Der Penis der Anarchie

Quelle: Wagenbach Verlag
Quelle: Wagenbach Verlag

Stolz sticht er im russischen Sankt Petersburg hervor: Der riesige fluoreszierende Phallus an der Liteiny-Brücke. Gemalt hat ihn die anarchistische und kompromisslose Künstlergruppe Wojna – die russische Vokabel für Krieg. Wojna hat dem repressiven russischen Regime, ja, dem Staat per se, der spießigen, unfreien Gesellschaft und der Herrschaft der orthodoxen Kirche den Krieg angesagt – mit ihren subversiven und konspirativen Performance-Kunstmethoden. Der junge französische Schriftsteller Arthur Larrue hat einen hintergründigen, surreal-satirischen und ernsthaft-unterhaltsamen Roman über die drei in der Illegalität lebenden Künstler geschrieben.

Larrue selbst unterrichtete vier Jahre lang an der Universität von Petersburg, und lebte für seinen Roman, der eine Nacht mit zahlreichen Rückblenden in Petersburg beinhaltet, ganze drei Monate mit den Künstlern zusammen und verlor wegen diesem Buch sowohl seinen Job als auch sein Visum. Er wurde damit selbst zu einem mit Anarchisten sympathisierenden, literarischen Dissidenten – par excellence.

Das Buch Wojna schildert die Ereignisse einer Nacht aus verschiedenen Perspektiven: Da wäre zunächst der namenlose Icherzähler zu nennen – jener weist autobiographische Parallelen zu Larrue auf – der, nachdem er von einer Frau flieht, mit der er über eine intensive Hassliebe verbunden ist, in die Wohnung einer Bekannten kommt, in der sich die Gruppe Wojna aufhält. Dort fungiert er im Grunde nur als passiver Beobachter. Dann wären natürlich die Mitglieder der Künstlergruppe zu erwähnen: Oleg, der Dieb, seine hübsche Frau Kosa, deren Baby Kasper und Leonid, der Irre. Hinzu kommen noch eine alte kiffende Frau, die die Gruppe beobachtet, wie auch Sergeant Komarow, der Wojna auf der Spur ist.

In jeder Perspektive gibt es Rückblenden zu den Aktionen von Wojna, wie dem Aussetzen von 27 Katzen in einem McDonalds, oder einer Sexorgie vor dem Biologiemuseum, bei der auch Schriftstellerinnen und Pussy-Riot-Aktivistinnen beteiligt waren, passend zur Amtseinführung von Wladimir Putins Sidekick Dimitri Medwedew. Außerdem gibt es Rückblenden zu Lebensgeschichten der einzelnen Protagonisten, wie den Verhörszenen zwischen Kosa und Komarow. Dabei geht der Roman ergo weder systematisch noch chronologisch vor, sondern funktioniert einfach, wie die menschliche Erinnerung, was das Buch sehr authentisch und interessant macht. Des Weiteren ist die Form der losen, ja, fast chaotischen Zusammensetzung des Romans kongruent mit dem radikal-subversiven und anarchistischen Bestreben der Gruppe Wojna.

Satire und Systemkritik

Stilistisch ist Larrue ein wahrer Meister: Fast wie dem russischen Poeten Gogol, gelingt es ihm mit satirischen und grotesken Elementen, wie einem schwachsinnigen Handwerker, der ständig Komarow belästigt oder manch anderen absurden Dialogen, den Leser nicht nur ausgesprochen erfolgreich zu unterhalten, nein, ihm gelingt eine Ebene tiefer damit auch eine ernste und filigrane Systemkritik an der undemokratischen russischen Gesellschaft. Dabei ist das Buch aber auch häufig, vor allem in den vulgären Dialogen der Gruppe ausgesprochen offen und direkt in seiner Argumentation. Nicht zuletzt der Leistung des Übersetzers Max Stadler ist es auch zu verdanken, dass man während dem Lesen wertvolle Details über russische Kultur und Sprache erfährt.

Im Grunde ist das Buch Wojna gar kein richtiger Roman, sondern weist viel mehr die Charakteristika einer aufgebrochenen Novelle auf: Die Handlung und die Protagonisten sind sehr überschaubar, Komarow und die alte Frau etwa sind nicht einmal besonders tiefsinnig skizziert und das tragische Ende des Buches ist schon am Anfang absehbar. Des Weiteren kommt noch das Dingsymbol, der Kraken hinzu: Der Ich-Erzähler musste seiner Freundin einen lebendigen Kraken servieren, den sie dann kochte, was ihn in der Brutalität traumatisierte, woraufhin der Protagonist sich mit dem Tier verbunden fühlt – ja, er entwickelt eine regelrechte Obsession – und sich etwa selbst als Kraken vorstellt. Dieses Symbol, das Krakenmotiv, erscheint auch auf mysteriöse Weise am Ende des Buches, als unvermeidlicher Ausgang.

Gute, zumal politische, Schriftsteller beschreiben und kritisieren mit ihrer Dichtung soziale Realitäten. Dabei hat Larrue außergewöhnlichen Mut und Humor bewiesen – Charakteristika, die die russische Regierung in diesem Fall nicht teilte und rigide gegen ihn vorging. Dabei ist das Buch Wojna in jedem Fall eines der besten literarischen Werke, die in diesem Jahr erschienen sind, voller anarchistischer Systemkritik. Grandios!

Arthur Larrue: Wojna, übersetzt von Max Stadler, Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2014. Englische Broschur, 112 Seiten, 12,90 Euro. Weitere Informationen gibt es unter: http://www.wagenbach.de/buecher/titel/935-wojna.html

Philip J. Dingeldey

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