Lyrik und Barbarei

Über den Holocaust aus literarischer Perspektive zu schreiben ist schwer, obgleich zahlreiche Werke der deutschen Nachkriegsliteratur genau das versuchten. War dieses Ereignis doch viel schlimmer als ein tragisches Schauspiel, bei dem die Leidtragenden selbst Akteure gewesen wären, und philosophisch oder episch gesehen kein metaphysisches Ereignis, da den Durchführenden des Holocaust jene klassische Fähigkeit des Denkens abhanden kam – wie es auch Hannah Arendt anhand von Adolf Eichmann belegte -, sodass es auch zu keiner Katharsis oder einem intelligent-moralischen Unterhaltungswert kommen kann. Aus der Sicht des Zuschauers lässt sich dies literarisch ohnehin nicht verarbeiten. Ließe sich dann nicht wenigstens mit dem literarischen Genre der Lyrik darüber schreiben?

Theodor W. Adorno hat dies in seinem Buch Kulturkritik und Gesellschaft verneint, denn in einer totalen kapitalistischen Gesellschaft der Massenkultur und Kulturindustrie sei der Geist absolut verdinglicht. Die weltberühmte, zahlreich zitierte und rezipierte Stelle aus diesem Werk lautet:

„Kulturkritik findet sich der letzten Stufe der Dialektik von Kultur und Barbarei gegenüber: nach Auschwitz ein Gedicht zu schreiben, ist barbarisch, und das frisst auch die Erkenntnis an, die ausspricht, warum es unmöglich ist, heute ein Gedicht zu schreiben.“

In selbstgenügsamer Kontemplation sei der kritische Geist der Verdinglichung nicht mehr gewachsen. Dieses Verdikt Adornos wurde von vielen kritisiert oder auch – fälschlicher Weise – als pure Provokation abgetan, wurde aber in jedem Fall stark mystifiziert und missinterpretiert.

Als praktische Antithese dessen können jedoch die Gedichte des Poeten Paul Celan fungieren, der selbst eine Zeit lang als Jude in einem Arbeitslager interniert war. Der deutlichste Versuch, Lyrik nach Auschwitz über Auschwitz zu schreiben, ist dabei Celans Gedicht Die Todesfuge aus dem Gedichtband Mohn und Gedächtnis, die versucht, mit neuen lyrischen Mitteln das erlebte Leid von Auschwitz auf einer abstrakten Ebene zu beschreiben, mit Chiffren, wie „Schwarze Milch der Frühe wir trinken sie abends/ wir trinken sie mittags und morgens wir trinken sie nachts/ wir trinken und trinken/ wir schaufeln ein Grab in den Lüften da liegt man nicht eng“, ständigen sich neu anordnenden Redundanzen, und tief schürfenden Metaphern, wie dem Mann, der im Haus mit den Schlangen spielt oder dem Ausspruch „Der Tod ist ein Meister aus Deutschland“, der mehrmals brutal mitten in die Verse geworfen wird. Dass Celan Adornos Diktum, es ließe sich keine Lyrik mehr schreiben, mit seiner Lyrik zu widerlegen suchte, zeigt sich etwa auch beim Gedicht Engführung aus dem Band Sprachgitter, das ebenfalls kryptisch, reduziert, redundant und elliptisch das Gefühl der Be- und Unterdrückung sowie den Verlust eines jeden Sinnes oder zivilsatorisch-moralischen Gebotes demonstriert, über die sich angeblich nicht schreiben ließe.

Gespräch in Sils

Celan und Adorno haben sich im Sommer 1959 in Sils getroffen und über die Rolle der deutschen Sprache, die den Juden nach Auschwitz noch bleibt, diskutiert, über die Sprache der Mörder und Schlächter und über die eventuelle Notwendigkeit, weiterhin Gedichte zu schreiben, die Sprache nicht dem Bösen zu überlassen.

Adornos Lyrikthese lässt sich sehr gut in den Kontext seines kompletten Œuvres der Kritischen Theorie einbetten: So schrieben doch etwa gerade er und Max Horckheimer in ihrer fragmentarischen Dialektik der Aufklärung über die Dialektik, die der Holocaust hervorgebracht hatte, nämlich einerseits der minutiös und intelligent auf der Wannsee-Konferenz von 1942 und von Eichmann geplanten Vernichtung von Personen und Gruppen, die – etwa den Nürnberger Gesetzen von 1935 zufolge – als rassisch minderwertig deklariert wurden, und andererseits das eben unhinterfragt, und reflektiert durchgeführt wurde.

Ähnlich problematisierte dies auch Hannah Arendt; respektive Giorgio Agamben sieht daraus folgend im Holocaust das charakteristische Phänomen der Moderne, das, in einer Entzauberung und Entmetaphysisierung der Welt, das pure, nackte Leben – den Homo sacer – zur biopolitischen Disposition stellt. Diese Elemente der aufklärerischen, entzauberten Dialektik blieben eben in der postnazistischen Gesellschaft bestehen. Nach Adornos Gesamtwerk wäre es in solch einer kulturindustriellen Gesellschaft unmöglich, noch Lyrik zu produzieren.

Das Problem des Gegensatzes zwischen Adornos Lyriktheorie und Celans Lyrikpraxis ist aber wohl auch Adornos zu reduzierte Sicht auf die Lyrik selbst, die gerade die einzige literarische Gattung war, für die er dezidiert ausschloss, noch schreibbar zu sein, ohne barbarisch zu werden. Stark überspitzt zeigt sich das Problem in Golo Manns Antwort, dass Adorno schon vor Auschwitz unfähig gewesen sei, Gedichte zu schreiben. Auch wenn es sich dabei um ein schnippisches Ad-hominem-Argument handelt, welches man Mann auch zurückgeben könnte, so trifft es, eine Ebene tiefer betrachtet, das Zentrum des Problems: Adorno betrachtete Lyrik scheinbar im rein klassischen Sinne als eine Literaturform, die komprimiert und erhaben eine Art metaphysische Katharsis hervorrufen könnte, dabei die Emotionen oder Erlebnisse in einer metaphorischen Weise verarbeitet und vielleicht sogar noch heiter und unterhaltsam ist.

Natürlich hat Adorno insofern recht, als dass romantische Gedichte, etwa im kitschigen Stile von Joseph von Eichendorff, nach Auschwitz tatsächlich einen bitteren Beigeschmack, eine banale bis barbarische Konnotation erhalten, da sie die wirkliche Problematik vielmehr verdecken statt thematisieren. Als heitere Kunstform ist Lyrik tatsächlich nach Auschwitz absolut ungeeignet.

Lyrik ist nicht barbarisch

Doch Lyrik ist ja keinesfalls obligatorisch heiter, geschweige denn metaphysisch, kann sich als sui generis sehr wohl der Verdinglichung partiell entziehen, vielleicht noch eher als üblicher Weise konkretere Literaturformen, wie das Drama oder der Roman. Barbarisch war der Holocaust, barbarisch ist auch eine totale Gesellschaft, aber die Lyrik als Ganzes ist nicht barbarisch!

Nach Auschwitz konnte Lyrik nicht mehr in der vorherigen Form verfasst werden, ohne ignorant oder barbarisch zu sein. Das bedeutet aber, dass es einer neuen Form der Lyrik bedürfte, die etwa Celan, Nelly Sachs und viele andere in unterschiedlicher Qualität gefunden haben. Schließlich sah dies auch Adorno ein und schränkte diesbezüglich sein Verdikt ein, indem er in seinen Noten zur Literatur schrieb:

„Der Satz, nach Auschwitz ließe kein Gedicht sich mehr schreiben, gilt nicht blank, gewiß aber, daß danach, weil es unmöglich war und bis ins Unabsehbare unmöglich bleibt, keine heitere Kunst mehr vorgestellt werden kann.“

Erschwert wird eine Lyrik nach Auschwitz nicht nur durch den Verlust von Heiterkeit oder Metaphysik, sondern auch die Utopie (oder Dystopie) sei darin unmöglich, da das Unvorstellbare, das thematisiert werde, bereits eingetreten ist. Ebenso kann das überlebende Opfer nie Adornos Diktum komplett widerlegen, da sich nie und mit keinen Worten – egal, wie brillant und einfühlsam sie gewählt sein mögen – das volle Ausmaß des Geschehenen auf allen Ebenen, abseits der bloßen Narration der Vergangenheit, explizieren und implizieren lässt. Als Gegenargument könnte man ein Zitat (erstaunlicher Weise aus dem Film Star Trek 3) anführen: „Heißt das, man kann mit Ihnen nur über den Tod reden, wenn man selbst schon einmal tot war?“

Das Verbrechen hinausschreien

Mit diesem erheblichen Mangel – den Holocaust unvollständig aufzubereiten, meist auch für Leser, die diesen nicht erlitten – muss eine Lyrik nach Auschwitz über Auschwitz leben, aber das macht sie nicht unmöglich! Man könnte also unterstellen, dass Adornos Lyrikbild zu reduziert und weniger kreativ war, als das aktive Dichter, die den Holocaust am eigenen Leib erleben mussten. Viele davon haben neue, unvollkommene, aber dennoch sehr eindringliche Wege gefunden, das Thema Holocaust zumindest partiell zu behandeln, die bis ins Mark gehende aufgeklärte Barbarei ansatzweise zu beschreiben. Denn erstaunlicherweise wirkt ein Celan-Gedicht, auch nach dem 20. Lesen immer noch aufrüttelnder und eindringlicher, als etwa so mancher Film über den Holocaust und den Nationalsozialismus.

Gerade wegen dem Holocaust, der alles bislang da gewesene Grauen in den Schatten stellt, war es so wichtig, das Schweigen der Opfer zu brechen, das Vergessen zu verhindern und auf allen ihm noch möglichen Wegen das Thema aufzugreifen und zu verarbeiten – zumal wenn Agambens These des Homo sacer Richtigkeit beanspruchen kann. Auch gerade die Lyrik kann, durch eine erhöhte Abstraktion, sich noch am ehesten der totalen Verdinglichung nach Auschwitz widersetzen und subversiv agieren.

Auf diesem Weg lässt sich das Verbrechen hinausschreien und auch ein anderes Credo Adornos erfüllen, nämlich sein Kategorischer Imperativ, dass wir so handeln sollten, dass sich Auschwitz nicht mehr wiederhole. Darum hat Adorno abermals seine Lyrikthese eingeschränkt und gestand auch den Opfern in seiner Negativen Dialektik zu:

„Das perennierende Leid hat soviel Recht auf Ausdruck wie der Gemarterte zu brüllen; darum mag falsch gewesen sein, nach Auschwitz ließe kein Gedicht sich mehr schreiben. Nicht falsch aber ist die minder kulturelle Frage, ob nach Auschwitz noch sich leben lasse.“

Paul Celan hat diese Frage Adornos jedoch verneint und begann 1970 in Paris Suizid.

Verwendete Literatur

Adorno, Theodor W.: Gesammelte Werke in zwanzig Bänden, Bd. 6/10-11, herausgegeben von Tiedemann, Rolf, Frankfurt a. M. 1997.
Agamben, Giorgio: Homo sacer. Il potere sovrano e la nuda vita, Torino 1995.
Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München/ Zürich 2013.
Bonheim, Günther: Versuch zu zeigen, daß Adorno mit seiner Behauptung, nach Auschwitz ließe sich kein Gedicht mehr schreiben, recht hatte, Würzburg 2002.
Celan, Paul: Gesammelte Werke in fünf Bänden. Erster Band: Gedichte I, herausgegeben von Allemann, Beda/ Reichert, Stefan, Frankfurt a. M. 1983.
Dingeldey, Philip J.: Die organisierte Banalität des Bösen, in: Potemkin-Zeitschrift.de vom 05. Januar 2015.
Heller, Agnes: Die Weltzeituhr stand still, in: Die ZEIT vom 07. Mai 1993.
Renaud, Bernard: Adorno et la poésie « apres Auschwitz « , in : Tache-Aveugle.net vom 6. Oktober 2007.
Seng, Joachim: Ab- und Wiesengründe. Celan, Adorno und ein versäumtes Gespräch im Gebirg, in: Frankfurter Rundschau vom 25. November 2000.

Schreibe einen Kommentar

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.