Am gestrigen Sonntag endete der Bundesparteitag der Piraten in Neumünster (Schleswig-Holstein). Im Mittelpunkt der zweitägigen Sitzung standen, neben einigen Satzungsänderungen und (grösstenteils auf den nächsten Parteitag vertagten) Anträgen, die Wahlen eines neuen Vorstandes. Forderungen zur Trennung von Amt und Mandat und der Verlängerung der Amtszeit des Vorstandes auf zwei Jahre wurden im Vorfeld der Wahlen abgelehnt. Neuer Bundesvorsitzender ist der 42-jährige Kriminologe und Regierungsdirektor im Verteidigungsministerium Bernd Schlömer aus Hamburg, der den bisherigen Amtsinhaber Sebastian Nerz ablöst. Nerz und Markus Barenhoff wurden als Stellvertreter gewählt. Dem jetzt erweiterten Gremium gehören darüber hinaus noch an: Swanhild Goetze als Schatzmeisterin, Sven Schomacker als Generalsekretär und Klaus Peukert, Matthias Schrade und die eigentlich als Favoritin für den Parteivorsitz gehandelte Julia Schramm. Der 35-jährige Johannes Ponader aus Berlin ersetzt Marina Weißband, das bisherige „Gesicht“ der Piraten, als Politischer Geschäftsführer. Der Theaterpädagoge ist seit 2010 Mitglied der Piraten und hat massgeblich dazu beigetragen das Konzept des Bedingungslosen Grundeinkommens ins Parteiprogramm aufzunehmen. Darüber hinaus ist er in der Occupy-Bewegung aktiv und sieht sich als Geschäftsführer in der Rolle eines Transmissionsriemens zwischen der inhaltlichen Arbeit an der Basis und dem Vorstand. Besonderes Augenmerk will er dabei auf den weiteren Ausbau direkter Mitbestimmung aller Piraten im politischen Meinungsbildungs- und Entscheidungsprozess legen. Wie der neue Bundesvorsitzende Schlömer sieht auch Ponader die Frage möglicher Regierungskoalitionen in der Zukunft pragmatisch, da man sich durchaus vorstellen kann bei genügend inhaltlicher Übereinstimmung mit allen demokratischen Parteien zusammenzuarbeiten. Konkrete Entscheidungen liegen aber immer in der Verantwortung der Gesamtheit der Piraten des betreffenden Verbandes.
Während es den Piraten damit gelungen ist einen weiteren Schritt weg von der reinen Protestbewegung mit teilweise chaotischen Parteitagen und schillernden Meinungsäusserungen hin zu einer im Politbetrieb ernstzunehmenden Partei zu gehen, wächst gerade angesichts dieser positiven Entwicklung die Sorge in der Linken. Einstmals selber auf der Welle des Protestes gegen die sogenannten etablierten Parteien in die Landtage und in grosser Stärke in den Bundestag gespült, sehen sich die Sozialisten in Ost und West seit einiger Zeit im medialen, elektoralen und inhaltlichen Abwind. Ihre einstigen Markenkerne sind angesichts dauerhafter interner Streitigkeiten um Personen und Ziele kaum noch erfahrbar und wirken mit der allumfassenden und damit gleichzeitig fleischlosen Hauptüberschrift „Soziale Gerechtigkeit“ vom politischen Zeitgeist und der Lebenswirklichkeit der Bevölkerung längst überholt. Hat man bis vor Kurzem die Piraten, ihre Wähler und ihre Forderungen noch müde belächelt, weil man sich aufgrund der eigenen gefestigten marxistischen Weltanschauung auf der historischen Siegerseite der Entwicklung wähnte, ist diese altväterliche Arroganz mittlerweile einem bunten Potpourri aus oberflächlicher Kritik, dümmlichen Vorwürfen, sozialistischer Wählerschelte und mehr oder weniger offen zum Ausdruck gebrachten Neid auf die Erfolge der Piraten gewichen.
Sollte zum Beispiel die Plakataktion in Schleswig-Holstein mit ihrem peinlichen Slogan „Keine Stimme den Nazis. Egal unter welcher Flagge sie segeln!“ überhaupt eine Wirkung erzielt haben, dann sicher nicht so, wie sich das verzweifelte Strategen der Linken vorgestellt hatte. Die Linke liegt trotz, oder vermutlich eher wegen, eines solchen Wahlkampfes aus der propagandistischen Mottenkiste bei abgeschlagenen 2,5%, die Piraten hingegen werden souverän mit einem eventuell sogar zweistelligen Ergebnis den Kieler Landtag entern. Da es der Linken augenscheinlich nicht gelingt die Piraten inhaltlich und politisch zu stellen oder zumindest zu verstehen, was den Wähler veranlasst dieser Partei seine Stimme zu geben, schwingt in jeder linken Äusserung zu den Piraten der weinerliche Unterton des von der Entwicklung überholten Politfossils mit. Selbst wenn sich die Linksjugend zum Thema zu Wort meldet, verströmen ihre Erklärungen nur den muffigen Geruch alternder Jugendfunktionäre einer ehemaligen Staatspartei. So will zum Beispiel die Linke Jugend- und Hochschulgruppe Magdeburg angesichts der basisdemokratischen Beteiligung aller Mitglieder und der Ablehnung des Delegiertenprinzips ein Demokratiedefizit bei den Piraten erkannt haben und bittet die Piraten „eindringlich, kritisch mit diesen Zuständen umzugehen und die Leute nicht zum Narren zu halten“, weil „Letzteres ziemlich nachhaltige Auswirkungen auf den Politikbock der Menschen haben könnte, die euch mal toll fanden“.
Der noch amtierende Bundesvorsitzender der Linken, Klaus Ernst, überschreibt seinen Artikel, den die eigene Parteizeitung aufgrund inhaltlicher Mängel nicht abdrucken wollte, mit dem Satz „Parteien, die nicht gestalten wollen, haben keinen Sinn“. Ein Satz, der ungewollterweise den Zustand der Linken in einigen Teilen des Landes sehr treffend beschreibt. Statt sich wenigstens ansatzweise und ernsthaft mit dem Erfolg der Piraten auseinanderzusetzen, bleibt auch Ernst oberflächlich und macht deutlich, dass man nur am Zustand der Linken interessiert ist. Aber nicht über den eigenen Tellerrand zu schauen vermag oder die Piraten als politische Partei ernst zu nehmen in der Lage ist. Erst zum Schluss seines „Strategiepapiers“ findet Ernst den Faden wieder und schliesst so arrogant wie es einem scheidenden Vorzeigelinken nur möglich ist mit dem Satz: „P.S.: Und über die Piraten reden wir wieder, wenn wir wissen, ob ihre Flotte in diese Richtung segeln wird“. So schneidet man sich auf jeden Fall von der durch die Piraten ausgelösten Diskussion über die Politik des 21. Jahrhunderts nachhaltig ab. Oder glaubt Ernst tatsächlich, dass die „Flotte der Piraten“ hinter dem leckgeschlagenen Tanker der Linken in den Untergang segelt?
Das Forum demokratischer Sozialismus sollte als Strömung innerhalb der Linken, die emanzipatorische, radikalreformerische Politik sowie den demokratischen Sozialismus verfolgt, deutlich besser aufgestellt sein, um in der Partei eine ernsthafte Debatte über die Piraten anzustossen und nach Aussen zu ihnen Anknüpfungspunkte für konkrete Zusammenarbeit zu erarbeiten. Schaut man sich allerdings die ersten zum Debattenthema „Herausforderung Piratenpartei“ veröffentlichten Texte an, fällt auch hier auf, dass innerhalb der Linken entweder nicht verstanden wird, welche Umwälzungen der Erfolg der Piraten für die etablierten Parteien (zu denen auch die Linke gehört) bedeutet oder dass man schlicht und einfach die Augen davor verschliessen will und die Piraten gar nicht erst als politische Partei „zulassen“ will. So erkennt zum Beispiel Katja Kullmann die Piraten in ihrem Text „Man muss die Piraten nicht hassen“ nur als „Speerspitze der kreativen Klasse“, die nicht mehr nur spielen, sondern ihr Kapital gewinnbringend einsetzen will. Das klingt völlig unpolitisch und soll es wohl auch, denn die wirkliche politische Bewegung (die nur nach links zeigen kann), findet in Kullmanns simpler Welt ausserhalb der Piraten statt:
Unterdessen diskutieren, demonstrieren, protestieren weltweit gerade die Menschen, viele, überall. Und es sind nicht die Alten, die da auf die sprichwörtliche Straße gehen. Eine große Zahl von ihnen ist sogar jünger als das allerallerjüngste Mitglied der PiratInnen. Sie streiten um Gerechtigkeit und Fairness, sie nehmen ein fürchterlich altmodisches Wort wie »Umverteilung« in ihre Münder, sie wehren sich gegen eine Segregation der Städte und ein weiteres Auseinanderdriften der sogenannten sozialen Schere – es sind wirklich viele, und wirklich überall.
Die Piraten hingegen würden nur versuchen ihr „Schäfchen alsbald ins Trockene zu bringen“. Hier schwingt zumindest zwischen den Zeilen Neid auf die Piraten mit, die es, anders als die jungen Reformsozialisten in der Linken, geschafft haben das Lebensgefühl eines grossen Teils der Bevölkerung wahrzunehmen, dieses in den politischen Raum zu artikulieren und dafür mit elektoralem und materiellen Erfolg belohnt werden.
Die Linke wird ihren Umgang mit den Piraten noch finden müssen. Die derzeitige Haltung zwischen Ablehnung, Abwertung und Neid führt, zumindest lassen das die Umfragen und Wahlergebnisse vermuten, in eine politische Sackgasse. Sich aus dieser zu befreien ist auch eine der Aufgaben, vor denen der neue Parteivorstand der Linken nach Göttingen steht. Die Piraten selber scheinen nach ihrem Parteitag in Neumünster zum politischen Dialog bereit. Sollte die Linke, trotz ihres derzeitigen Abwindes, auch dazu bereit sein auf Augenhöhe mit den Piraten in einen Dialog einzutreten, könnte dies gerade auch für die Linke fruchtbar sein.
(mb)