Unser Menschenrecht auf Datenschutz wird täglich unterminiert – in der Sphäre des Digitalen, einerseits durch Staaten, die eine ausgebaute Überwachungspraxis betreiben, wie die USA mit der National Security Agency (NSA) oder durch Konzerne, wie Google, Facebook und Co., die unsere Daten horten und an den Meistbietenden verscherbeln – und damit beispielsweise auch die NSA unterstützen. Die riesigen entstehenden digitalen Datenmengen, die alles zuvor existente Mediale exorbitant übertreffen, werden seit Jahren unter dem Namen Big Data summiert. Jetzt, ein paar Jahre nach dem großen Hype, hat der Medienwissenschaftler Ramón Reichert den Sammelband Big Data. Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie herausgegeben.
Das Buch umfasst 22 Beiträge in insgesamt fünf Überkapiteln von führenden Medien- und Kommunikationswissenschaftlern, Netzaktivisten, Philosophen, Kulturwissenschaftlern, Anthropologen etc. Die fünf Kapitel Big Data Humanities, Geschichte und Theorie der Daten, Digitale Methoden, Dataveillance: Algorithmen, Graphen und Protokolle und Digitale Technologien und soziale Ordnungsvorstellungen.
Dabei geht es einerseits um die erstmalige Aufarbeitung der neuen Datenpraktiken und der Wissenschaftskulturen und Epistemologien mit interdisziplinären Ansätzen. Damit soll eine theoretische, kritische und historische Tiefe verliehen werden. Andererseits sind die Texte auch für linke Digitalinteressierte in der Theorie und Kritik staatlicher und kapitalistischer Internetmethoden relevant.
So warnt der US-amerikanische Medientheoretiker Lev Manovich vor den sozialen Auswirkungen der Datenforschung und kritisiert die einseitige Verteilung von Datenwissen das zur Machtasymmetrie zwischen Forschern führt, also denen die systemkonform und systemkritisch agieren. Der Anthropologe Tom Boellstorff erläutert etwa weiter die rhetorischen, etymologischen und metaphorischen Kontexte der Data-Studies und den (ganz nach Michel Foucault) forschungspolitisch-strategischen Verwendungszwecken des Diskursbegriffs Big Data. Johannes Paßmann geht auf die (manchmal auch mangelnde) Reflexivität von Social-Media-Daten ein. Ansonsten finden sich besonders viele Twitteranalysen, vor allem bezüglich des politischen Einflusses von Twitter.
Von Big Brother zum digitalen Panoptikum
Am interessantesten ist wohl für linke Leser der Aufsatz des Philosophen und Netzaktivisten Matteo Pasquinelli der versucht die Marxschen Konzepte der Maschinen, mit Rezeption von Gilles Deleuze und Felix Guattri auf die Kybernetik und Big Data zu beziehen. Er schlägt die Extraktion von Metadaten als einen wertschöpfenden Faktor zu deuten und Netzwerke als Maschinen zur Kontrolle, Akkumulation und Steigerung des Mehrwerts auszulegen.
Hin und wieder wird auch in den verschiedenen Beiträgen die Problematik der übermäßigen Datensammlung von Staat und Kapitalismus angesprochen, leider jedoch zu selten, scheint das doch das Thema zu sein, das den Lesern am meisten unter den Nägeln brennt. Wenn doch, dann wird immerhin der sonst zu selten beachtete Rekurs auf Michel Foucaults Rezeption des Benthamschen Panoptikums, hin zu einem digitalen Panoptikum, wie es die NSA kreierte und der Volksheld Edward Snowden aufdeckte.
So ist etwa für Boellstorff die Metapher des Orwellschen Big Brother zur Beschreibung der Überwachungsdiskurse unter den Vorzeichen des Big Data unzureichend; hierauf hat ja bereits Frank Schirrmacher hingewiesen. Boellstorff schlägt nun Foucaults These des Geständnisses vor: „Das Geständnis ist eine moderne Möglichkeit, Daten zu produzieren, ein Anreiz zum Diskurs, den wir nun einen Anreiz der Enthüllung nennen könnten.“
Ergo brilliert der Aufsatzband insgesamt mit einer guten theoretische, diskursgebundene Basis und glänzt mit soliden Analysen und Reflexionen: „Im Unterschied zum Medienhype um ‚Big Data‘, der seine Entstehung der Möglichkeit zur kollektiven Adressierung durch Massenmedien verdankt, versucht der vorliegende Sammelband, einen Reflexionsraum zur differenzierten Auseinandersetzung mit dem datenbasierten Medienumbruch der Gegenwart zu schaffen“, so der Herausgeber. Ein erster fundierter Grundstein zum wissenschaftlichen, aber auch linkskritischen Umgang mit dem Thema Big Data ist gelegt.
Ranón Reichert (Hrsg.): Big Data. Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie, transcript Verlag, Bielefeldt 2014. Taschenbuch, 494 Seiten, 29,99 Euro. Weitere Informationen gibt es unter: http://www.transcript-verlag.de/978-3-8376-2592-9/big-data
Philip J. Dingeldey