Radikaler Reformismus statt Revolution – Sören Benn über Aufgaben für SPD, Grüne und Linke

Diese Regierung wird ohne DIE LINKE gebildet. Der Koalitionsvertrag ist in seiner grundsätzlichen Topographie ein stehendes Gewässer ohne politische Frischluftzufuhr und wird zu den für diese Gewässer typischen Fäulniserscheinungen führen.

Die wenigen sozialen Verbesserungen, die die SPD durchsetzen konnte, sind anzuerkennen und nützen einer gewissen Anzahl von Menschen ein wenig für eine Weile.

Der Rest bilden jene Abgaben- und Steuererhöhungen, von denen nichts geschrieben steht, die aber kommen werden, sobald die angeblich nicht zu befürchtenden („Wenn alles normal bleibt“ Angela M. ) vorhersehbaren Ereignisse eintreten, von denen alle wissen, dass sie eintreten werden.

R2G haben zu verantworten, dass sie die letzte Legislaturperiode, in der sie gemeinsam in der Opposition waren, nicht genutzt haben, um aus möglichen rechnerischen auch politische Mehrheiten machen zu können. Das bezahlen nun vor allem die sozial Schwachen, die anderen Europäer*innen und die Kinder jener, die welche haben, deren Zukunft nicht nur durch die Vollbremsung bei der Energiewende belastet wird.

Dass die Koalitionsvariante R2G am 23.9. nur von 25 % der Bevölkerung gutgeheißen wird, auch dies haben R2G höchst selbst zu verantworten. Die Bürger*innen hatten recht, dem nicht zu vertrauen. Wie soll mensch Hoffnungen in eine halluzinierte Koalition setzen, deren Partner*innen die jeweils anderen regelmäßig mit Hasstiraden überziehen und ihnen ganz grundsätzlich absprechen, auch nur irgendetwas Sinnvollles auf die Reihe zu kriegen. Sozialdemokrat*innen bleiben Arbeiterverräter*innen, Grüne sind die neue FDP und DIE LINKE ist ein zerstrittener Sektiererhaufen mit SED-Vergangenheit und handzahmen Reformern, die aus der NATO sofort austreten und Europa vernichten will.
Diese Bilder haben die Medien nicht aus dem Nichts erzeugt. R2G haben sie selbst erfunden und ausgemalt, aufgeblasen und in die Welt geschickt, wie die vielen bunten Luftballons im Wahlkampf.
Die Wähler*innen waren gnädig und haben diese Leute, die sich nichts zu sagen hatten außer Gesten der Verachtung, nicht zusammengesperrt. Dafür kann mensch auch dankbar sein.

Es liegt jedenfalls mit hoher Wahrscheinlichkeit weniger am falschen Bewusstsein des Wahlvolkes oder der Manipulationskraft der bürgerlichen Presse, dass auf die drei Oppositionsparteien so wenige ihre Hoffnungen setzen mochten. Vielmehr darf sich jede einzelne der Nicht-Partnerinnen an die Nase fassen, wenn es darum geht zu ergründen, warum die Leute, wahrscheinlich mit weniger Begeisterung als manche glauben, dann doch einer weiblichen Schnarchnase mit männlichen Bettvorlegern den Vorzug gegeben haben.
Dieses Land ist über weite Strecken ein teils gelangweiltes und teils von Arbeit übermüdetes Land und wäre für ein wenig politische Abwechslung wahrscheinlich durchaus zu haben gewesen.
Aber wenn nur die Wahl steht zwischen angestaubtem aber gediegenem Staatstheater und einer Off-Theatertruppe mit lauter Laien, die alle ein anderes Stück spielen, nimmt man vielleicht lieber wieder Platz und das Opernglas zu Hand für den nächsten Akt.

Von allen 3 Oppositionsparteien hat die DIE LINKE am meisten Federn gelassen. Das ist der empirische Fakt. Die wesentlichen Gründe sind weitgehend bekannt: Innerparteiliche Streitereien, deren Echo noch widerhallte, die von den anderen zugewiesene Paria-Existenz am Rande des Parteiensystem und die nachweisliche Benachteiligung in den Medien. (Gelegentliche Gala-Auftritte machen die Nichtbeachtung über die Strecke der Zeit und die Breite der Medien nicht wett.) Nicht zuletzt haben auch die plötzlich deutlich auseinanderstrebenden europapolitischen Positionen auf dem Dresdner Parteitag verhindert, dass DIE LINKE im Wahlkampf dazu Aussagen machen konnte.

Viel wird für die Zukunft davon abhängen, welche Sichtweisen und welches gesellschaftliche Rollenverständnis in der Partei prägend werden, welche Personen DIE LINKE künftig repräsentieren und für sie und in ihrem Namen spricht. Viel wird davon abhängen, in welcher Rollenverteilung sie es tun, ob als Einzel- und Strömungskämpfer*innen vor allem mit Blick nach innen und das eigene Fortkommen oder ob als Team mit Blick auf die öffentliche Wirksamkeit.
Ebenso viel wird davon abhängen, ob es der LINKEN gelingt, sich zu einer Treiberin einer künftigen alternativen Regierungskonstellation zu mausern. Dies hieße eigene Vorschläge und Initiativen künftig genauer daraufhin zu prüfen, ob sie in einer Umsetzungssituation tatsächlich tragfähig sind. Künftige Kritik an der aktuellen Regierung muss viel stärker aus der Position einer Regierungspartei im Wartestand entwickelt werden, soll die LINKE im Bewusstsein der Menschen nicht nur vom strategischen oder taktischen Dilemma bzw. den Fehlern anderer profitieren, sondern als eigenständige Gestalterin mit einem anschlussfähigem Sujet in Erscheinung treten.

Zur Radikalität im Sinne einer Differenz zum Status quo, ist dabei noch nichts gesagt. Eines dürfte aber sicher sein: Je radikaler die Vorschläge, desto genauer müssen sie – nicht nur finanziell – durchgerechnet und mit einer fundierten Durchsetzungsstrategie verbunden werden, sollen sie Gehör finden.

Die Europawahlen werden ein erster Test dafür sein, ob DIE LINKE im Sinne der beschriebenen Anforderungen politische Arbeitsfähigkeit herstellen kann.
Sie wird dafür u.a. eine im Wahlkampf beiseite gelegte Debatte führen müssen: Die Debatte um ihre europapolitische Ausrichtung. Grundsätzliche ökonomische Fragen zum gemeinsamen Währungsraum und der Krisenpolitik müssen beantwortet und entschieden werden. Mehrheitsentscheidungen müssen gemeinsam vertreten werden. Dies kann von den Abgeordneten erwartet und sollte von der Parteibasis mit allem Nachdruck eingefordert werden.

Als Nächstes findet dann am 14.09. in Brandenburg eine Landtagswahl statt, dem einzigen Bundesland, in dem DIE LINKE momentan Regierungspartnerin in einer Koalition mit der SPD ist. Auch an der Art und Weise der Begleitung dieser Wahlauseinandersetzung durch Bundespartei, Landesverbände und Bundestagsfraktion wird sich ablesen lassen, wie es um die politisch professionelle Arbeitsfähigkeit der LINKEN bestellt ist. Dabei müssen politische Differenzen in Einzelpunkten oder auch grundsätzlicher Art nicht unter den Teppich gekehrt werden. Das Spiel mit verteilten Rollen ist auch außerhalb des Theaters erlaubt. Inhaltliche Differenzen, etwa zur Personalausstattung des öffentlichen Dienstes, zu Kohle oder CCS, kulturvoll ausgetragen und nachvollziehbar dargelegt, können eine Partei durchaus interessant machen. Allerdings sollten alle Beteiligten das selbe Stück spielen.

Der LINKEN selbst sei mit dem Wahlergebnis auch ein Geschenk von den Wähler*innen gemacht worden, hieß es häufiger in Wahlnachschauen innerhalb und im Umfeld der Partei. Dieses Geschenk sei gewonnene Zeit.
Diesen Zeitgewinn zu nutzen, kann nur heißen, aufgeschobene Debatten dann auch endlich zu führen.
Die Kontroverse um die Inhalte, wie der Positionierung, von der aus politisch agiert wird, muss dabei genauso offen geführt werden, wie die Frage nach den richtigen Instrumenten gesellschaftlicher Wirksamkeit, die zu diesen Inhalten passen. Dazu muss u.a. auch ein realistisches Bild gezeichnet werden von der Situation im politischen Gefüge, d.h. ein Bild von sich und den anderen, Parteien, wie gesellschaftlichen Gruppen, sozialen Klassen und deren Interessen.

Dazu gehören einige Abschiede. Der erste Abschied gilt der übertriebenen Aufmerksamkeit für und Suche nach einem Projekt mit dem Namen R2G. Denn so herum wird es nichts. Die notwendig kritische Masse an Gemeinsamkeiten lässt sich nicht in virtuellen Instituten herbeireden und mit den besten Weinen nicht in Hinterzimmern herbei halluzinieren. Wenn die 3 Parteien diese inhaltlichen Überschneidungen in ihren Diskursen je entwickeln, wird es sich zeigen und in eine Zwangsläufigkeit münden. Es wird nahe liegen und mit Händen zu greifen sein. Dann wird es dafür auch gesellschaftliche Mehrheiten geben. Bis dahin aber hat jede für sich in ihren Reihen zu arbeiten, an einem Spannungsboden von inhaltlicher Originalität und notweniger politisch-taktischer Elastizität.

Es wird für DIE LINKE wesentlich sein, einen sehr besonderen Lernprozess zu durchlaufen. Dies ist der Abschied von der Vorstellung, nur die eigene Analyse habe Wirklichkeitsgehalt, nur die eigenen Positionen seien durch die objektiven Interessen der Mehrheit legitimiert und nur die eigenen Mitglieder bzw. die Zugehörigen der eigenen Strömung seien die einzig richtigen LINKEN innerhalb des Parteienspektrums. Wir vertreten nicht die 99%.

Dazu gehört der Abschied von der Idee, die SPD, wie ihre Mitglieder seien allesamt Arbeiterverräter*innen und Agent*innen der Reaktion, bestenfalls naiv und ohne – richtigen – Klassenstandpunkt. So wie jedes LINKE-Mitglied für sich selbst in Anspruch nimmt, sich nach bestem Wissen und Gewissen für die LINKE entschieden zu haben, muss dies auch für SPD-Mitglieder angenommen werden. Wer in die SPD geht, hat eine differente Sicht auf die Gesellschaft, eine differente Idee von ihrer erwünschten Entwicklung und eine differente Idee von ihrer Formbarkeit, als Mitglieder der LINKEN. DAS unterscheidet ihn und sie wesentlich.
Wer aber so tut und im Ergebnis auch so agiert, als gehörten andere Parteien und ihre Mitglieder im Prinzip zur dunklen Seite der Macht in der Welt eines Georges Lucas, verkennt sich und die anderen.
Zum Abschied von der SPD als Quelle allen Übels gehört auch ein Abschied von der Fixierung auf sie. So richtig es ist, dass die SPD auf absehbare Zeit unverzichtbare Partnerin bei möglichen Regierungskonstellationen auf Landes- und Bundesebene bleiben wird, so falsch ist es, aus dieser koalitionsarithmetischen Banalität eine Art Erziehungsauftrag abzuleiten. Auch auf immer wiederkehrende Abwerbeversuche sollte verzichtet werden. Die LINKE braucht keine frustrierten Sozialdemokrat*innen, die sollen in ihrer Partei kämpfen, sondern Sozialist*innen.

Auch Teile der SPD werden einen Lernprozess durchlaufen müssen. Für sie bedeutet das den Abschied von der Vorstellung, DIE LINKE sei eine Fehlentwicklung, entartetes Fleisch, eigentlich Eigenes. Das ist falsch. DIE LINKE ist nicht der linke Flügel einer sozialdemokratischen Partei. DIE LINKE ist eine sozialistische Partei. Sie will den demokratischen Sozialismus, nicht die sozialstaatliche Einhegung des Kapitalismus. Der SPD fehlt es noch an Respekt vor dieser Grundhaltung, da sie sie für eine pubertäre Erscheinung hält, die sie, die SPD, bereits überwunden habe. Sie hat bisher nicht realisiert, dass sie nicht mehr die einzig relevante linke Partei im demokratischen Spektrum ist. Sie ist nur noch die Größere.

Nicht zuletzt müssen auch die Grünen Selbst- und Fremdwahrnehmung korrigieren. Ähnlich wie in Teilen der LINKEN glauben auch dort viele, wo sie sind, sei vorn. Arroganz und ein bis zur Lächerlichkeit aufgedunsenes Selbstbewusstsein, ist vielen ihrer Funktionär*innen zur zweiten Natur geworden. Die Idee, als Grüne Teil der geistigen Elite zu sein, ist schon immer Hybris gewesen und hat ihnen noch immer geschadet. Dabei ist die ökologische Frage in der Tat eine Überlebensfrage, die gestellt zu haben, immer das Verdienst der Grünen Partei bleiben wird. Sie sollte aber zur Kenntnis nehmen, dass in dieser Frage vor allem DIE LINKE inzwischen stark aufgeholt hat und darüber hinaus ernsthafter als die Grünen die Frage nach den sozialen Voraussetzungen der Durchsetzbarkeit der Energiewende stellt.

Beide, Grüne wie SPD, müssen sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass DIE LINKE Gründe für ihre z.B. friedenspoltischen Positionen hat, die u.a. in den Lehren begründet sind, die sich aus der rot-grünen Regierungszeit ableiten. Nicht vor allem DIE LINKE ist hier Lernerin, die erst noch zu den rot-grünen Einsichten kommen muss. Vielmehr ist DIE LINKE hier diejenige, die vorgelernt hat, weil sie sich unbelastet von politischer Mitverantwortung einfach anschauen konnte bzw. mit ansehen musste, wohin bestimmte Positionen und Entscheidungen führten und daraus ihre Schlüsse zog.

Wer es von SPD und Grünen aus ernst meint mit der Möglichkeit von R2G, wird sich damit auseinander setzen müssen, dass dies zwingend eine andere Außenpolitik Deutschlands begründet. Und das wäre gut so. Diese Außenpolitik wäre nicht weniger verantwortungsbewusst und verlässlich als die gegenwärtige und vergangene es vermeintlich waren. Sie wäre aber anders, begäbe sich auf einen anderen Pfad und begründete eine neue Rolle Deutschlands, jedoch keine Sonderrolle. Eine solche Außenpolitik machte klar, dass die absolute Priorität deutscher Friedenspolitik in der Stärkung präventiver Maßnahmen besteht, in einer massiven Ausweitung von Rüstungskontrolle und einem Rückbau der Waffenproduktion, in der Stärkung internationaler Institutionen und der Bekämpfung von Konfliktursachen. Finanzielle, wirtschaftliche und diplomatische Ressourcen würden künftig fokussiert vor allem auf diese Ziele hin ausgerichtet und eingesetzt. Militärische Bündnispflichten würden auf das absolute Minimum reduziert, das noch keiner Vertragsverletzung gleichkommt. Gleichzeitig würden Initiativen auf den Weg gebracht, die NATO-Verträge neu zu verhandeln bzw. die NATO weiterzuentwickeln in ein System kollektiver Sicherheit unter Einschluss Russlands. Wirtschaftliche Bedeutung erzwingt keineswegs „militärische Verantwortungsübernahme“. Dieses Mantra ist eine zutiefst reaktionäre Wahnvorstellung.

Trotzdem muss auch DIE LINKE ihre außen- und friedenspolitischen Positionen weiter ausdifferenzieren, konketer untersetzen und begründen. Ungeklärt ist bzw. nach wie vor, wie eine LINKE in Regierung auf einen offensichtlichen Genozid o.ä. reagieren würde, wie auch die Frage, wie beim Ende eines Konfliktes die Sicherung von möglichen neutralen Zonen gewährleistet werden kann. Auch beim Komplex der Rüstungsproduktion gibt es für eine aussichtsreiche Ausstiegsstrategie eine Reihe von unbeantworteten Fragen, nicht zuletzt deshalb, weil Konversion ein langfristiger Prozess ist und die internationale Arbeitsteilung bei Rüstungsprojekten weit fortgeschritten und vertraglich durch vielfältige Vereinbarungen abgesichert ist. Wer hier bei LINKEr Regierungsbeteiligung den „schnellen Schuss“ verspricht, tappt in eine selbstgestellte Falle. Die Liste ließe sich fortsetzen.
All jenen, die sich mit diesen Fragen ernsthaft auseinandersetzen und nach Antworten suchen zu unterstellen, sie betrieben die Aufweichung des friedenspolitischen Markenkerns ist ebenso unredlich, wie der Versuch von anderer Seite, diese innerLINKE Baustelle als Kampf zwischen Vernunft und Dogmatismus keiltreibend zu interpretieren. Und selbst die nicht abschließende Klärung dieser Fragen ist kein ernst zu nehmender Grund, eine Koalition mit der LINKEN auszuschließen. Die Welt wird sicher auch künftig nicht von einer militärpolitischen Zurückhaltung Deutschlands bedroht. Und es gibt nie nur eine Option verantwortlichen Verhaltens.

In der Europafrage haben alle 3 Parteien noch erheblichen Lernbedarf. Auch übereinander.
Gibt es weitgehende Übereinstimmung darin, dass es in der EU ein demokratisches Legitimationsdefizit gibt, das dringend aufgelöst werden muss z.B. durch eine Stärkung der Position des Parlaments und den europäischen Volksentscheid wie eine damit verbundenen Reform der Trias aus Rat, Kommission dun Parlament?
Ist es unstrittig, das neoliberales Konkurrenzgebaren unter Gemeinwesen kein dauerhaft tragfähiger Kitt eines Staatenbundes sein kann, sondern ihn geradewegs untergräbt? Und was folgt daraus?
Setzt sich langsam die Einsicht durch, dass dauerhafte und sich vertiefende ökonomische Ungleichgewichte zum Nachteil aller sind, bzw. jene, die im ökonomischen Wettbewerb glauben gewinnen zu müssen, dies auf Kosten jener tun, denen sie dann doch zur Seite springen müssen?

Das neoliberale Konzept taugt für einen Währungsraum des Euro nicht. Es zerstört ihn. Die EU gehört auch deshalb grundlegend reformiert. Ob sich diese Einsicht vor dem Fall oder erst während eines solchen Falls in eine weitere Krise in Politik umsetzen lässt, hängt auch von der Bündnisfähigkeit jener Kräfte ab, die sich im Grundsatz auf eine Abkehr von der Austeritätspolitik verständigen können. Ob R2G in Deutschland diese Kräfte sein können, ist durchaus nicht ausgemacht.
Auch bei anderen Themen der europäischen Politik von Verbraucher*innenschutz über Frontex, der Flüchtlingspolitik, der Steuerpolitik bis zur Energiewende gibt es erheblichen Verständigungsbedarf mit SPD und Grünen. Aber selbst weitgehende Einigkeit in zentralen Fragen würde hier kurzfristig nicht ausreichen.
Grundlegende Reformen im europäischen Rahmen sind ohnehin nur im Einvernehmen mit den jeweiligen – bis auf Weiteres – Regierungen der anderen Mitgliedsländer zu erzielen. Einvernehmen hat immer einen Preis, der darin besteht, dass alle Beteiligten sich davon einen Vorteil ausrechnen können und das alles, was vereinbart wird, für alle überschaubar bleibt.

Darum ist es mit Blick auf die zu gestaltende Zukunft und DIE LINKE auch relativ müßig, darüber zu streiten, als was und in wessen Geist die EU und ihre Vorläufer entstanden sind und welche Interessen sich gerade durchgesetzt haben. Die EU in ihrer gegenwärtigen Verfasstheit ist eine Realität, mit der umzugehen sein wird. Es ist kein Szenario realistisch vorstellbar, das dazu führte, dass sie sich produktiv zum Wohle aller auflösen und neu gründen ließe. Daher ist auch jede Forderung in diese Richtung wohlfeil und unpolitisch, da sie an keine Realität anknüpft, von der Politik ändernd wirksam werden könnte.
DIE LINKE hat hier gegenwärtig in ihrer Gesamtheit jedoch keine einvernehmliche Position. Für einen Teil ist beim Thema EU Hopfen und Malz verloren. Sie halten die EU wesentlich für ein Instrument des internationalen Kapitals, das hoffnungslos an diese Seite verloren ist. Sie ist in dieser Sichtweise deshalb eine Gegnerin und kein politisch zu gestaltendes Instrument mehr. Diese Einschätzung innerhalb der LINKEN setzt auf Gegenmacht durch nationale Gegenwehr von Unten in internationaler Solidarität. Das ist ein hoher Anspruch, vor allem aber einer, den nicht Parteien verwirklichen können.
Eine Synthese beider Sichtweisen, der konstruktiven und der konfrontativen ist derzeit nicht in Sicht, muss aber letztlich das Ergebnis einer innerLINKEN Debatte über die Zukunft Europas sein.

Es ist im Kern die gleiche Debatte wie jene auf nationalstaatlicher Ebene: Gestalten auch in Regierungsverantwortung oder Opposition zu den herrschenden Verhältnissen, die als im Prinzip totalitär wahrgenommen werden. In letzterer Sichtweise ist Beteiligung Kollaboration und damit im Grunde nicht diskutabel.
Hilfsmittel in diesem Streit sind in der bisherigen Debatte die roten Haltelinien. Sie werden mal als Kompromiss, mal als verhindernde Bedingung diskutiert. Möglicherweise hätten sie, gemeinsam entwickelt, klug platziert und als Selbstbeschränkung formuliert gegenüber Partner*innen und Wähler*innen aber auch einen politischen Nutzen, der darin bestehen kann, Berechenbarkeit herzustellen, Enttäuschungen zu vermeiden, Verführungen zu widerstehen und Maßstäbe zu liefern, die über tagespolitische Prioritäten und die einzelne Legislatur hinausweisen und damit auch einen Beitrag leisten können, ein Bewusstsein für lange Linien der Politik auch bei Wähler*innen zu entwickeln. Allerdings müssten sie konkret gefasst werden und das Parolenniveau deutlich hinter sich lassen.

DIE LINKE hat einen großen Fundus an Gemeinsamkeiten über Strömungen hinweg: Steuerpolitik, Lohnpolitik, Arbeitnehmer*innenrechte, Gewerkschaftspolitik, Fragen der Bankenregulierung, der öffentlichen Daseinsvorsorge, der Sozialsysteme sowie der Energiepolitik und der Bildungspolitik etc.. Vieles davon ist auch gesellschaftlich grundsätzlich mehrheitsfähig. Gibt es hier Differenzen, so werden sie in aller Regel unterhalb der medialen Wahrnehmungsschwelle ausgetragen.

Nur bei den Themen Auslandseinsätze, EU und Regierungsbeteiligung erfahren die Debatten Zuspitzungen, die bisher noch stets die Ebene des Sachlichen verlassen und in den Bereich des Denunziatorischen abgeglitten sind. Die Redakteure*innen freuts. Beliebtestes Kampfmittel dabei: Das Rechts-Links Schema.
Es ist für DIE LINKE ein weit destruktiveres Paradigma als für andere Parteien. In einer Partei, die sich selbst als linkeste aller Parteien definiert, gar so heißt und daraus einen wesentlichen Teil ihrer Identität und Existenzberechtigung bezieht, ist jede als Rechtsabweichung identifizierte Position immer auch eine Gefährdung dieser Existenz, eine „Erschütterung der Macht“ und damit ein Verdikt über jede so beleumundete Haltung.
Das wirkt für die innerparteilichen Diskurs in etwas so, wie zwischen den anderen Parteien bisher der Vorwurf, mit der LINKEN koalieren zu wollen. Es ist ein No-Go. Niemand in der LINKEN möchte als Rechtsabweichler gebrandmarkt werden. Diese Matrix nützt innerparteilich immer nur jenen, die sich selbst als am weitesten links stehend stilisieren. Er beschmutzt, er hängt an, er ist kaum wieder loszuwerden. Damit erstickt er das, was eine LINKE in besonderem Maße auszeichnen sollte: Angstfreiheit, Gedankenfreiheit, lebendiger und sanktionsfreier Diskurs.
Es ist bedauerlich, dass viele Gruppierungen in der Linken sich auf diese Matrix immer noch einlassen. Denn sie ist sinnlos und haltlos, aber schädlich. Dass rechts inzwischen synonym mit Reformer*in gebraucht wird, macht es nicht besser, sondern eher noch schlimmer.
DIE LINKE ist erklärtermaßen keine revolutionäre Partei, sondern, so das Programm irgendeine Relevanz besitzt, eine durch und durch radikalreformistische Partei. Alle sind Refomer*innen. Wen dies erschreckt, der oder die hat sich in der Partei geirrt.
Es gibt keine rechten LINKEN, wie es auch kein schwarzes Weiß gibt. Jedes Mitglied der LINKEN ist links. Rechts ist politisch klar verortet. Es beschreibt das andere Ende der politischen Skala und endet im Faschismus. Es hat darum in der Beschreibung von Differenzen unter LINKEN schlicht nichts zu suchen.
Natürlich nützt es nichts, wenn es hier nur um Worte ginge. „Rechts“ kann jederzeit und für jede/n verständlich nicht nur durch Reformer*in ersetzt werden, sondern wahlweise auch durch Regierungslinke/r, Pragmatiker*in oder was auch immer. Es wird verstanden.
Kritisch ist die dahinter stehende Haltung, es sei legitim, durch Abhängung unlauterer Motive eine inhaltliche Debatte zu Sachfragen abzuwürgen, die mensch selbst gerade für im eigenen Sinne hinreichend geklärt hält.

Nichts ist ein für allemal hinreichend geklärt. Jede Einsicht muss sich an neuen messen und behaupten. Es gibt keine überzeitlichen Wahrheiten, sondern lediglich unwiderlegte Arbeitshypothesen und Bekenntnisse zum Zeitpunkt ihrer Formulierung. Wenn das stimmt, ist es einzufordern in allen künftigen Debatten.

Der oft so benannte und gepflegte „Burgfrieden“ in der LINKEN ist nur ein anderes Wort für „kalter Krieg“. Manche halten dieses Zeitalter auch heute noch für das Segensreichere. Ich nicht.

Sören Benn, Bezirksvorsitzender der Linken in Berlin-Pankow, zum fds-Bundestreffen am 29./30.11.2013 in Berlin

gastautor
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3 Kommentare

  1. Die Ausführungen zur Außenpolitik kann ich natürlich nicht teilen:

    „Beide, Grüne wie SPD, müssen sich mit der Tatsache auseinandersetzen, dass DIE LINKE Gründe für ihre z.B. friedenspoltischen Positionen hat, die u.a. in den Lehren begründet sind, die sich aus der rot-grünen Regierungszeit ableiten. Nicht vor allem DIE LINKE ist hier Lernerin, die erst noch zu den rot-grünen Einsichten kommen muss.“

    Ich möchte bezweifeln, dass die außenpolitischen Positionen der Linken viel Lehrreiches enthalten.
    Ich denke vielmehr, dass gerade die sogenannte „Friedenspolitik“ der schwächste und am wenigsten durchdachteste Teil der Programmatik der Linken ist. ich nenne das immer Anti-Bundeswehr Pazifismus. Im übrigen ist die Herleitung auch historisch falsch: Die Positionen der Linken sind ja keineswegs nur eine Reaktion auf den Kosovokrieg und die deutsche Beteiligung daran. Vorher hatte die PDS doch schon die gleichen Positionen.

    Und so wahr dieser Satz ist,

    „Die Welt wird sicher auch künftig nicht von einer militärpolitischen Zurückhaltung Deutschlands bedroht. “

    So wahr ist das Gegenteil: Die Welt wird sicher auch künftig nicht von militärischen Aktionen Deutschlands bedroht. Auch wenn die Linke so tut als sei das einzig problematische an dem jahrzehntelangen Krieg in Afghanistan die beinahe nominlle deutsche Beteiligung.

  2. Wie ich diesen Diskurs das erste Mal durchgelesen habe, dachte ich, da schreibt ein Science Fiction Autor über ein „Paralleluniversum“.
    O.K. Dann einmal anders.
    Wenn man einen Ist-Zustand in einen Soll-Zustand überführen will (in der IT heißt das Migration), dann beginnt das Ganze mit einer Analyse des jetzigen Zustands. Und da sehe ich nicht viel, obwohl ich immerhin mehr als 7 Jahre Mitglied dieser Partei war, davon 5 als Mandatsträger, was man überhaupt benutzen kann, um es weiter zu entwickeln. Ich sehe die „Organisation“ als Wahlverein ohne praktischen Nutzen für überhaupt nur einen Wähler oder eine Wählerin.
    Sodann versucht man Zielvorgaben zu machen, wie dies bereits im Artikel versucht wurde. Und anschließend definiert man Prozesse & Regeln um von Punkt A zu Punkt B zu kommen. Diese gibt es z.T. sogar bereits. Die nennen sich u.a. Satzung. Aber davon abgesehen, das sie schriftlich fixiert sind, haben sie keinerlei praktische Bedeutung für die „Organisation“, sodaß man sich die Migration sparen kann.
    „What goes up, must come down“ (Edgar Allan Poe).
    .

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