arrondissements haben wir in den Mairien Frauenkomitees gebildet, außerdem noch ein Zentralkomitee. All das geschieht, um einen Frauenbund zur Verteidigung von Paris und zur Pflege der Verwundeten zu organisieren. […] Ich muß jeden Abend auftreten, viel schreiben, mein Zustand aber wird immer schlimmer. Wenn die Kommune siegt, wird unsere politische Organisation zu einer sozialen, und wir werden Sektionen der Internationale gründen. Die Propaganda, die ich für die Internationale betreibe, um aufzuzeigen, daß alle Länder — auch, diese Propaganda gefällt — allgemein gesehen — den Frauen sehr. Unsere Versammlungen werden von drei- bis viertausend Frauen besucht. Das Unglück ist nur, daß ich krank bin und niemand da ist, der mich ersetzen kann. Mit der Kommune geht es vorwärts, nur hat man am Anfang viele Fehler gemacht“.7
– Aber interessiert S. sich überhaupt für die Materie ? Für die produktive und kreative Rolle der Frauen in den französischen Klassenkämpfen seit 1789, somit weiterhin auch und noch stärker durch ihren gewachsenen proletarischen Habitus am Ende des bürgerlichen Revolutionszyklus 1871?8 Noch beiläufiger – so überhaupt möglich – ist seine Randbemerkung zu den Frauen in seinem 2. Anlauf: ein wenig Kollontai, deren Essenz auf die wenigen Jahre nach 1917 bis zur NEP 1921 reduziert wird, (S 65ff.), obwohl Kollontai in zahllosen Büchern den Zerfall der Frauenpolitik der Sowjetunion teils benannt, teils als Diplomatin Ausdruck der Regression wurde.9
Um meine Frage zu beantworten: Nein, mir scheint ein bestenfalls oberflächliches Interesse vorzuherrschen. Sohn benutzt Frauen, um seinen 3.Anlauf zu illuminieren. Mit dem dreibändigen Werk von Göttner-Abendroth10 setzt er sich nicht ernsthaft auseinander, sondern ihm mißfällt der Begriff Matriarchat, er will, wie er ebenso eilfertig ankündigt, wie er es dann vergisst, stattdessen lieber von reproduktionsorientierten Gesellschaften (S 57). Er glaubt, Göttner-Abendroth würde mal Friedrich Engels folgen, mal ihn mißverstehen – wie immer! – , dann greift er statt das am Text nachzuvollziehen, lieber zu tagespolitischen Aktualisierungen: „Die hochentwickelten städtischen Gesellschaften der (in marxistischer Terminologie) Urgesellschaft, die Göttner-Abendroth beschreibt, haben eben dieselbe herrschaftsfreie Grundstruktur, die die Commune-Bewegung von Frankreich anstrebte und in Paris in Ansätzen verwirklichte, so dass Engels davon sprach, dass dies schon kein Staat im eigentlichen Sinne mehr war – Göttner-Abendroth würde vielleicht sagen: in Ansätzen kein patriarchaler Staat mehr. Auch in dem Fluchtpunkt einer solchen Entwicklung, die von Privateigentum und Patriarchat – oder Patriarchat und Privateigentum – befreit ist, sind sich Marxismus und Feminismus einig. Die Vorsitzende der Partei DIE LINKE, Gesine Lötzsch, ist zur Jahreswende 2010/2011 übel verhauen worden wegen ihrer Aufforderung, weiter nach Wegen zum Kommunismus zu suchen. An diesem Lötzsch-Bashing haben sich auch führende sozialdemokratische Männer tüchtig beteiligt.“ (S 145/6).
Es ist in ferner Vergangenheit demnach die Urgesellschaft, die sich nach S. in die erste Klassengesellschaft transformiert hatte, um das Matriarchat zu unterdrücken, bzw. das Patriarchat die Klassengesellschaft benötigt, um seine Herrschaft abzusichern (143), so weit antizipiert er die Zukunft, denn Ziel seines 3. Anlaufs wird nach der bekannten Gesetzmäßigkeit der Geschichte die Wiederherstellung des Matriarchats sein. Und gleichzeitig das Ende der Vorgeschichte! Die Zeitdimension für den 3. Anlauf, die Überwindung der Vorgeschichte (MEW 13: 9) – für Sohn ein Glaubenssatz!11 – setzt er großzügig auf das „30. Jahrhundert und folgende“ an (S 9), was eher kurz erscheint, bei jemanden, der schon mal „10.000 Jahre Menschheitsgeschichte zusammenfassen“ (S 73) kann; bis dahin bringt er in den Niedersächsischen Landtag Anträge ein wie „Einführung eines flächendeckenden, systematischen Stoffstrommanagement“ (S 108) .12
Ich werde das Gefühl nicht los, S. treiben durchsichtige politizistische Gründe, seinen 3. Anlauf mit dem neuen Trägersubjekt „Frauen“ auszurüsten. Fülberth analysiert, dass das Scheitern der DPK aus verschiednen Ursachen während des Zeitraum von 1974-1979 veranschlagt werden kann.13 Ab 1980 fungierte statt der überfälligen Auflösung der 0,3% Partei die „Friedensbewegung als Ersatzhandlung“. (Fülberth 160). Endlich ein Thema, wo man in einem Meer von 100.000 Demonstrierenden wie ein Fisch im Wasser schwamm, ein Thema, wo bei Meinungsumfragen mind. 90% der deutschen Bevölkerung für Frieden waren, ein Thema, wo keine andere Auffassung denkbar war oder zumindest nicht geäußert werden konnte. „Denn der Frieden ist die entscheidende Grundlage für die Fortexistenz der Menschheit und erste Voraussetzung für die Lösung aller anderen gesellschaftlichen Probleme. “ (Thesen des ZK der SED zum Karl-Marx-Jahr 1983; Wörterbuch 157). Daher hatten die DKP-Funktioäre die schlaue Idee, wenn schon die Eigentumsfrage als Kern des Sozialen keine Wählerstimmen bringt, mit dem Friedensthema den herrschenden Antikommunismus zu überlisten. Tauschen wir in solcher Logik Sohns Feminismus/Frauen gegen SED-Frieden ein/aus, erklärt sich plausibel die Grundidee von Sohns 3. Anlauf.
Was aber soll dann aber der ambitiöse Untertitel: Alle Macht den Räten?
Es ist in der Partei DIE LINKE seit einiger Zeit Mode, Räte als heilige Reliquie aus dem Erinnerungskeller hervorzukramen. Bei allen wird sorgsam vermieden, sich damit zu konfrontieren, dass Luxemburg, Liebknecht und Levi auf dem Parteitag der KPD 1918 entschieden gegen die Alternative Nationalversammlung / Räte gesprochen haben, sondern für die Beteiligung an den allgemeinen Wahlen, aber sich von der linksradikalen Parteitagsmehrheit haben überstimmen lassen. (Für dieser Art Ungeschick hatte Lenin den Ausdruck ‚Demokratismus‘). Geradezu tabuisiert wird die aus der Praxis gewonnene beißende Kritik von Korsch (KPD) an den Räten14. Gewiß, einzelne historische Arbeiten sind entstanden, die ein Desiderat waren, wie die zur Bedeutung Richard Müllers -[‚Nationalversammlung nur über meine Leiche‘!] -in der deutschen Novemberrevolution.15 Diese fehlt typischerweise bei Sohn; symptomatische Leerstellen sind bei ihm ebenfalls die gleichzeitigen Experimente in München, in Ungarn, oder die Turiner Fabrikräte vor Mussolinis Faschismus: Alle faszinierende Modelle für Niederlagen. Bleibt bloß, wie er sich ausdrückt, die Antithese der Oktoberrevolution‘ (S. 23), wo bedauerlicherweise ‚ultrazentralistische‘ Tendenzen nicht abgeschwächt, sondern leider aus äußeren Gründen, wie er vermutet, ausgebaut wurden: Bürgerkrieg ab 1917, vierzehn ausländische Interventionsarmeen, die bewaffnete Konterrevolution (S 47). That’s all? Nicht die Unterminierung der Räte ab 1917 durch die Bolschewiki, – parallelisiert durch die nihilistische Auflösung der Konstituante im Januar 1918, weil die Wähler falsch abgestimmt hatten (Bolschewiki nur 25%), wodurch danach in Rußland alle Wahlergebnisse verstaatlicht wurden – , nicht ihre Neutralisierung und Umfunktionierung in eine Staatsbürokratie? Gegen letztere fordert Kollontai in ihrer programmatischen Schrift über die Arbeiteropposition die ‚umfassende Selbsttätigkeit‘ der Arbeitermassen mit dem Ergebnis, dass – schwarzer Humor seiner ‚Anläufe‘ – genau 50 Jahre nach der Niederschlagung der Kommune im März 1921 Kronstadt niedergemetzelt wurde.16
Für mich ist es ein Rätsel, warum Sohn danach nicht die Akten schließt, ist doch sein 2. Anlauf somit endgültig beerdigt: Weder Räte noch Demokratie, Stalinismus als perfekter Zentralismus. Mein Onkel hat mich auf die glänzende Analyse der Sowjetunion nach Kronstadt des vormaligen KPD-Vorsitzenden Paul Levi aufmerksam gemacht, der die ungelösten Klassengegensätze als säkulares Geschichtszeichen begreift: „Diese Retorte nannten sie die Sowjets: in ihnen war das für sie Widerstrebende vereinigt, so, wie für den gläubigen Katholiken Geist und Körper sich vereinen in der Hostie, die er verschluckt. […] In der Sowjetform nach russischem Muster aber erleben wir. … Die Gegensätze hatten bisher keine Formen: sie suchen die Formen in der einen bestehenden Partei, teilen die Partei in Fraktionen und dann in Splitter, bewirken, daß sich Verräter heißen, die sich bisher Freund und Führer hießen und stellen am Ende den Genossen vor die Gewehre der Genossen von gestern.“ [1927]17
Zu den Verdiensten des Mitglieds im Sprecherrat der Historischen Kommission beim PV der LINKEN, Klaus Kinner, gehört die Konzeption der beiden Bände zum Linkssozialismus mit zwei Levi-Aufsätzen. In unserem Zusammenhang schreibt Krätke, überlegt zuspitzend : „Levi kritisierte …. den Leninismus – nicht nur wegen der Unmöglichkeit, die Formen der politischen Arbeiterbewegung, die sich unter den eigentümlichen Bedingungen des zaristischen Rußland herausgebildet hatten, auf Westeuropa zu übertragen. Sondern weil im Leninismus, einem Amalgam von Lenin-Philologie, Personenkult und zum Mythos überhöhten und verfälschten ‚Lehren der Oktoberrevolution’ alle Fehler wie zeitbedingten taktischen Wendungen Lenins zur Theorie erhoben wurden. Weil die Arbeiterbewegung ‚nicht zum Götzendienst geschaffen ist’, galt es, den zum Leninismus versteinerten Mythos der Oktoberrevolution zu bekämpfen. Levi griff die ‚völlig verkehrte und verfehlte Theorie von der Rolle der Partei, von der Allmacht eines Zentralkomitees, von der Gottähnlichkeit von ein paar Bonzen’ gnadenlos an. Als die Ideologie einer Sekte, die unter besonderen historischen Umständen zur Staatsgewalt geworden war und nun zum ‚starre(n) Herrschen’, zum Festhalten an der Macht um jeden Preis verurteilt war. Die angebliche ‚Weiterentwicklung’ des Marxismus durch Lenin und die Leninisten bestritt Levi entschieden: Sie beruhte auf der kühnen Behauptung, eine politische, staatliche Form könne bestehende Klassengegensätze aufheben. Tatsächlich wurden die Klassenkämpfe in der Sowjetunion in der Form innerparteilicher Fraktionskämpfe ausgefochten oder nur mit Gewalt niedergehalten – von Anfang an. Folglich gehörte der staatlich organisierte Terror unweigerlich zum Sowjetregime. Die Leninisten, so Levis Fazit, hätten den Wert der politischen Demokratie für die Entwicklung der Arbeiterklasse und ihrer sozialen Bewegung ebenso wenig begriffen wie sie den langwierigen Prozeß der Umgestaltung von Menschen und Verhältnissen verstanden hätten, der im klassischen Marxismus ‚soziale Revolution’ hieß. Ein Prozeß, der mit Unterdrückung ‚ im Polizeisinn, mit Staatsterrorismus nichts zu tun habe bzw. dadurch geradezu erstickt werde. Illusionen über die Entwicklung der Sowjetunion hatte Levi schon 1921 nicht mehr. Die russische Revolution war eine historische Episode geblieben – wie die Pariser Kommune von 1871“.18 Mit einem für einen Leninisten bösartigen Verdikt bestimmt 1926 Karl Korsch ähnlich den Grossen Oktober als „in ihrem sozialökonomischen Wesen nach eine bürgerliche Revolution“!19
S. bleibt diesem Leninismus, diesem Amalgam aus Lenin-Philologie, Personenkult und Mythos wie seine alte Partei, in dessen Vorstand er noch Mitte der 90er Jahre war, treu (um einen Lieblingsterminus der Kommunistinnen zu benutzen). „Bei der publizistischen und politischen Verteidigung der Sowjetmacht in Russland kommt dann die Frage des Zentralismus als eine der Lehren aus der Commune dazu und zwar mit Macht und der schneidenden Polemik, die wir [sic!- Ich nicht; lis] alle an Lenin so lieben.“ ( S. 31) Was S. dann für seinen 1. Anlauf produziert, ist ein Mythos (Lenin hätte polemisch von einem Lügenmärchen gesprochen), vor dem der Kommunekämpfer und spätere Marx-Freund Prosper Lissagaray in seinem Kommune-Bericht 1876 eindringlich gewarnt hat: „Wenn der Streiter von morgen die gestrige Schlacht nicht von Grund aus kennt, so wartet dasselbe Blutbad auf ihn. Unter solchen Umständen ist Schmeicheln gleichbedeutend mit Verraten. Wer dem Volke falsche Revolutionslegenden erzählt und es – ob vorsätzlich oder aus Unwissenheit – durch Geschichtsdithyramben täuscht, ist ebenso strafbar wie der Geograph, der falsche Karten für Seefahrer entwerfen würde“.20
Kleiner, leider nicht vermeidbarer Exkurs zur Klassiker-Lektüre21
Lenin operiert taktisch geschickt mit einem der bekanntesten Marx-Schriften: Der Bürgerkrieg in Frankreich. Adresse des Generalraths der Internationalen Arbeiter-Assoziation. (3.dt. Aufl.) Berlin 1891. Sie ist auf dem 30.Mai 1871 datiert. Ihr Verfasser, der korrespondierende Sekretär für Deutschland und Holland, wird nicht eigens erwähnt, es ist der Bürger Marx. (MEW 17: 317-362). Da die 72 Tage der Kommune vom 18.März bis zum 26. Mai 1871 währten, gelingt es Marx, sein umfangreiches Material22 in unwahrscheinlicher Schnelligkeit und vollendeter Rhetorik in einer Woche zusammenzufassen, noch unter dem Eindruck des Terrors der Konterrevolution. „Die Zivilisation und Gerechtigkeit der Bourgeoisordnung tritt hervor in ihrem wahren, gewitternschwangern Licht, sobald die Sklaven in dieser Ordnung sich gegen ihre Herren empören. Dann stellt sich diese Zivilisation und Gerechtigkeit das als unverhüllte Wildheit und gesetzlose Rache. […] Der selbstopfernde Heldenmut, womit das Pariser Volk – Männer, Weiber und Kinder – acht Tage lang nach dem Einrücken der Versailler fortkämpften, strahlt ebenso zurück die Größe ihrer Sache, wie die höllische Taten der Soldateska zurückstrahlen den eingebornen Geist jener Zivilisation, deren gemietete Vorkämpfer und Rächer sie sind.“ (17:355/6)
Marx Zögern, seinen Auftrag für die Internationale zu erfüllen, theoretisch-agitatorisch während der 72 Tage einzugreifen, ist überaus reflektiert – obschon er seinem Genossen der Internationale und Kommuneführer Leo Frankel die Adresse am 26. April verspricht (‚wird in diesen Tagen veröffentlicht‘; MEW 33:216). Warnte er nicht nur, gleichfalls im Namen der seiner Organisation (Partei), ein halbes Jahr vorher, man solle nicht zu den Waffen greifen23, so war ihm bereits nach gut 3 Wochen des Aufstands, am 12. April, in dem berühmten Brief an Kugelmann die Lage klar, darin Kugelmann, der am 5. April24 moniert, dass die Kommune eine durchaus verfehlte zu sein, weil das kontinentale Proletariat noch in den Kinderschuhen steckt, Recht gebend, aber: „Wie dem auch sei, diese jetzige Erhebung von Paris – wenn auch unterliegend vor den Wölfen, Schweinen und gemeinen Hunden der alten Gesellschaft – ist die glorreichste Tat unserer Partei seit der Pariser Juni-Insurrektion. Man vergleiche mit diesen Himmelsstürmern von Paris die Himmelssklaven des deutsch-preußischen heiligen römischen Reichs mit seinen posthumen Maskeraden, duftend nach Kaserne, Kirche, Krautjunkertum und vor allem Philistertum.“26
Lenins Empathie für den aufopfernden Heldenmut ist verstärkt durch seine Familiengeschichte: die Hinrichtung seines Bruders nach einem leider mißglückten Attentat auf den Zaren. Genauso heftig ist sein Wunsch, bei einer russischen Revolution nicht erneut in der neuen Emigration einen Nachruf schreiben zu müssen. 1908: (der zweite Fehler, nach Marx im Kugelmann-Brief, nicht Marx in der Adresse!) „Es hätte seine Feinde vernichten müssen, statt dessen aber bemühte es sich, sie moralisch zu beeinflussen: es unterschätzte die Bedeutung rein militärischer Aktionen im Bürgerkrieg….“ (Lenin, Kommune, 15).26 1916: „Wir sagen: Bewaffnung des Proletariats zum Zwecke, die Bourgeoisie zu besiegen, zu expropriieren und zu entwaffnen – das ist die einzig mögliche Taktik der revolutionären Klasse….“(41) Lavrov, dessen Kommune-Auffassung Lenin sehr schätzte, demonstriert kühl die Lage:
„Dies war die Fortsetzung jener Politik, deren Hilfe Varlin und seine Genossen zwischen dem 3. und dem 18. März zuerst die Nationalgarde von Paris und dann die Nationalgarde Frankreichs als die bewaffnete Macht des sozialistischen Proletariats organisieren wollten. Indem sie die Gereiztheit der republikanischen und patriotischen Bourgeoisie von Paris gegen die offensichtlich monarchistischen Tendenzen der Versammlung von Versailles und dem von ihr geschlossene schmachvollen Frieden ausnutzten, wollten die Sozialisten von Paris, gemeinsam mit der Bourgeoisie, zuerst eine politische Revolution durchführen, die überall eine bewaffnete Macht hervorgebracht hätte, welche sich in ihren Händen befand, um dann später, mit Hilfe dieser bewaffneten Macht, die ökonomische Revolution zu vollenden. Doch eine solche Politik hatte ausschließlich in der Lage, in der sich Paris während des Zeitraums zwischen zwei Belagerungen befand, die zufällige Chance, teilweise verwirklicht zu werden; die Bourgeoisie war zu scharfsinnig, um nicht zu merken, daß es unter den gegebenen Umständen gar nicht um die Autonomie der Kommunen und ihren Zusammenschluß ging, sondern um die Übergabe der bewaffneten Macht in die Hände des Proletariats, wie die Beziehungen der Kommunen zu größeren Gruppen oder zur ‚Nation’ auch immer sein würden. Diesem Köder auf den Leim zu kriechen, wäre für die Bourgeoisie einem Selbstmord gleichgekommen, und deswegen verwandelte sie sich in ihrer überwältigenden Mehrheit in einen Feind der Kommune“.27
Schließlich in Staat und Revolution28 (Aug/Sept. 1917): “ Die Kommune ist der erste Versuch der proletarischen Revolutionen, die bürgerliche Staatsmaschine zu zerschlagen, ist die ‚endlich‘ entdeckte politische Form. durch die man das zerschlagene ersetzen kann und muß.“ (111) Dann seine Apotheose: „Wir aber werden mit den Opportunisten endgültig brechen; und das ganze klassenbewußte Proletariat wird mit uns sein im Kampf nicht um eine ‚Verschiebung der Machtverhältnisse‘ [Kautsky], sondern um den Sturz der Bourgeoisie, um die Zerstörung des bürgerlichen Parlamentarismus, um die demokratische Republik vom Typ der Kommune oder die Republik der Sowjets der Arbeiter- und Bauerndeputierten, um die revolutionäre Diktatur des Proletariats29.“ (147)
Lenin ist sich darüber wohl bewusst, dass und wie er kalkuliert die Kommune als Mythos in die Diskurse seiner Zeit einträgt; ihm ist das historische Ereignis Commune 1871 zwar nicht unwichtig, aber nebensächlich. In seinen Notizen spricht er von „Republik und Selbstverwaltung“ (Kommune, 28), „daß die reale Aufgabe, die von der Kommune zu erfüllen war, vor allem darin bestand, die demokratische und nicht die sozialistische Diktatur zu verwirklichen, also unser ‚Minimalprogramm‘ (1905) durchzuführen.“ (33). Ich zitierte vorhin Lenins Wort, ‚es hätte seine Feinde militärisch vernichten müssen‘, was die Bedeutung von ‚demokratische Diktatur‘ ist, aber das „Es“ als Proletariat ist die absichtsvolle Fehllektüre der sozialen Kräfte und ihrer politischen Repräsentanten der historischen Pariser Kommune, die unter dem Deckmantel von agitatorischen Passagen aus Marx‘ Bürgerkrieg, genau: 5 Seiten von 43 Seiten Text, ihre Traditionsmächtigkeit erschleichen. Weil die Adresse die der Internationalen Arbeiter-Assoziation war, musste Marx seine eigenen Forschungsergebnisse übermalen! Zum andern: 4 Jahre vorher hatte Marx sein Kapital vorgelegt, dadurch hatte er eine Struktur begrifflich gefasst, was die Evolution der Ökonomie des Kapitalismus analysierbar machte, ihm gelang die Konstruktion eines relevanten gesellschaftlichen Teilsystems (Wirtschaft der Gesellschaft)30 und dessen autonome Autopoiesis. Dadurch konnte er strukturell in jeder Form des politische Kampfes, soweit Arbeiter und die bürgerliche Klasse beteiligt waren, nach der Vorgabe des durch den Realprozeß reduzierten Klassenwiderspruchs in jenen die Träger der Revolution sehen und methodisch die Kommune als Anfang des Aufstiegs vom Abstrakten zum Konkreten bestimmen: „Die Form war einfach wie alles Große.“ (17:543) . Weil er nach seinen eigenen Kriterien wissenschaftlich ausschließlich das Teilsystem Ökonomie untersucht und dargestellt hatte, nicht aber das Teilsystem Politik, greift er zu Analogien: Seine Sprache fällt in die seine alte, die des frühen Marx zurück, „bleibt die sozialistische Theorie formell noch befangen in den bürgerlichen Begriffen des Aufklärungszeitalters“.31 Conclusio: Der Signifikant Arbeiterklasse, Proletariat ist fehlkonnotiert, schielend, das Signifikat ist der reale Kampf der bürgerliche Volksmassen, in denen Arbeiterinnen und Arbeiter das entscheidend bewegliche Element seit 1798 ausmachen, dessen Grundimprägnierung aber bürgerliche Ideologie ist.
Jedoch: Als historischer Materialist verfügt er über mikrologische Beobachtungstechniken: „Die große Maßregel der Kommune war ihr eignes arbeitendes Dasein.“ (17:347), d.h. ihre Selbstkonstitution als (widersprüchliche) soziale und politische Einheit, „ihre große Maßregel ist ihre Schaffung der Kommune selbst“ (17:545;556). Marx probiert aus, das diffamierende Wort einer vile (groben) multitude gegen den Strich zu kehren – wir lesen nicht falsch, wenn wir darin die multitudo von Hardt/Negri wiedererkennen. Multitudo als Urgrund, aus denen nach Hobbes die Herrschenden die Staatsformen machen, in Marx Worten aus dem 1. Entwurf: „Die Kommune war eine Wiederbelebung durch das Volk und des eignen gesellschaftlichen Lebens des Volkes“. […] das ist die Rücknahme der Staatsgewalt durch die Gesellschaft als ihre eigne gesellschaftliche Macht, an Stelle der Gewalt, die sich die Gesellschaft unterordnet und sie unterdrückt; das ist die Rücknahme der Staatsgewalt durch die Volksmassen selbst, die an die Stelle der organisierten Gewalt der Unterdrückung [Hegels Staat!] ihre eigne Gewalt schaffen“ (17:543). Die Neubildung der multitudo vor ihrer erneuerten (staatlichen?) Konstituierung. Keine Silbe von Arbeiterklasse! Jedoch: „Daß die Pariser Arbeiter die Initiative zu der gegenwärtigen Revolution ergriffen haben und in heroischer Selbstaufopferung [Dieses schreibt Marx während der 72 Tage, nicht danach!) die Hauptlast in diesem Kampf tragen, ist nichts neues. Es ist das erstaunliche Merkmal aller französischen Revolutionen. Es ist nur eine Wiederholung der Vergangenheit. Daß die Revolution im Namen und offen für die Volksmassen, das heißt für die produzierenden Massen32 gemacht wird, ist ein Merkmal, daß diese Revolutionen mit allen ihren Vorgängerinnen gemein hat.“ (17:556)
Auf den Punkt gebracht: Der ganze Revolutionszyklus 1789 bis 171 verbleibt innerhalb des Horizont bürgerlicher Revolutionen, in der Kommune können kontingente Elemente einer neuen politischen Form entstehen, „das rationelle Zwischenstadium, in welchem der Klassenkampf seine verschiednen Phasen auf rationellste und humanste Weise durchlaufen kann.“ (17:546). Während die sozialen Maßregeln überwiegend für die Mittelklassen (529) sich auswirkten, dem dominanten Teil der Kommune: „Die wichtigsten Maßregeln, die die Kommune ergriffen hat, sind für die Rettung der Mittelklasse ergriffen worden“. (553)33 Genauso gilt für Sohns Lieblingsprojekt der Kommunalisierung des Politischen: „Nicht umsonst gründet sich der Begriff des kommunalen Gebildes ‚Kommune auf‘ die Pariser Commune von 1871“ ( glaubt S. nach Felicitas Weck, S 20).34 Bei Marx klingt das anders.“ Es ist das gewöhnliche Schicksal neuer geschichtlicher Schöpfungen, für das Seitenstück älterer und selbst verlebter Formen des gesellschaftlichen Lebens versehn zu werden, denen sie einigermaßen ähnlich sehen. […] Der Gegensatz der Kommune gegen die Staatsmacht ist versehn worden für eine übertriebne Form des Kampfes gegen Überzentralisation.“ (17:340/1; Bürgerkrieg) Die Forschung ergänzt: XXXXX35 Als Kommunisten noch zu theoretischer Schärfe fähig waren, urteilten sie über den Kommunegedanken negativ. Wie in ihrer gesamten Semantik bewegen sich die Akteure 1871 in Raum der Französischen Revolution , besonders der Gemeindeverwaltung um 1792, sie hegten „einen fast mystischen Glauben an die natürlicher Berufung der ‚Stadt des Lichts‘ [lies: Lumières] zur Führerin im Kampfe um Demokratie und Sozialismus“. Andrerseits bedeutete die Losung der Kommune den Protest gegen den despotischen Zentralismus, der seit Napoleon I. Frankreich einschnürte, gegen die .Präfektenwirtschaft. In diesem Sinne hieß Kommune Selbstverwaltung der Gemeinde, eine Forderung, die von dem dringenden Klasseninteresse des Kleinbürgertums getragen war. Aber auch von diesem Gesichtspunkt aus hatte die Kommune einen umfassenderen Sinn. Sie war die Verwirklichung des föderalistischen Gedankens Proudhons: Gemeindeautonomie gegen den verruchten autoritären Staat“. 36
Der in London beheimatete korrespondierende Sekretär endet seinen (englischen) 2. Entwurf in deutscher Sprache: „Dem kämpfenden, arbeitenden, denkenden Paris, aufgerüttelt von der Begeisterung seiner geschichtlichen Initiative, dem Paris voller heroischer Wirklichkeit, dieser neuen Gesellschaft in ihren Geburtswehen, steht die alte Gesellschaft in Versailles gegenüber, die Welt des traditionellen Trugs und der schmutzigsten Lügen“. (17:597) Dadurch stiftet der Revolutionär Marx einen Mythos, eine wunderbare Kontrastzeichnung (Pandämonien;17:595) von Paris, der Hauptstadt des 19. Jahrhunderts – im Sinne Benjamins eine Phantasmagorie, aber: er weiß genau, wie ich versucht habe zu zeigen, was er tut. Da setze ich die Akzente anders als der mit meinem Onkel befreundeten Helmut Bock.
„Aus den Erscheinungsformen und vielfältigen Lebensäußerungen der Kommune abstrahierte Marx die Grundzüge des Staats und der Gesellschaft, die die Befreiung der arbeitenden Klassen von Unterdrückung und Ausbeutung bewirken konnten. […] Mit seiner Interpretation der Kommune als staatliche Ordnung zur Befreiung der ausgebeuteten und unterdrückten Klassen focht Marx auch einen Streit aus, den er innerhalb der Ersten Internationale gegen Proudhonisten und Bakunisten führte. Beide vertraten zwar die ökonomische Befreiung der Arbeitenden, negierten aber grundsätzlich die Notwendigkeit einer jeden Staatsgewalt. Es fragt sich, ob der daraus erwachsene Gegensatz in der Staatsfrage – oder ob vielmehr ein abstrakter und überhöhter Geschichtsoptimismus den Vordenker in London dazu verleitete, die sozialistische Bewusstheit der Kommunarden zu überschätzen. Mit anderen Worten: ob Marx die Pariser Revolutionäre weniger anhand ihrer objektiven Bedingungen und subjektiven Absichten als nach seinen eigenen, weitgreifenden Auffassungen von der sozialen Revolution beurteilte. Denn was er als eine durchaus mögliche Tendenz in der ‚Selbstregierung der Produzenten’ erkannt hatte, behandelte er nicht als den augenblicklichen und aktuellen Anspruch der arbeitenden Klassen auf ‚Basisdemokratie’ und ‚soziale Republik’ im Verteidigungskampf für den Erhalt der République la France, sondern als die sich bereits vollziehende neuartige Revolution, die unmittelbar zum Sozialismus führe. Schon den bürgerlich-demokratischen Machtwechsel des 4. September 1871 vom Kaisertum zur dritten Republik nannte er in gewagter Verallgemeinerung eine ‚Arbeiterrevolution’. (17:329)Von den etwas späteren Kommunarden behauptete er fälschlich, sie hätten ‚die Enteignung der Enteigner’ beabsichtigt und sogar mit voller Bewusstheit bereits ‚die Produktionsmittel, den Erdboden und das Kapital […], in Werkzeuge der freien und assoziierten Arbeit verwandelt’(17:342).
Marx ignorierte die Beziehungsvielfalt und Interessenverschiedenheit zwischen Arbeitern, Kleinbürgern, Intellektuellen im Kommunerat. Er überschätzte den dortigen Anteil und Einfluss tatsächlich sozialistischer Arbeiter, wertete sie in seinen Erwägungen zur Bündnispolitik bereits als die Führungsklasse für bürgerlichen Mittelstand und Bauernschaft. […] Der führende Analytiker der herrschenden Ökonomie der Gesellschaft verzichtete in seiner Adresse auf jede Reflexion des konkreten Entwicklungsstands des Kapitalismus in Frankreich und auch des Reifegrads der Pariser Lohnarbeiter bei ihrer Formierung zur sozialen Klasse. Er benutzte den Begriff ‚Arbeiterklasse’ nicht streng analytisch anhand ihrer aktuellen, noch stark beschränkten Entwicklung der sozial-ökonomischen Lage, sondern politisch und deklarativ. Dabei ließ er sich vom Fortschrittsglauben an eine Gesetzmäßigkeit leiten, die zweifellos und weltweit zu Sozialismus und Kommunismus führen werde. Die Arbeiterklasse habe ‚keine Ideale zu verwirklichen’, sie habe ‚nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt’ (17:343) hätten Er wagte eine Voraussage, die ihm als vollkommen sicher galt: ‚[…] Der Kampf muss aber und abermals ausbrechen, in stets wachsender Ausbreitung, und es kann kein Zweifel sein, wer der endliche Sieger sein wird – die wenigen Aneigner oder die ungeheure arbeitende Majorität. Und die französischen Arbeiter bilden nur die Vorhut des ganzen modernen Proletariats.’(17:361) Aus heutiger Sicht und Erfahrung ist dieser Gesetzmäßigkeitsglaube und der dadurch begründete Geschichtsoptimismus als problematisch zu bezeichnen“.37
Weder Räte noch neue An- oder Aufläufe proletarischer (Frauen)-Massen
Nun ist jedem unbenommen, der wie S. übt das Jonglieren mit drei Bällen zu erlernen – Kommune, Commune, Kommunismus – , dem Publikum seine ersten Gehversuche vorzuführen. Aber muss dabei so ein Aufwand getrieben werden, so ein Anhäufen von autoritativen Klassiker-Zitaten? Klassiker, von denen einige kanonisch für die DKP waren (sind?), wie Marx, Engels, Lenin, Luxemburg, Bebel, Ulbricht; andere eher weniger wie Trotzki…. Allein: Was würde ohne sie übrigbleiben von den 180 Seiten, eventuell ein Aufsatz in Disput, ein Artikel in der Jungen Welt. Und hat S. realisiert, dass im Parteiprogramm seiner Partei keineswegs irgendeine Klassiker-Exegese Voraussetzung für eine Mitgliedschaft ist? Man kann sich förmlich die Verachtung vorstellen, die der DKP-Funktionär S. 1993 gegenüber Michael Benjamin, dem Sprecher der Kommunistischen Plattform der PDS, verkündigt hätte, wenn er 20 Jahre später nach Parteiwechsel sich mit Lenins ‚Losschäumen‘ gegen Eduard Bernstein zwangsidentifiziert: „wobei man als aufrechter Marxist mit Bernstein nicht für einen Pfennig [äh, Cent soweit ist S. 2012 angekommen} Mitglied haben muss.“ (S. 33) Hätte er am 26. Juni 1993 in das Neue Deutschland gelesen, hätte er von Benjamin lesen können: „Es muß in der PDS möglich sein ,[…] sachlich, ohne Schaum vor dem Munde, ohne vorherige Entschuldigungen und allemal ohne die Befürchtung, parteiliche Mißbilligungen verpaßt zu bekommen, mit der gleichen Unbefangenheit zu diskutieren wie über Lassalle, Kautsky und Bernstein, Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann oder Gustav Noske.“38
In einem Satz: Für den 1. Anlauf besagt die Pariser Kommune nichts, kann mit Marx sowohl gegen jede Räteromantik Stellung bezogen werden als auch der sichere Gesichtspunkt einer notwendigen Niederlage gewonnen werden. „Die Verschwörung der herrschenden Klasse zum Umsturz der Revolution durch einen unter dem Schutz des fremden Eroberers geführten Blutbad…, gipfelte in dem Blutbad von Paris.“ (17:360) Genauso bei seinem 2. Anlauf, über den er – wie gesehen – er noch weniger Inhaltliches – was zweifellos eine Leistung – zu sagen weiß. Mit einer sehr zurückhaltenden Kritik bleibt er im Ungefähren (zuviel Zentralismus, von außen aufgezwungen), zu Stalins Gewaltherrschaft fällt ihm einzig ein, sich hinter Robert Steigerwald (DKP) zu verstecken, hinter einem Text von 2010: „Steigerwald, (der wohl zu Recht als einer der großen marxistischen Philosophen und Theoretiker der deutschen Linken nach 1945 betrachtet werden kann), … führt dann mit Blick auf die Schlußfolgerungen aus unserer [sic!] 1989er Niederlage aus: ‚Wir alle wissen, dass es in der Sowjetunion, nicht nur dort, schwerwiegende Verbrechen gegeben hat.[…] Eine der Bedingungen, die Verbrechen ermöglichten, (war) der Verzicht auf die Dreiteilung in einem großen Land mit unvermeidbarer Hierarchisierung des Sowjetssystems. Wenn im Sowjet die Einheit der Gewalten besteht, sich die gesetzgebende, vollziehende und juristische Gewalt in der Hand des gleichen Kollektivs … befinden, so werden autoritäre Staatsstruktur- und Willkürherrschaft normal'“ Fazit: „Das läuft auf die Trennung der Gewalten, der legislativen, exekutiven und juristischen eines sozialistischen Staates hinaus.“ ( S 162/3) Großartige Einsicht, ungefähr einhundert Jahre verspätet. Sie war von Anfang an die Grundauffassung der beiden Engels-Schüler, der beiden Sozialisten Kautsky und Bernstein, die sie nach der Oktoberrevolution 1917 zuspitzten und öffentlich gegen die Sowjetmacht kontinuierlich äußerten.39 Dies mißfällt S. und er überholt Steigerwald von links, mit nicht ungeschickter Verwendung einer politizistischen Negt-Stelle – ob er sie richtig versteht, mögen andere beurteilen – und er hofft, dass in seinen Zukunfts-Kommunen des 3. Anlaufs „diese Frage wieder relativieren und auflösen in die gegenüber heute qualitativ unvorstellbar gesteigerte Möglichkeit der Menschen, ihr Leben durch Entscheidungen in ihren Städten, Dörfern und Betrieben selbst in die Hand zu nehmen.“ (S 164)40
Ich bin entgeistert! Sohn gelangt in einer Hetzjagd durch die Geschichte von Niederlagen, die er sich als Geschichte von Räten schönschreiben will, zu dem Resultat: Von einem (1) genialisch-falschen Satz von Marx zu einer erfahrungsresistenten Wahnidee einer erneuten Aufhebung der Gewaltenteilung, die in der Aufklärung mittels einer Revolution der Denkart Montesquieu 1748 – l’esprit des loix – unsere politische Zivilisation bestimmt hat, die zuerst materialisiert wurde in der Amerikanischen Verfassung von 1787 und deren spätes Echo im Grundgesetz dort zu den elementarsten Fundamenten gehört. Zu seinen Fundamenten zählt was völlig anderes: Fundamentale Demokratie als Prozess mit revolutionärer Tiefe und dem Resultat einer Gesellschaft ohne Privateigentum, unter Dominanz des weiblichen Geschlechts; kurz: Revolution!41 Meine hilflose Frage: Ist Sohn denkfaul oder bloß denkunbegabt? Sind seine Vergleiche der 2 Anläufe nicht schlichte & schlechte Amateuranalogie (Markov)?42 Ist das Buch ridikül oder anmaßend oder beides? Oder überwiegt seine Sehnsucht nach dem kuscheligen 0,3% Ghetto seiner alten Partei, die retrofetischistisch gern Klassiker verbalradikal simplifizierte?
Jedenfalls ist das Ganze eine hohle Nuß, denn die erheblich bedeutenderen Erfahrungen namentlich seines 2. Anlaufs sind längst klarer und durchdachter formuliert worden. „Das Scheitern des Staatssozialismus hat sich in vielerlei Hinsicht manifestiert. […]l.) Trotz der rätesozialistischen Rhetorik gab es keine Demokratisierungsansätze. Die Vergesellschaftung blieb formal, die staatssozialistischen Gesellschaften waren (und sind) autoritär. 2.) Der Staatssozialismus brachte keine alternativen Entwicklungs- und Arbeitsmodelle hervor. Im Rahmen der planwirtschaftlichen Modernisierung wurde die ökologische Krise des Industrialismus noch verschärft. 3.) Dem Staatssozialismus gelang dank des zentralen Planungssystems zwar eine rasante nachholende Industrialisierung, er erwies sich aber als unfähig, den alltäglichen Konsum befriedigend zu regeln, und brachte außerhalb einiger Vorzeigebereiche wie Raumfahrt und Rüstungstechnik kaum Innovationen hervor“. 43
Ein im Irrgarten seiner Anläufe herumirrende Autor wie S. wird freilich ab und zu abdrehen, mit dem paradoxen Effekt, dass, weil sein Hauptweg völlig verholzt ist, mancher Nebenweg jenseits seiner Pseudoräte sich als gangbar erweisen könnte, würde er nur aufmerksam weiter verfolgt werden. Eine bunte Auswahl: Zinsloses Geld (S. hat, mal ein neuer Gedanke seit seiner DKP-Zeit, positiv Silvio Gesell für sich entdeckt, (112); Tauschringe und Regionalgeld wie der Chiemgauer mitsamt dem Populisator Lietär (111-114); Allmenderessourcen und die Nobelpreisträgerin für Wirtschaftswissenschaften Elinor Ostrom (134); besonders allerdings hat es ihm angetan der Irrpfad eines planwirtschaftlichen ‚Computersozialismus‘ von C&C44, – „an der Uni Glasgow kann ein linker Mann (sic) vermutlich nicht unterrichten, wenn er stockblöde ist.“ (S 99) Dafür bin ich meinerseits stockblöde, – bin ja auch keine Professorin -, um C&C in der Fassung S. zu verstehen: Konsum wird über geplante Marktalgorithmen gesteuert von einer zentralen Marketingbehörde (ZMB) – „Aber es liegt auf der Hand: Diese ZMB muss dann auch eine Weltmarketingbehörde werden -“ (S 101). Wie hieß es im JW Artikel (23.01.) zu schön: Das bestimmende dieses Prozesses ist die Revolution und nicht die Sozialreform (auch S 158). Geht es mir allein so, das mich diese Revolution aus dem Computer mitsamt der Abschaffung bürgerlich-antiquierter Gewaltenteilung, was unter dem Orwellschen Terminus ‚direkte Demokratie‘ bei C&C und Sohn versteckt lauert, abschreckt, und ich lieber eine niedliche Sozialreform mit Regionalwährungen und Tauschringen haben möchte? Sohn ist erwartungsgemäß weder zu erschrecken noch zum Nachdenken zu bewegen. „Nun sind wir MarxistInnen keine solche Weicheier, dass wir uns nach zwei vergeblichen Anläufen gleich in die Kiste legen und ruhig zuhören, wie sie zugenagelt wird.“ (S 94) Ach, wie beruhigend, dass ich keine Marxistin bin…!
1Er ist außerdem mehr als skeptisch gegenüber den Möglichkeiten linker Politik in Parlamenten: […], daß es möglich ist, diese beginnende Linksverschiebung im Massenbewußtsein bis ins höchste nationale Parlament zu tragen. Nun fragt Brecht zu Recht: Die Macht geht vom Volke aus, aber wo geht sie hin? Die Frage steht auch für die Linkspartei. Vierundfünfzig von ihnen sitzen jetzt vor den politisch üppigsten Fleischtöpfen der Republik, die so reichlich gefüllt sind, daß jeder von ihnen – Fraktions- und Stiftungsgelder eingerechnet – noch neun andere mitfuttern lassen kann und trotzdem gut lebt. Diese 500 sind potentiell bestochene und korrumpierte Linke“ Sohn in:. Weißenseer Blätter 3/2005. – Jetzt 2012 nimmt er sich für seine Skepsis Lenin/Luxemburg als Zeugen (S 45).
2Vgl. Alfred Kosing. Wörterbuch der Marxistisch-Leninistischen Philosophie. Berlin 1989, S. 484 – eine für die DKP-Mitglieder verbindliche Auffassung.
3Wörterbuch, S. 214. S. liebt diese Sorte Elementardialektik: „…liegt der Umschlag zwischen beiden Polen [Dezentralität und Zentralismus] zeitlich dichter beieinander. Hegel und ihn ausführend Engels verdanken wir den Nachweis, dass in Natur und Gesellschaft vielfach Prozesse sich langsam mit Quantitäten anreichern, bevor sie dann innerhalb kurzer Zeit in eine neue Qualität umschlagen. Wir alle kennen das, weil wir schon mal mit Wasser gekocht haben. Wir erhitzen das Wasser von 30 auf 40 Grad und es ändert seinen Aggregatzustand nicht. Wir erhitzen es von 40 auf 50 Grad und es bleibt weiter im Topf – und so weiter, bis wir uns der Grenze von 90 auf 100 Grad nähern, die sich quantitativ nicht von der zwischen 30 und 40 Grad unterscheidet. Bei diesem Schritt aber ändert sich alles: Das Wasser fängt an zu brodeln und geht schließlich in einen neuen Aggregatzustand – dem Wasserdampf über, also in eine neue Qualität. Wenn wir nicht aufpassen, ist unser schönes Teewasser in der ganzen Küche verteilt, weil wir das Gesetz des Umschlags von Quantität in Qualität nicht beachtet haben“. (S 158) Ein weiterer Pol: Reform und Revolution… .
4Mit seinem Schlachtruf Arbeitszeitverkürzung will Sohn als glühender Gewerkschaftler gewiß den Kampf um die 35 Stundenwoche – mit vollem Lohnausgleich – in den goldenen Jahren des Rheinischen Kapitalismus reanimieren, denn heute ist in der Arbeitnehmerlobby der alte Schlachtruf kaum zu hören. Indessen: Die 35-Stunden-Forderung verfestigte die Positionen das wohlsaturierte Arbeitnehmerpatriarchat (Neusüß; bei Lenin: Arbeiteraristokratie), dem die Frauen in den Niedriglohngruppen, oder in den Betrieben mit geringem Organisationsgrad allerhöchstens Sonntagsreden wert ist, und können nicht – klingt es bei Männern bisweilen zynisch, die Frauen selbst dazu, sich in Teilzeitarbeit herumzutummeln? „Der ‚Kampf‘ um die 35 Stunden-Woche verfestigt nur noch einmal das alte, zurückgebliebene Bewußstein.“ So das Urteil von Christel Neusüß: Die Kopfgeburten der Arbeiterbewegung oder die Genossin Luxemburg bringt alles durcheinander. Hamburg; Zürich: Rasch u. Röhring 1985, bes. S. 217-223. S. lobt – für mich überraschend – dieses Buch und die Autorin als Feministin. (S 49). Die auf die achtziger Jahre bezogenen Aussagen, also die Hälfte des Buches, hat er wohl übersehen, oder zu rasch geblättert.
5Meine gleichzeitige Lektüre ist die anregende Monographie von Hanna Meißner: Judith Butler. Stuttgart: Reclam 2012, hier: 28ff. mit der wesentlichen Quelle Luce Irigaray.
6aus Yves Lenoir, Disput 5/2011. – Nach der konterrevolutionären Niederschlagung der Kommune wurden von der Bourgeoisie schwerlich Pensionen bezahlt, sondern Frauen und Kinder von Kommunarden wurden massenhaft ermordet.
7Brief an das Hermann Jung, einem Führungsmitglied der Internationalen Arbeiter-Assoziation (vgl. MEW 17:362) vom 23. April 1871. In: Karl Marx/Friedrich Engels: Tagebuch der Kommune. Frankfurt a. M.: Verlag Marxistische Blätter 1971, S. 178/9. Zu ihr (1851- etwa 1910) und die Frauenbewegung, siehe auch: Jean Villain: Die Grossen 72 Tage. Berlin (DDR): Volk u. Welt 1975, S. 239f; 201f.; 291f.
81789, 1830, 1848 = bourgeoise, absteigende Linie im Zyklus; dagegen „die ‚plebejisch-proletarische Linie der Volksbewegung im Zyklus, markiert durch die äußerste Linke von 1792 bis 1794 – Babeuf – Lyon – Juni 1848 – Septemberrevolution 1870 – Kommune“ Vgl. Werner Loch/Walter Markov: Die französischen Revolutionen zwischen 1789 und 1871 im Lichte von Lenins Auffassungen über den Revolutionszyklus. In: Manfred Kossok: Studien zur vergleichenden Revolutionsgeschichte 1500-1917. Berlin: Akademie Verlag 1974, S. 75. Zwei Ergänzungen: Frauen im der FR, so 1789: Susanne Petersen: Marktweiber und Amazonen. Köln: Pahl-Rugenstein 1987; 1831 der große Aufstand des frühen Proletariats (30.000 Lohnabhängige) in Lyon, siehe Helmut Bock: Unvergessen.: Lyon 1831. In: Utopie kreativ. 2001, S. 965-976. Grundmotiv: „Zwischen dem Alltag der Revolution und der Revolution des Alltags, die ineinander verkringelten und doch wesenhaft verschieden blieben, bewegte sich eine Bilderfolge, in der das Volk, der ‚peuble‘, Handlung trug und gleichzeitig erlitt. Obwohl die Vielen im Schatten das selbst oft gar nicht wußten, noch in ihrer Mehrheit groß davon Notiz nehmen wollten, gehörten sie…zu dem von Hegel so bewunderten herrlichen Sonnenaufgang der Französischen Revolution unverzichtbar dazu.“ Walter Markov, Vorwort in: Susanne Petersen: Die grosse Revolution und die kleinen Leute. Köln: Pahl-Rugenstein 1988, S. 12.
9Ihre Biographie: Alexandra Kollontai: Ich habe viele Leben gelebt. Berlin (DDR): Dietz 1987 und diess.: Mein Leben in der Diplomatie 1922-1945. Berlin: Dietz 2003; Mit der Herausgeberin Monika Israel einer kleineren Schrift, Alexandra Kollontai: Die neue Moral und die Arbeiterklasse (Int. Arbeiter Bibl. 1920), Neudruck Münster: Verlag Frauenpolitik, behauptet S., mit der NEP begänne die Frauenfeindlichkeit in der jungen Sowjetunion (S 69).
10Da ein Aufsatz von ihr für dieses schmächtige Resultat genügt hätte, – etwa: Heide Göttner-Abendroth: Matriarchat. Forschung und Zukunftsvision in: Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Wiesbaden: VS-Verl. 2010, S. 23-29 – kann die Sohnsche Nennung des umfangreichen Werks als gut gemeinte Reklame durchgehen. Vgl. Heide Göttner-Abendroth: Matriarchat 1 (1989). Bd. 2.1 (1999); Bd. 3 (2000). Viel hätte es gebracht, auf S. Scheinprobleme hin sich die Dokumentation des 1. Weltkongresses der Matriarchatsforschung 2003 anzuschauen (Winzer: Ed.. Haiga 2006); hätte….
11In einer idealistischen Umstülpung einer Hegelschen Denkfigur spekuliert Marx: „ Die bürgerlichen Produktionsverhältnisse sind die letzte antagonistische Form des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, antagonistisch nicht im Sinn von individuellem Antagonismus, sondern eines aus den gesellschaftlichen Lebensbedingungen der Individuen hervorwachsenden Antagonismus, aber die im Schoß der bürgerlichen Gesellschaft sich entwickelnden Produktivkräfte schaffen zugleich die materiellen Bedingungen zur Lösung dieses Antagonismus. Mit dieser Gesellschaftsformation schließt daher die Vorgeschichte der menschlichen Gesellschaft ab“. MEW 13: 9 “ XXXX In der Koexistenz-Postille (Christen und PDSler) macht S. daraus eine Glaubensformel: Weißenseer Blätter 3/2005. Noch gläubiger klingt es in einem mit dem DKP-Sprecher Stehr zusammen geschriebenen Artikel – in seiner Funktion als Mitglied der DKP-Programmkommission: Manfred Sohn/Heinz Stehr: Programmentwicklung heute. In: Heinz Stehr/Rolf Priemer (Hrsg.): 25 Jahre DKP. Eine Geschichte ohne Ende. Essen: neue Impulse Verlag 1993, S. 9-20. „Dieser Gedanke [Vorgeschichte]durchzieht die gesamte sozialistische Bewegung seit Marx und Engels wie ein roter Faden: Der Sozialismus ist die erste von den Menschen bewußt gestaltete Gesellschaft und damit der Beginn der eigentlichen menschlichen Geschichte. […] Er ist die Überwindung jenes elenden Zustands, in dem der einzelne den gesellschaftlichen Entwicklungen fassungs- und scheinbar wirkungslos gegenübersteht, in dem der von ihm mitgeschaffene Produktionsapparat ihm nicht hilft, das Leben zu erleichtern, sondern ihn durch teuflische Kriegsmaschinen, die um den Erdball toben oder durch die chaotische Anhäufung unkontrollierbarer chemischer Verbindungen in der Existenz bedroht. Der Sozialismus ist die Gesellschaft, in der der Zauberlehrling der Gegenwart nicht mehr im Strudel der von ihm selbst geschaffenen Mächte unterzugehen droht. Eine solche Gesellschaft zu schaffen, ist das kühnste und wichtigste Projekt, welches sich die Menschheit bislang konkret auf die Fahnen geschrieben hat. Diejenigen, die uns einreden wollen, das Projekt ginge nicht, haben unrecht. Das Projekt ist möglich und zugleich notwendiger denn je. Seine Möglichkeit zu bestreiten, hieße beim jetzigen Stand von Wissenschaft und Technik nicht nur das Abgleiten ganzer Völker in die Barbarei zuzulassen, sondern den drohenden Selbstmord der Menschheit schulterzuckend in Kauf zu nehmen. Allerdings haben vor allem uns europäischen Kommunistinnen und Kommunisten die drei finsteren Jahre von 1989 bis 1991 eingebläut, daß unser Zeithorizont für die Schaffung dieses größten aller menschlichen Projekte reichlich naiv war. Wir wissen außer den Hauptfehlern der nun untergegangenen Gesellschaft vor allem, daß Sozialismus, wie jedes große Menschenwerk, nur in mehreren Anläufen zu schaffen ist“. S. 9) Schlussgebet: „Wir sind eben potentiell eine ganze historische Etappe eines großen sozialistischen Experiments weiter und damit erfahrener als Marx und Lenin[…] Wenn unsere Annahmen zutreffen, daß die kapitalistische Widersprüche und damit die Gesetze des Klassenkampfes früher oder später Millionen Menschen zu einem erneuten Ausbruchsversuch aus dem kapitalistischen System treiben werden…. (S. 20). In diesem Texten des frühen S. sind Frauen als Trägerinnen der Geschichte noch nicht im Visier!
12Selbstverliebt meint er, „man sollte den Fraktionsvorsitzenden für das Zulassen dieses monströsen Titels erschlagen“ (ebd.); neckisch, weil er – wissend, dass das jede weiß! – ja dieser Vorsitzende ist.
13Georg Fülberth: KPD und DKP. 1945-1990. Heilbronn: Distel 1990; DKP Abs. II. Ursachen z.B. 1) Glaubensbindung an SU (Sohns 2. Anlauf), 2) keinen wirksamen Anschluss an soziale Bewegungen (Umwelt /AKW!/ Feminismus) 3) hierarchische Organisationsstruktur: „Die DKP als Organisation hatte nur reduzierte Möglichkeiten, gesellschaftliche Informationen aufzunehmen.“ (149).
14Karl Korsch: Wandlungen des Problems der politischen Arbeiterräte in Deutschland. (1921) In: Ders.: Politische Texte. Frankfurt am Main/Köln: Europäische Verlagsanstalt 1974, S. 23-32 XXX 24 . (kleine Randnotiz: Sohns Frauen waren durchaus vorhanden: Hausfrauenräte (23); relevanter blieben aber die Geheimräte (Prof. Tönnies, Prof. Sombart) , massenhafter die Studienräte, in Österreich die Hofräte und ihnen verwandt: die Betriebsräte!)
15Richard Müller: Eine Geschichte der Novemberrevolution. [(Neudruck 3 Bd. in Einem] Berlin: Die Buchmacherei 2011. Ralf Hoffrogge: Richard Müller – der Mann hinter der Novemberrevolution. Berlin: Dietz 2008. Vgl. zu beiden Büchern die instruktive Kurzcharakteristik von Christoph Jünke, www.workerscontrol.net/de/aktivisten/ralf-hoffrogge-richard-mueller-der-mann-hinter-der-novemberrevolution. Das politisch hellsichtigste Buch zu München bleibt Paul Fröhlich: Die bayrische Räterepublik. (Leipzig 1920]. Nachdruck: Frankfurt am Main: Neue Kritik 1971.- Mir liegen Arbeitspapiere aus einer Diskussion um das Hofrogge Buch vor. Im Sohnschen Opportunismus ist dort die Rede von ArbeiterInnnen- und SoldatInnenräte- eine niedliche Geschichtsfälschung; im Stalinismus hat man Trotzki aus Photos wegretuschiert, jetzt löscht man aus, dass das geliebte Subjekt (Arbeiter) 1918 schwerlich ein Bewusstsein von Gender hatte, selbst bei der Ausnahme Luxemburg gibt es ständig Rückfälle (vgl. Neusüß, a.a.O., z.B. S. 304f.)
16Vgl. Helmut Bock/Karl-Heinz Gräfe/Wladislaw Hedeler: Das Menetekel Kronstadt 1921. Pankower Vorträge H. 161 Berlin: Helle Panke 2011. Bei Gräfe kommt Kollontai ausführlich zu Wort mit ihrer Kampfschrift „W.K.: Was bedeutet die „Arbeiter-Opposition‘ 1921 (www.marxists.org/deutsch/archiv/kollontai/1921/opposition/arbeiter.htm.) Zu Kronstadt außerdem: vgl. Klaus Gietinger: Die Kommune von Kronstadt. Berlin: Die Buchmacherei 2011 (mit Dokumentation von Leserbriefen aus der Jungen Welt)
17Paul Levi: Zwischen Spartakus und Sozialdemokratie. Schriften, Aufsätze, Reden und Briefe. Frankfurt a.M. /Wien (EVA) 1969, S. 149
18Michael R. Krätke: Paul Levi – eine Idealfigur des Linkssozialismus? In: Klaus Kinner (Hrsg.): Die Linke – Erbe und Tradition. Teil 2, Wurzeln des Linkssozialismus, Berlin: Dietz 2010. S. 60/61 [der andere Aufsatz ist von Helmut Arndt]
19Sich dabei frech dabei auf den Lenin bis 1917 beziehend. Vgl. Korsch, Texte, a.a.O. S, 133; Artikel Der Pariser Kommuneaufstand 1871 – die russische Revolution 1926, S. 129-135
20Zit. nach: Heinz-Gerhard Haupt, Karin Hausen: Die Pariser Kommune. Erfolg und Scheitern einer Revolution. Frankfurt/NY: Campus 1979,S. 210. [Das unentbehrliche Standardwerk!] Auch: H.P.O. Lissagaray: Der Pariser Kommune-Aufstand. Mit einem Vorwort von K.H. Wolf. Berlin: Soziologische Verlagsanstalt 1931, S. 23.
21Wer, wie mein Onkel seit Mitte der 60er Jahre die Klassiker-Interpretationen kennen kann, sieht heutzutage weithin eine Regression in solchem Lesevermögen. Weil die Hochschullehrer damals sich noch nicht links gefühlt hatten, besonders im Feld der Lenin-Forschung überzeugte Antikommunisten waren, musste mit handwerklich gekonnten Argumenten dagegen gehalten werden. So im Falle einer brillanten Berliner Dissertation im Umfeld Lieber, Werner Philipp, Richard Löwenthal von Klaus Meschkat: Die Pariser Kommune von 1871 im Spiegel der sowjetischen Geschichtsschreibung. Berlin [in Kommission] Wiesbaden: Harrassowitz 1965. Wichtig ist seine Untersuchung der russischen Kommuneinterpretationen vor der Oktoberrevolution; speziell die Differenz von Lenins Kommunevorstellung bis 1917; unausgeschöpft ist seine Bakunin-Diskussion (41-50), die heute dank erheblich verbesserter Quellenkenntnis noch aufschlußreicher wäre. Vgl. Michael Bakunin: Konflikt mit Marx. Ausgew. Werke (Hrsg.: Wolfgang Eckhardt) Bd. 6/2, Konflikt mit Marx ab 1871. Berlin: Karin Kramer 2011.
22Erster Entwurf zum Bürgerkrieg in Frankreich, geschrieben April/Mai 1871 = MEW 17: 492-571, und: Zweiter Entwurf 17: 572-600 sowie Fragmente 17:600-610. Mein Onkel erzählte mir, dass 1968/1969 die Differenz der Entwürfe in den SDS-Zirkeln in Hamburg (Karl-Heinz Roth) und Berlin (um Bernd Rabehl) artistische Interpretationsversuche provozierten: es ging um eine radikale Verschärfung der Horkheimerschen Theorie des Autoritären Staates. Siehe: Hans- Jürgen Krahl: Zur Geschichtsphilosophie des autoritären Staates, in ders.: Konstitution und Klassenkampf. 5. Aufl. Frankfurt a.M. : Neue Kritik 2008, S. 208-226. Krahl schließt mit Horkheimer: „Die Umwälzung, die der Herrschaft ein Ende macht, reicht so weit wie der Wille der Befreiten. Jede Resignation ist schon der Rückfall in die Vorgeschichte.“ (226).
23Siehe: Wolfgang Schieder: Karl Marx als Politiker. München: Piper 1991, S. 87. Eine ausgewogene Schilderung der Rolle des korrespondierende Sekretärs Marx und seines Kosekretärs (für Belgien und Spanien), Engels. Lenin war die Warnung bekannt. W.I. Lenin: Über die Pariser Kommune. Berlin (DDR): Dietz Verlag 1974, S. 34. Sohn hätte es sich leichter machen können, wenn er diese Sammlung, die seit 1931 (Wien/Berlin; Kl. Lenin-Bibl. 5) ständig nachgedruckt wird, zu Rate gezogen hätte; bis auf eine Ausnahme (S 33, Anm. 21) sind dort alle Zitate aus Marx und Lenin enthalten, die er aus verschiedenen Ausgaben zusammenkratzt.
24Zit. nach Tagebuch der Kommune, a.a.O. S. 96/97. – 3 Tage später reagiert Kugelmann unbeeindruckt auf den Brief von Marx. „Die Niederlage wird die Arbeiter wieder für längere Zeit seiner Führer berauben, ein nicht zu unterschätzendes Unglück.“ (S. 122)
25Zit. nach Tagebuch der Kommune (ebd.), S. 119 (= MEW 33: 205/6). Die vorzügliche Textsammlung enthält, wie eben zitiert, u.a. die wichtigen Briefe von Kugelmann, dessen politischer Realitätssinn dem Theoretiker Marx entgegen kommt, nicht aber dem Repräsentanten der Internationalen Marx. – Die Verzögerung des Druckes vom Bürgerkrieg wird aus den Protokollen der Generalratssitzungen sehr schön sichtbar: „Bürger Engels berichtete, daß die Adresse wegen der fortdauernden Krankheit von Bürger Marx noch nicht fertig sei. (16.5; S. 241).
26Eine der stärksten Seiten Lenins war die hohe Sensibilität seiner Feindbeobachtung, darin Marx und Engels kongenial folgend. Die Forschung weist daraufhin, dass die Absichten der herrschenden Klasse, deren Repräsentant Thiers, dem Antihelden der Bürgerkriegs-Schriften, unbedingt in eine Realgeschichte der Kommune gehört (Haupt/Hausen mit Hinweis auf neueste Forschungsergebnisse bei Huneke). Allerdings ist der Reichtum der Marxschen Beobachtungen Zweiter Ordnung bei Haupt/Hausen aus der Perspektive der konterrevolutionären Akteure unzureichend ausgeschöpft worden.
27P.L. Lavrov: Die Pariser Kommune vom 18.März 1871. Vorwort von Klaus Meschkat. Berlin: Wagenbach 1971, S. 140/1. Und umgekehrt: Ein starkes Motiv der Weigerung der Nationalgarde sich entwaffnen zu lassen, war der patriotische Elan, die Republik zu verteidigen, das andere, mindestens genauso starke war der Wille vor Hunger geschützt zu bleiben, denn: „die Nationalgarde war eine Versorgungsanstalt für den größten Teil der hauptstädtischen Bevölkerung“ (Grossmann/Grünberg, a.a.O., Art. Die Kommune von Paris, S. 189-193), S. 190).
28Mein Onkel hat die seltene Ausgabe: N. Lenin: Staat und Revolution. Politische Aktions-Bibliothek 4. Berlin-Wilmersdorf: Oktober 1918, der er aber nicht rausrückt, daher die Standardausgabe: Lenin Werke 25, S.393-507. Dieser transparente Text, der vornehmlich eine produktive Montage ist, wird zu oft positivistisch gelesen: affirmativ bei Sohn (S 32ff.), kritisch bei Ruge. Vgl. Wolfgang Ruge: Lenin. Vorgänger Stalins. Berlin: Matthes & Seitz 2010, S. 108-112. Bei Ruge verständlich, weil seine intellektuelle Sozialisation in der russischen Emigration eine Kenntnis des westlichen Marxismus ausschloß. – Ganz anders Adorno, Brief an Benjamin: „Daß die wenigen Sätze über die Desintegration des Proletariats als ‚Masse‘ zu dem tiefsten und mächtigsten an politischer Theorie zählen, das mir begegnet bin, seit ich Staat und Revolution las.“ Theodor W. Adorno/ Walter Benjamin: Briefwechsel. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1995, S. 175.
29Interessanterweise benutzt Marx diesen Begriff in Bürgerkrieg nicht, obwohl er ihn seit 1852 (Brief an Weydemeyer 5. März) über ihn verfügt. Er ist dort ein Kürzel für eine geschichtsphilosophische Spekulation; realpolitisch ein leeres Zeichen, jedoch kontextualisiert als Reaktionsbildung beim Durchdenken des Staatsstreichs von Louis Bonaparte, einem Diktator, der sich dann durch eine Volksabstimmung am 20./21.12.1851 mit gewaltiger Mehrheit (7,5 Mill. Befürworter gegen 640.000 Neinstimmen) demokratisch legitimiert. Engels erneuert ihn 1891 in seinem Vorwort zur Neuausgabe des Bürgerkriegs, die Lenin genau studiert hat. „Der deutsche Philister ist neuerdings wieder in heilsamen Schrecken geraten bei dem Wort: Diktatur des Proletariats. Nun gut, ihr Herren, wollt ihr wissen, wie diese Diktatur aussieht? Seht Euch die Pariser Kommune an. Das war die Diktatur des Proletariats.“ (MEW 22:199). Vermutlich, weil Lenin die sinnfällige Rhetorik in dieser Schlußpassage instinktiv bemerkt, die das leere Zeichen gerade nicht politisch füllt, sondern eine ironische Volte gegen die Kommunistenangst ist, die seit der Kommune Marx bzw. der Internationalen die geheime Anführerschaft von Umstürzen unterstellt, verzichtet er in Staat und Revolution bei seiner Darlegung der Engelsschen Einleitung auf den leichten Trumpf, seinen Lieblingsbegriff mit einem wörtlichen Zitat zu edeln. (vgl. Lenin Kommune, S.122-128)
30Niklas Luhmann: Die Wirtschaft der Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp 1994. Dazu Manfred Lauermann: Marx als Wirtschaftssoziologe. Eine Problemskizze. In: Camilla Warnke/ Gerhard Huber (Hrsg.): Die ökonomische Theorie von Marx – was bleibt? Reflexionen nach dem Ende des europäischen Kommunismus. Marburg: Metropolis, 1998: 193-218.
31Korsch, Texte, a.a.O. S. 52. Die Differenz, der späte Marx als wissenschaftlicher Strukturalist vs. dem frühen Marx als Radikaldemokrat im Horizont des Objektiven Idealismus (Kant und Folgende), wird gültig aufgezeigt von Louis Althusser: Für Marx [1965]. Berlin: Suhrkamp 2011; unübertroffen für den Komplex Klassen, für die Realabstraktion der Begriffsbildung, bleibt: Michael Mauke: Die Klassentheorie von Marx und Engels. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1970
32Definition von Marx: „Die Kommunalrevolution als Vertreterin aller Klassen der Gesellschaft, die nicht von fremder Arbeit“ leben“. (17:553)
33Haupt/Hausen, a.a.O., formulieren schlüssig: „Ebenso wie im Bereich der Maßnahmen gab es auch in Ideologie, Programmatik und Symbolik Formen und Inhalte, die zwar den Interessen, Erinnerungen und Hoffnungen von republikanischen Kleinbürgern Rechnung trugen, aber die Durchsetzung neuer gesellschaftsverändernder Vorstellungen nicht blockierten. Nimmt man Maßnahmen und Ideologien zusammen, so war die Pariser Kommune eine Revolution, die proletarische Interessen im Konfliktfall privilegierte und für diese auch eine neue Terminologie benutzte. Zugleich war sie eingebettet in eine breitere republikanische Bewegung und wurde politisch von der Notwendigkeit geprägt, unter Bürgern und Kleinbürgern Anhänger zu werben“. (S. 154).
34Entzückend! würde Kojak ausrufen. Halbbildung ist auch eine Bildung. 40 Jahre vor der Commune spricht Hegel in seiner Rechtsphilosophie ($ 290) in genauem Begriffssinn von Kommune als Selbstverwaltung. S. , bemüht ein neueres Schülerlexikon und verliest sich im Eintrag. Sein Communicare kommt von Communicio / Communicatio = Mitteilung machen (Lat-deutsch Ingerslev 1867). Richtig ist: „Kommunismus vom lateinischen communitas, gebildet aus communis = gemeinschaftlich“. Art. Sozialismus und Kommunismus in: Henryk Grossmann/Carl Grünberg: Anarchismus, Bolschewismus, Sozialismus. Frankfurt am Main: Europäische Verlagsanstalt 1971, S. 195. – Die Realgeschichte der städtische Kommune als revolutionäres Produkt der frühen Neuzeit seit dem 13. Jahrhundert stellt Weber vor unter dem wagemutigen Begriff der „Plebejerstadt“, er kombiniert am Fall der italienischen Städte popolo (= Nicht-Adel) mit Wahlämtern der Kommune. „Er war nicht nur ein ökonomischer, sondern ein politischer Begriff“. Max Weber: Die Stadt. Tübingen: Mohr Siebeck 2000, S. 58.
35Villian, a.a.O. S. 164. Ein Anarchist urteilt überscharf, aber im Kern zutreffend: „Die Commune war nicht imstande sozialistisch zu handeln, weil zur Zeit des Ausbruches der Revolution vom 18. März einer tiefen Erkenntnis vom Wesen des Sozialismus und seiner Durchführung bei einer Minderheit bewusster Revolutionäre ein gefühlsmässig sozialistisches, aber doch sehr unklares, unselbständiges Bewusstsein der revolutionären Masse gegenüberstand.“ Heinrich Koechlin: Die Pariser Commune von 1871 im Bewusstsein ihrer Anhänger. Basel: Don Quichotte Verlag 1950, S. 166. Lenin, wie nicht selten, mit anarchistischen Urteilen übereinstimmend bei auffällig rhetorischer Distanz, notiert ultrakurz: „Negativer Seiten der Kommune: mangelndes Bewußtsein (Proudhonismus und Blanquismus), mangelnde Organisation [bei der Minderheit], Hineinspielen nationalistischer Elemente [bei der Mehrheit] , (Kommune, S. 26). Aber, sonst wäre es nicht Lenin: „Der revolutionäre Instinkt der Arbeiterklasse bricht sich Bahn trotz falscher Theorien“ (30). Lissagaray, der für die Minderheit sprach, schreibt: “ Die Anhänger der Kommune, die Tapferen aus den Laufgräben, den Forts und aus der Schlacht erfuhren, daß es in dem Augenblick, da Versailles alle seine Pläne aufdeckte, im Stadthaus eine Minderheit gab“ (zit. Villain 213). „Minderheit“ meint hier, innerhalb derjenigen, die Koechlin um Unterschied zur Masse, Minderheit nennt, gab es in der Führung 45 & 25 Ratsmitglieder (Internationalisten; rechte Proudhonisten), bis am 16.Mai 22 Mitglieder, darunter fast alle Internationalisten ihr Mandat niederlegten. (Villain 213). Dass Lenin je zurückgetreten wäre, statt eine Mehrheit zu zersetzen, zu sabotieren oder umzudrehen, ist nicht vorstellbar.
36Wolf, im Vorwort Lissagaray, Aufstand, a.a.O., S. 18. Zum Rückgriff auf die französische Geschichte seit 1789 vgl. Haupt/Hansen Kommune, a.a.O., S. 152ff. Augenfällig ist, dass alle Dokumente und Anschläge der Kommune, z.B. der Wahlaufruf für den Rat vom 10.April 1871 über-/unterschrieben sind mit: République Francaise. Liberté, Égalité, Fraternité! (z.B. Villain, S. nach 157)
37Helmut Bock: Die Pariser Kommune 1871. Erscheinungsform und Lebensäußerungen der Kommune. Pankower Vorträge 162. Berlin: Helle Panke 2011. Da mein Onkel dieses Heft verkramt hat, zitiere ich aus dem Internet www.helle-panke.de/article/894.heft-162-die-pariser-kommune-1871.html. Das Lieblingszitat meines Onkels zur Kommune ist: „Die Minorität [die 22 im Kommune-Rat], die – mit wenigen Ausnahmen – die klarsten Köpfe der Kommune umfaßte, konnte sich niemals ein wahres Bild der Situation verschaffen, sie wollte niemals begreifen, daß die Kommune nichts andres war als eine Barrikade“. (Lissagaray, a.a.O. S. 244).
38Erneut in: M.B. Das ganze Erbe oder die schlechtere Hälfte. In: Gesine Lötzsch (Hrsg.) Alles auf den Prüfstand! Berlin: Neues Deutschland 2011 [Vgl. dazu auch den Essay zu ‚Lötzsch und der Kommunismus‘ von Manfred Lauermann, hier in Potemkin 2011]
39Till Schelz-Brandenburg: Eduard Bernstein und Karl Kautsky: Entstehung und Wandel des sozialdemokratischen Parteimarxismus im Spiegel ihrer Korrespondenz.. 1879-1932. Köln: Böhlau 1992
40Ich habe dabei nicht übersehen, dass Sohn/Steigerwald/Negt einen wirkungsmächtigen Satz aus Marx Bürgerkrieg im Sinn haben (S zitiert ihn S 160) „Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zur gleichen Zeit.“ (17:339) Da hat der Hegelianer Marx die Dialektik vergessen und substanzmetaphysisch die Komplexität arg verkürzt reduziert! Drei Hinweise: 1. „sollte sein“: eben Soll – eine ganze Druckseite Solls (17:596), nach Hegel eine mindere Seinsform; nichts davon wurde in der Kommune Realität (Haupt/Hausen, Kommune, Abs. 4, S. 163-183). 2. Marx hat keine erfahrungsgesättigte Vorstellung von ‚Parlamentarismus‘, einer parlamentarischen Körperschaft (typisch 17:541/2); unbegreiflicher Verzicht auf Analyse der Vereinigten Staaten, obschon seit 1833 Tocquevilles tiefgründigen Untersuchung über die amerikanischen Demokratie verfügbar bar und für beide Klassiker der Autor nicht unbekannt war. Wäre ihm der heutige vertraut, würde er sein Diktum „dekonstruieren, deabstraktifizieren“, eben gehaltvoll konkretisieren müssen – was allerdings in den dieser Aussage entsprechende Vor-Entwürfen bereits ein wenig zu spüren ist (17:544 & 591)- 3. In marxistisch- leninistischer Tradition ist die Marxsche Aussage natürlich voll zu vertreten und zu entfalten, wie glanzvoll der DDR-Staatsphilosoph Polak beweisen kann. Leider jedoch muss dann das Recht insgesamt, die Rechtsform negiert werden. „Im Recht findet die qualitative Differenz zwischen der politischen Macht der Bourgeoisie und der des Proletariats ihren schärfsten Ausdruck“. Logisch-historischer Gegenbegriff zum Parteienparlament ist für Polak positiv und geschichtsmächtig die Diktatur des Proletariats! Karl Polak: Zur Dialektik in der Staatslehre. Berlin (DDR): Akademie-Verlag 1963, S. 39; im Abschnitt „Die Pariser Kommune“ des Aufsatzes: Die Staatsfrage im ‚Achtzehnten Brumaire‘.
41Manfred Sohn: Fundamentale Demokratie. Junge Welt 23.01.2012: Gedankliche utopischer Höhepunkt unter der Überschrift Notwendige Revolution: „Unser gegenwärtiger Kampf hat als Fluchtpunkt eine Gesellschaft ohne Privateigentum an Grund und Boden und Produktionsmitteln, in deren Mittelpunkt die Reproduktionsarbeit als das Zentrum des menschlichen Lebens, seines Erhalts und seiner beständigen Wiedererschaffung steht und die sich daher vermutlich kulturell um das weibliche als demjenigen der beiden Geschlechter gruppiert, das für diesen Arbeitsbereich zumindest in der wichtigen unmittelbaren Startphase nun einmal die biologisch größere Bedeutung hat [sic!]. In diesem Prozeß verweben sich beständig, wie Luxemburg gegen Bernstein betont, Sozialreform und Revolution mit dem Ergebnis einer letztlich revolutionären Umwälzung aller Verhältnisse, in denen der Mensch ein unterdrücktes, also ungleich gemachtes Wesen ist. Im neuen Programm der Partei Die Linke ist das abgebildet mit dem Satz, daß der demokratische Sozialismus errungen werde in einem Prozeß ‚von vielen kleinen und großen Reformschritten, von Brüchen und Umwälzungen mit revolutionärer Tiefe’. Weil das letztliche Resultat eine Veränderung mit revolutionärer Tiefe ist, ist das Bestimmende dieses Prozesses die Revolution und nicht die Sozialreform“. (Ein Nachfolge Artikel von: ‚Der dritte Anlauf‘ JW 12.8. 2011), S. repliziert auf Reaktionen „Vorbild Bolschewiki)“; siehe: www.jungewelt.de/2012/01-23/018.php
42Walter Markov zitiert nach Manfred Lauermann: Ein melancholischer Marxist. Der Historiker Walter Markov. In: Der Universaltheoretiker Walter Markov. (Beiträge des achten Walter-Markov-Kolloquiums) Leipzig; Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen 2011, S. 107-122, hier S. 115.
43Raul Zelik: Nach dem Kapitalismus? Perspektiven der Emanzipation oder: Das Projekt Communismus anders denken. Hamburg: VSA 2011, S. 31. Solche Bücher wahrzunehmen ist unter seiner Würde: Ist der Mann ja 1. Mann (und Geschichtswissenschaft ist eo ipso „männerdominiert“ (S 73) , 2. Nicht im Vorstand einer Partei, (Wagenknecht; S 102) einer Gewerkschaft (Otto Brenner; S 128) oder Fraktionsvorsitzender.
44Gemeint sind: Cockshott, W. Paul & Cottrell, Allin: Alternative aus dem Rechner. Für sozialistische Planung und direkte Demokratie. Köln: PapyRossa 2006. Planung bis S. 205, Demokratie = S. 215-234. „Die Souveränität des Volkes würde auf direkte Weise mittels elektronischer Abstimmung über das Fernsehen ausgeübt“ (226) Die Bürger „müssen dienen“, in einem Rat auf nationaler Ebene, oder in einem Schulrat, lokalem Gesundheitsrat oder Betriebsrat (vgl. 227). Allüberall Räte! Man versteht gut, dass S. da keine Kritik zu C&C einfällt, obwohl er den Glasgowern den meisten Text von allen in seinem Buch opfert (94-101), mehr als seinem 1. und seinem 2. Anlauf zusammen, wenn man die gedankenlosen Abschweifungen aus den Kapiteln rausrechnet. – Solidarisch wird der Ansatz von Zelik kritisiert, es lohnt, diese Argumente zu durchdenken, Zelik, ebd. S.81-92.
Anmerkung der Redaktion: Wir freuen uns, ab Januar 2012 für eine monatliche Rezension, Magdalena Liscow gewonnen zu haben. Da sie von sich sagt, sie sei eine „überzeugte Liberale mit anarchistischen Einsprengseln“ dürfte sie eine erquickende, hoffentlich provozierende Abweichung für unsere Potemkin-Leserschaft sein. Weil sie die Nichte von Manfred Lauermann ist, werden wir ihre Rezensionen unter Essay Lauermann archivieren, womit Liscow einverstanden ist, auch, weil ihr Onkel, wie sie uns anvertraute, die allermeisten Fußnoten in ihre Texte hineinwebt, „weil er seit fünfzig Jahren permanent liest.“