Wer es schafft, sich länger als einen Tag zurückzuerinnern, wird noch wissen können, dass auch Hans-Ulrich Jörges, Mitglied der Chefredaktion des „Stern“ und Chefredakteur für Sonderaufgaben des Verlags Gruner und Jahr, an dem mehr oder weniger gelungenen Versuch der öffentlichen Demontage der einzigen ersten Stellvertreterin des Fraktionsvorsitzenden und stellvertretenden Parteivorsitzenden beteiligt war. Merkwürdigerweise sind aber bislang weder Petitionen bekannt, noch Protestcamps organisiert worden, die auch seine Absetzung fordern. Stattdessen kann er fröhlich per Videobotschaft nachtreten.
Verwunderlich, fordert doch das Volk zusammen mit seiner organisierten Avantgarde harte Konsequenzen für solch ein unbotmässiges Ausnutzen der bürgerlichen Meinungs- und Dummheitsfreiheit. Oder eben auch nicht verwunderlich, wenn man die Beziehung zwischen dem von Jörges geleiteten Presseerzeugnis und der Partei Wagenknechts betrachtet. Dass gerade die Führung der Partei Die Linke sich scheut gegen Jörges öffentlich zu agitieren und seinen Kopf zu fordern, könnte dann tatsächlich daran liegen, dass der „Stern“ die Sozialisten in seinen wöchentlichen Wahltrends, die über RTL den Weg in die Wohnzimmer der abgehängten 99% finden, auch dann noch in Umfragehöchstwerte fabuliert, wenn sie in seriöseren Untersuchungen schon wieder auf ihr erträgliches Normalmass schrumpfen. Gerade in Wahlkampfzeiten ist dies für Die Linke eine nicht zu unterschätzende Schützenhilfe.
Und diesen guten Draht will man dann wohl zu Beginn eines wichtigen Wahljahres, trotz aller aufgesetzten Empörung, lieber doch nicht kappen. Ein Glücksfall für Jörges, zumindest solange er weiterhin brav gute Umfragewerte veröffentlichen lässt und in seinem Blatt immer einen Platz für die Genossen warm hält. Dumm für Lanz, dass er für Die Linke nicht auch solch einen Nutzwert liefern kann. Dumm auch für die Linken, die tatsächlich angenommen haben, dass ihre Funktionäre sich deswegen so erregen, weil sie eine Genossin schützen wollen. Und möglicherweise auch dumm für Wagenknecht selber, die auf die Idee kommen könnte, dass die Empörung der Reformsozialisten über den Umgang mit ihr auch nur ansatzweise etwas mit einem Interesse an der Unversehrtheit ihrer Person und nichts mit innerparteilicher Taktierei zu tun haben könnte.
(mb)