Nicht eine „Partei der Arbeit“, sondern eine „Partei der Bürger“

Vieles ist in den letzten Wochen seit dem Wahldebakel der LINKEN innerparteilich und in den Medien geschrieben, berichtet, zusammengereimt und lanciert worden. Einiges zu mehr oder weniger hilfreichen Personaldebatten, vieles zu den vermeintlichen, gefühlten oder tatsächlichen Ursachen des Wahlergebnisses und des Umfragetiefs, in dem sich die Partei seit einiger Zeit befindet. Manchmal sind beide Aspekte verbunden, oftmals geht gerade die Ursachenforschung, so sie denn als Forschung zu bezeichnen ist, der eigentlichen Frage nicht auf den Grund, sondern laviert mehr oder weniger gewollt nur an der Oberfläche des Problems. Die Rede von Klaus Ernst auf dem Parteitag in Hamburg spitzt hilfreicherweise beide Debatten zu. Im tatsächlich politischen Teil seiner Rede beschreibt Ernst einen, von ihm so bezeichneten, „Red New Deal“ als Weg der LINKEN aus ihrem Tief und als Modell für die Ablösung der kapitalistischen Gesellschaftsordnung, die – so in der Rede postuliert – am Ende ihrer Lebenszeit angekommen sei und auf die Fragen der Zukunft keine befriedigenden Antworten zu geben in der Lage wäre. Adressat dieses von Ernst entworfenen Modells sind natürlich nicht nur die Mitglieder der Partei und die Wähler, sondern vor allem Grüne und SPD als natürliche Gegner (und von ihm verleugnete oder tatsächlich nicht als solche erkannte natürliche Partner) der LINKEN im Ringen um die Gestaltungsmacht über die Zukunft dieses Landes und seiner Gesellschaft.

Es ist Ernst hoch anzurechnen, dass er erkennt, welche Potentiale und Bedürfnisse der Menschen gerade die Grünen ansprechen und in politische Wirkung umsetzen können. Die ökologische Frage scheint – zumindest auf den ersten Blick – auch in der Welt von Ernst & Co. ein zentrales und mit der Ökonomie verknüpftes Element der zukünftigen Entwicklung einer post-industriellen Gesellschaft zu sein. Statt diese Erkenntnis aber in ein wirklich zukunftsweisendes politisches Projekt münden zu lassen, wird weiter nur versucht einer sich seit den Zeiten von Marx und Keynes dramatisch veränderten Welt und Gesellschaft mittels klassischer marxistischer und keynesianistischer Argumente und Theorien eine schon lange nicht mehr wirksame Medizin zu verordnen. Das überkommene Modell der möglichst lebenslangen, lohnabhängigen Beschäftigung, wie es gerade in westdeutschen Gewerkschaftskreisen immer noch lebendig ist, taugt nicht für eine Zukunft in der die Zahl der Industriearbeitsplätze rückläufig ist, da glücklicherweise weitere Automatisierung und Rationalisierung der Produktion, die Menschen von den Fesseln der Erwerbsarbeit befreit. Die Anerkennung der tatsächlichen Lebenswirklichkeit und der sich immer weiter dynamisierenden und divergierenden Entwicklung von Arbeitskonzepten und Lebensbiografien kommt in einem solchen arbeitsfetischistischen Weltbild nicht vor. Die schlichte Einfachheit des von Ernst gezeichneten Weltbildes ist zwar Grundlage des vermeintlichen „Charmes“ für Parteitags- und Wahlkampfreden – zumindest für die ohnehin überzeugten Parteigänger – aber auch gleichzeitig die grösste Schwäche, wenn diese Sicht auf die tatsächliche Erfahrungswelt der Menschen dieses Landes trifft.

Mit dem unsäglichen Begriff „Wutbürger“ wurde von den Medien recht prägnant beschrieben, dass es den Menschen eben nicht mehr (nur) um vermeintliche oder tatsächliche Klassengegensätze – da sie schon lange nicht mehr in eben diesen Klassen denken – oder die Eigentumsfrage geht. Sie verlangen zu Recht eine Stärkung ihrer bürgerlichen Beteiligungsrechte an politischen Entscheidungsprozessen, Einfluss auf Entscheidungen auf allen Ebenen und wollen als Bürger, als die Individuen, die gemeinsam diese Gesellschaft bilden, wieder ernst und beim Wort genommen werden. Diese Kritik richten sie ohne Achtung der Parteizugehörigkeit an alle, die sie als „Oben“ identifiziert haben und lassen nur den Parteien, durch ihr Kreuz bei einer Wahl, Gestaltungsmacht zukommen, die sich ihrer konkreten und abstrakten Forderungen ernsthaft und kompetent annehmen. Dies musste nicht nur die LINKE bei den letzten Wahlen schmerzlich spüren. Die Menschen verlangen nach mehr Einflussmöglichkeiten auf die Gestaltung der Gesellschaft durch einen entsprechenden gesetzlichen Rahmen und wissen diese Möglichkeiten dann auch meist ohne Bevormundung durch Parteien – aber gerne in Kooperation mit diesen und anderen gesellschaftlichen Akteuren – klug zu nutzen. Es geht somit in Zukunft nicht mehr um eine wie auch immer geartete mehr oder weniger weitreichende Enteignung der Kapitalisten, sondern um eine Ermündigung (diese Wortschöpfung sei verziehen ) der Bürger und, um den Bogen zur Wirtschaft als Kern gesellschaftlichen Handelns zu schlagen, der Verbraucher. Macht entsteht in Zukunft eben nicht mehr aus dem Eigentum oder der Verfügung darüber, sondern aus der Macht der Nachfrager, der Bürger. Passende Beispiele gab und gibt es zur Genüge, so man nicht aufgrund ideologischer Scheuklappen aus politischem Selbstschutz die Augen davor verschliesst. Historisch gesehen lässt sich feststellen, dass zu Zeiten der Revolution in Russland die Macht noch aus den Gewehrläufen kam, während nachfolgend Staatssozialismus und Kapitalismus gleichermassen die Macht aus dem Eigentum bezogen. In Zukunft wird sich wirkliche Macht über gesellschaftliche Prozesse nur noch aus dem Potential und Willen des Bürgers selbst bilden können. Dies zu erkennen ist die Zukunftsaufgabe jeder Partei, die am politischen Willensbildungsprozess teilnehmen will. Dass hierbei für Bürger und Parteien ökologische und ökonomische Fragestellungen untrennbar verbunden sind ergibt sich zwangsläufig aus der erfahrbaren Grenze des ressourcenfressenden Wachstums der vergangenen Jahrzehnte und Jahrhunderte. Dem „Kapital“ ist es schon lange nicht mehr möglich für sich – und die Menschen – hinreichende Profite in der bestehenden Produktion und Wertschöpfung zu erzielen (von Marx als „Gesetz vom tendenziellen Fall der Profitrate“ erkannt und von den meisten „Marxisten“ immer noch nicht verinnerlicht). Gesellschaftlich gefordert ist eine Umlenkung des verfügbaren Kapitals und der dem Kapitalismus inhärenten Innovationspotentiale in zukünftig wachstumsfähige und gesellschaftlich im Konsens erkannte wichtige Felder; ein ökologischer Umbau der Gesellschaft, zumindest unter Beibehaltung des erreichten Wohlstands.

Erfolgreich gelingen kann dies nur mit gleichberechtigter Teilhabe aller Akteure am gesellschaftlichen Wohlstand und den dann zwangsläufig vollkommen transparenten politischen Entscheidungsprozessen. Die Konzepte der „Liquid Democracy“, wie von den Piraten propagiert, die Überlegungen und Diskussionen zu „Open Government“ oder die Arbeiten in der LINKEN am Thema „Netzpolitik“ seien hier als nicht abschliessende Beispiele angeführt. Nur eine gleichberechtigte Vernetzung von Verbrauchern, Produzenten, Firmen, Forschung und Bildung und dem Staat mit dem gemeinsamen Ziel einer ökologisch-ökonomischen Neuorientierung und Zeitenwende kann das moderne Gemeinwesen des 21. Jahrhunderts bilden. Als für die Bürger wichtige materielle Grundlage, die es ihnen ermöglicht diese Gleichberechtigung ohne Existenzangst zu fordern und zu leben, reicht es nicht Hartz IV zu erhöhen oder abzuschaffen oder einen gesetzlichen Mindestlohn egal in welcher Höhe einzuführen, sondern Gesellschaft und Politik müssen sich auf eine repressionsfreie Grundsicherung für alle Bürger als den ihnen zustehenden Anteil am gesamtgesellschaftlichen Reichtum verständigen. Die auch in der LINKEN erarbeiteten Konzepte zum BGE können hier als Schritt in die richtige Richtung eine wertvolle Grundlage zur weiteren Diskussion liefern.

Dem hier Genannten – und damit schliesst sich der Kreis zur politisch-inhaltlichen aber auch zur personalpolitischen Debatte in der LINKEN – dient es aber nicht, wenn alte Köpfe mit alten Ideen und für die Zukunft untauglichen Rezepten gegen gleich alte Köpfe mit den gleichen Ideen aber besserer Medienwirkung ausgetauscht werden. Für eine zu fordernde LINKE, die sich als gesellschaftliche „Zukunftswerkstatt“ für und mit den Bürgern versteht und der als solche wieder Kompetenz zugestanden und Vertrauen entgegengebracht wird, müssen Menschen in die Führung gewählt und Verantwortung übertragen bekommen, die diese Themen für sich, die Partei und die Gesellschaft erkannt haben und aktiv an deren Weiterentwicklung arbeiten. Die Zukunft ist keine Gefahr, sondern birgt auf dem erreichten Stand die Chance auf eine wirkliche, demokratische Umgestaltung der Gesellschaft. Wenn Gleichberechtigung aller Menschen und ein Leben in Freiheit und Sicherheit mit verbrieften demokratischen Teilhaberechten an allen gesellschaftlichen Prozessen der Kern dessen sind, was wir als Sozialismus definieren, dann sollte dies der Weg der LINKEN und ihr in letzter Zeit so viel beschworener Markenkern sein.
(mb)