Die Soziale Marktwirtschaft ist gescheitert! In unseren Zeiten der neoliberalen Sozialkälte muss man es eingestehen.
Anfangs war es ja ein schönes Prinzip; diese Soziale Marktwirtschaft, die zu Beginn der BRD eingeführt wurde – zumindest auf dem Papier. Sie wurde das typisch Europäische in der bipolaren Welt des Ost-West-Konfliktes.
Sie bedeutete weder die sozialistische Planwirtschaft der Sowjetunion und ihrer Satellitenstaaten, die kein bisschen Flexibilität zuließ, so gegen einen freien Markt chancenlos schien und dennoch das Volk nicht vor sozialer Unterdrückung zu schützen vermochte und wollte; noch bedeutete sie die absolut freie Marktwirtschaft der kapitalistischen USA, die bis heute nicht viel von Sozialsystemen halten (immerhin kann man in Westeuropa Mindestlöhne fordern, ohne als sozialistischer Staatsfeind gebrandmarkt zu werden). Vielmehr bedeutete die Soziale Marktwirtschaft eine Mischung aus beiden, sozusagen einen friedlichen Kompromiss, den Europa als Mittelmacht gefunden haben wollte: Zwar sollte der Markt frei sein, sich weitgehend selbst regulieren, der Staat sollte, wenn möglich, nicht eingreifen, nicht die Kontrolle übernehmen und nicht am Ende usurpatorisch sowie despotisch alles auf sich vereinen. Wenn dies aber nicht möglich war, wenn der freie Markt das Sozialsystem oder menschliche Existenzen bedrohte, sollte der Staat die nötigen Instrumente haben, sein Volk vor dem Markt zu schützen. Das wurde schon durch das zuvor festgesetzte Sozial-, Renten- oder Krankensystem des Gesetzgebers teils realisiert (via Arbeitslosengeld etc.). Die Soziale Marktwirtschaft sollte ergo das bewirken, was auch die deutschen Sozialdemokraten seit Godesberg 1959 für sich beanspruchen und man auf eine einfache Formel bringen kann: So viel Markt wie möglich, so viel Staat wie nötig! Die Freiheit des Marktes sei garantiert, aber ebenso die Freiheit von der Repression durch Markt oder Staat. Jeder sei seines Glückes Schmied, die Freiheit bewirke hier Züge der Gleichheit im Sozialsystem, jedoch nicht vollständig, sodass durch Lohnunterschiede immer noch die Leistung des Individuums gewürdigt werden könne. Selbstverständlich hat aber hier die Freiheit den Vorrang vor der Gleichheit – als ob beide Werte sich nicht einander bedingen, sondern teils ausschließen würden.
Eine relativ lange Zeit lief dieses neuartige Projekt – ja, man könnte fast sagen Experiment – erstaunlich gut, denn unser Sozialsystem war relativ intakt. Schließlich hat die Soziale Marktwirtschaft als historische Realität die Planwirtschaft überlebt und konnte sich nun als westliche Alternative zum Turbokapitalismus der USA in der EU etablieren. Alles schien gut!
Doch genau hier liegt die Krux. Man schien mit dem Wegfall des sowjetischen Gegners das Ganze weniger zu beachten, da die Soziale Marktwirtschaft nun weniger ideologisch aufgeladen war. Dabei bräuchte ein solches Experiment ständig ein hohes Maß an Aufmerksamkeit und Vorsicht, aus einem einfachen Grund: Die einfach und schön klingenden Prinzipien der Verquickung des freien Marktes mit einem stabilen Sozialsystem sind eigentlich paradox! Denn von verschiedenen Systemen werden die schönsten Teile herausgepickt und irgendwie vereint. Es sind im Grunde nicht zusammenpassende Ideen, die hier zusammengeworfen wurden und sollte man nicht auf sie achten, würden sie umso schneller auseinanderreißen. Genau das passiert in der gegenwärtigen, noch nicht überwundenen Wirtschaftskrise: Die Soziale Marktwirtschaft reißt auseinander!
Einmal liegt das an der mangelnden Aufmerksamkeit durch das Ende der Ideologisierung, aber auch an der Schwächung der politischen und sozialen Klassen, die des sozialen Ausgleichs in dieser Marktwirtschaft bedürfen. Mit dem Abstieg des Keynesianismus begann auch der Abstieg der Gewerkschaften, der Arbeiter, der Invaliden etc. Sozialleistungen für sie wurden eingestellt oder gekürzt – teils auf die menschenverachtende Art und Weise, wie es die Agenda 2010 von Gerhard Schröder eindrucksvoll belegte.
Dagegen stieg eine neue Klasse noch weiter auf: Die Schicht der Manager, Unternehmer und Firmenchefs, die unter dem Credo des Neoliberalismus den nun freiesten Markt predigen; Freiheit ist für sie die rein ökonomische Freiheit, die dafür unbegrenzt scheint – weder ein regulierender Staat, noch die Freiheit und das Recht des anderen Individuums schränken sie ein. Dadurch entsteht ein sozialdarwinistisches Konstrukt, wo der Stärkere überlebt und am Ende nur noch die Freiheit von demjenigen zählt, der am meisten Kapital besitzt, der seinen Mehrwert maximieren kann. Die natürliche Selbstbeschränkung der Kapitalisten, die noch Adam Smith annahm, wirkt ad absurdum geführt.
Wieso greift nun hier nicht der demokratisch gewählte Repräsentant ein und kämpft für seinen Wähler und sein Sozialsystem gegen diesen kalten Neoliberalismus? Wieso sorgt er sich nicht dafür, dass die Soziale Marktwirtschaft, dieses empfindliche Experiment, auf dass sie doch erst so stolz waren, weiter bestehen kann? Das können wir nicht sicher beantworten. Wir wissen aber, dass in der allgemeinen Mentalität der freie Markt an Aufwind gewonnen hat und die Gelder sowie die Lobbyarbeit der Firmen, Unternehmen und Aktiengesellschaften in unserer postindustriellen Zeit zugenommen haben, der Bürger eher von der Politik unterhalten wird und so etwas entsteht, das Colin Crouch Postdemokratie nennt. Die Postdemokratie bedeutet für die Marktwirtschaft einen großen Einfluss der Wirtschaft auf den Staat, aber kaum Einfluss des Staates auf die Wirtschaft, weshalb Wahlen zwar noch stattfinden, aber an Bedeutung verlieren, da Lobbyisten und PR-Leute die Geschicke der Politik lenken. Die Soziale Marktwirtschaft ist damit nicht mehr erfüllt. Denn zwar gibt der Staat Milliardenbeträge aus in der Finanzkrise, um Banken zu retten, aber die Kürzungen der Sozialsysteme oder etwa die Verweigerung einer Hilfe für die tausenden entlassenen Mitarbeiter maroder Firmen, wie der 25000 Schleckermitarbeiterinnen, um nur ein Beispiel zu nennen. Der Turbokapitalismus, die Postdemokratie und der Neoliberalismus sind die derzeit größten Herausforderungen des Sozialen – und damit auch jener Marktwirtschaft, die sich selbst als sozial suggeriert. Fast wirkt es dadurch, als ob die Soziale Marktwirtschaft in dieser sozialkalten Umgebung unwichtig geworden wäre und sich gar nicht aufrechterhalten ließe, durch seine inneren Antagonismen, die sich in der Krise gegenseitig blockieren. Es scheint, als ob das Paradoxon der Sozialen Marktwirtschaft sie letztendlich zerrissen hat und der Neoliberalismus hat nur die Marktwirtschaft aufgehoben, sie mit dem Attribut „frei“ belegt und das Soziale vollends sterben lassen – freilich ohne die Begrifflichkeit „sozial“ abzuschaffen.
Doch was könnte helfen? Bleibt jetzt nur noch übrig, eine Entscheidung zwischen den beiden konsequent getrennten Wirtschaftssystemen zu treffen, also freie Marktwirtschaft oder „sozialistische“ Planwirtschaft zu wählen? Oder können wir nach kurzzeitiger Ausschaltung, wenn die ökonomischen und die finanziellen Krisen eines Tages überwunden sein werden, wieder zurück und der Sozialen Marktwirtschaft neues Leben einhauchen? Ich glaube, nichts davon ist möglich oder sinnvoll. Weder der einst real existierende Sozialismus noch der real existierende Neoliberalismus sind akzeptable Alternativen. Auch kann der Mensch nicht mehr zurück in seiner Entwicklung. Wir können nicht einfach erwarten, wenn die Soziale Marktwirtschaft von Wirtschaft und Politik zerstört wurde, dass beide sie später wieder einführen oder neu aufrichten. Sollte die Krise einmal überwunden sein, so hätte immer noch der Neoliberalismus das Zepter in der Hand und würde im postdemokratischen Staat darauf bestehen, dass die Macht bei ihm bleibt, im freien Markt und der Begriff Soziale Marktwirtschaft wäre, wie oft schon jetzt, nur noch eine leere Hülse, bloße Zierde. Die Soziale Marktwirtschaft muss jetzt inmitten der Krise fallen gelassen werden – denn sie als Experiment ist gescheitert – und es braucht eine Systemänderung – und zwar eine gänzlich neue!
Und die politische Macht neoliberaler Wirtschaft muss gebrochen werden! Unternehmen dürfen nicht wie Personen agieren, die ebensolche politischen Rechte haben, wie ein normaler Bürger – nur eben mit unendlich viel mehr Geld und mächtigeren Verbindungen. Ihre Macht rührt von der Einflussnahme auf unsere politischen Akteure, auf Abgeordnete, Staatssekretäre, Minister, Regierungschefs, Präsidenten, Koalitionen, Kanzler, Kommissare etc. her. Diese Verbindung muss gekappt werden. Doch wie soll das möglich sein? Das ist nur zu bewerkstelligen durch Verfassungsänderungen in den meisten westlichen Staaten. Die gewählten Abgeordneten müssten vom Volk weisungsbefugt werden, mit imperativen Mandaten. Bei Missachtung der Anweisungen müssten sie sofort ihres Amtes enthoben werden können. Eine strafrechtliche Immunität des Abgeordneten wäre dennoch vielleicht weiterhin hilfreich, damit es keine despotische Volksherrschaft wird – auch Grund- und Menschenrechte und Gerichte müssten unabhängig bleiben. Ein solches System wäre derzeit nur möglich über regionale Versammlungen oder – wenn es etwas sicherer und effektiver ist – eines Tages das Internet. Dann könnte das Volk selbst entscheiden, welches Wirtschaftssystem es haben möchte. Sollte es sich dann immer noch für die neoliberale Marktwirtschaft entscheiden, dann nur, weil Unternehmen Mehrheiten des Volkes gekauft hätten, was soziale Sicherheit garantieren würde und so das ganze neoliberale System sich selbst unterminieren würde. Das wäre also höchst unwahrscheinlich. Das Volk könnte über Einkommen entscheiden, über gleiche oder ähnliche oder unterschiedliche Löhne, Sozialsysteme (da ein Großteil Rentner sind, würde wohl für das Rentensystem noch wesentlich mehr getan werden) und da es für sich entscheidet, würde es eigennützig handeln und eben tatsächlich selbst handeln und nicht nur wie viele Abgeordnete Sozialverhältnisse versprechen, die ohnehin nicht erfüllt werden. Natürlich müsste man durch soziale, kulturelle und ökonomische Minderheitenrechte den Staat vor zu viel eigennützigen Entscheidungen schützen. Dies wäre kein sozialistisches System. Es wäre aber auch keine freie Marktwirtschaft. Es wäre eine echte Volksherrschaft und Volkswirtschaft, eine Basisdemokratie – und sie wäre so wohl zumindest eine sozialere Wirtschaft als es die jetzige ist.
(pjd)
Über den Autor:
Philip J. Dingeldey, geboren 1990, studiert in Erlangen-Nürnberg Geschichte und Politikwissenschaft. Nebenher hat er schon in verschiedenen regionale und überregionalen Medien journalistische und essayistische Texte veröffentlicht. Auch in verschiedenen Anthologien und Literaturzeitschriften hat er schon literarische Kurzprosa publiziert und 2012 erschienen seine Kurzgeschichtensammlung „Koitus mit der Meerjungfra.u Geschichten am Rande“ und sein Gedichtband „Afterrauch und Todesesser. Gedichte aus unserer Zeit“.
Die „freie“ Wirtschaft
Heute wissen wir, dass sich die Wirtschaftswissenschaft tatsächlich geirrt hat. Nicht etwa, dass ihre Schlussfolgerungen nicht gestimmt hätten. Nein, es ist vollkommen richtig, dass eine freie Wirtschaft zu einer dauernden Harmonie von Angebot und Nachfrage, zur Vollbeschäftigung, allmählichen Zinssenkung, ansteigenden Reallöhnen und Wirtschaftsblüte führen muss. Nur die Voraussetzungen bestehen nicht. Was man für eine Wirtschaft der freien Konkurrenz gehalten hat, ist eben keine freie, sondern eine Monopolwirtschaft. Eine solche kann begreiflicherweise die günstigen Auswirkungen, die man von einer freien Wirtschaft mit Recht erwarten darf, nicht erfüllen!
Die schwerstwiegenden Folgen ergaben sich, als die Politik sich des Widerspruchs bemächtigte. Man machte für die üblen Folgen der Monopolwirtschaft, für die wiederkehrenden Wirtschaftsstörungen, Krisen, Dauerarbeitslosigkeit, chronische Unterbeschäftigung, für die sozialen Missstände, die Verarmung der breiten Massen, die Proletarisierung des ehemaligen Mittelstandes usw. die – nicht existierende – freie Wirtschaft verantwortlich. Man warf und wirft der Wirtschaftswissenschaft vor, die von ihr gepriesene und nach ihrer ausdrücklichen Erklärung verwirklichte „freie Wirtschaft“ tauge nichts, habe nicht gehalten, was man sich von ihr versprochen habe und führe, anstatt zur vorausgesagten Wirtschaftsblüte und Harmonie, zu unerträglichen wirtschaftlichen und sozialen Missständen. Das Heil liege in einer staatlichen Planwirtschaft, in einer rigorosen Einschränkung, wenn nicht gar Abschaffung der privaten Unternehmertätigkeit, in einer Abkehr von der „freien“ Wirtschaft. Andere politische Richtungen wieder verweisen auf die zahlreichen Übelstände der staatlichen Planwirtschaft und fordern die „Rückkehr zur freien Wirtschaft“ – die es noch nie gegeben hat -, kurzum: die Begriffsverwirrung ist allgemein.
Die aufgetretenen Missstände dieser so genannten freien Wirtschaft in die Schuhe zu schieben, ist ebenso verkehrt, wie zu ihr zurückkehren zu wollen. Beides ist ein Irrtum. Da es noch niemals eine freie Wirtschaft gegeben hat, ist es ebenso unsinnig, sie zurückzuwünschen, wie es unsinnig ist, sie für soziale und wirtschaftliche Missstände verantwortlich zu machen oder ihr die Nichterreichung des Wirtschaftsideals vorzuwerfen. Was heute als freie Wirtschaft bezeichnet zu werden pflegt, ist bestenfalls eine halbfreie Wirtschaft, eine Mischung von Markt- und Monopolwirtschaft, ein Bruchstück der freien Wirtschaft, mit einem Wort: Zinswirtschaft. Nicht weil die Wirtschaft (angeblich) frei war, hat sie versagt – wie die Anhänger der so genannten Planwirtschaft glauben -, sondern im Gegenteil: weil sie unfrei war und daher ein Instrument der Ausbeutung, musste sie versagen! Nur deshalb zeigten sich die bekannten wirtschaftlichen und sozialen Missstände.
Marktgerechtigkeit
Lieber Werner G.,
vielen Dank für Ihre weitgehend konstruktive und äußert ausführliche Kritik. Wegen der Vielzahl an Kritikpunkten, die Sie anbringen, erscheint es mir eher wenig sinnvoll, auf jeden Ihrer insgesamt 18 Punkte näher einzugehen und diese auch teils zu widerlegen oder Missverständnisse zu beseitigen. Daher kann ich Ihnen nur eine allgemeine Antwort geben und hoffe so, Sie ein wenig zufriedenstellen zu können:
An sehr vielen Stellen scheinen Sie meinen Essay leider nicht sehr genau gelesen zu haben, bezeihungsweise interpretieren Dinge hinein, die ich so nicht intendiert oder impliziert habe. Ich gehe davon aus, dass dies nicht Ihrem Alter geschuldet ist. So habe ich die Frage nach Mindestlöhnen in Deutschland nicht abgelehnt, habe nie behauptet, dass die Menschenrechte als Ganzes in den westlichen Staaten verwirklicht wären (wer käme schon auf diese Idee?!!!). Des Weiteren meine ich nicht, dass die Soziale Marktwirtschaft, die in der BRD vor allem in der Nachkriegszeit geprägt wurde, gut gewesen sei, bis zur gegenwärtigen Krise, ich meine nur, dass sie ökonomisch (nach ihren eigenen kapitalistischen Ansprüchen) relativ erfolgreich gewesen sei. Das heißt nicht, dass sie automatisch sozial gerecht war/ist. Damit bestreite ich auch gar nicht den von Ihnen angesprochenen Naziursprung. Das die sozialistische Planwirtschaft als solche keine war, bezweifle ich ebenfalls nicht, genauso wie der real existierende Sozialismus kein Sozialismus war. Aber dies ist die vorherrschende ökonomisch und politische Begrifflichkeit und dieses sowjetische Wirtschaftssystem kann man nur als ungerecht bezeichnen. Hauptsächlich ging es mir dabei aber natürlich um die theoretischen Modelle freie Marktwirtschaft und Planwirtschaft als theoretische Rivalen im Kalten Krieg.
Sie scheinen jedoch das Modell der Postdemokratie äußert schlecht zu kennen. Zum einen gründet zwar der bürgerliche Staat auf den Früh- bzw. Präkapitalismus, der ursprüngliche Staat der Antike jedoch nicht. Die Postdemokratie bezweifelt auch gar nicht den generellen Einfluss der Wirtschaft auf die Politik, aber moniert, dass dieser in Zeiten der Postmoderne extrem zugenommen habe, was man daran sieht, dass der Volkswille noch seltener beachtet wird, eine Wahlfaulheit einkehrt, das Volk aber dagegen unterhalten wird sowie eine auch personelle Verquickung von Wirtschaft und Politik etc. Auch andere Themen, die immer noch kontrovers diskutiert werden, stellen sie als Tatsachen dar, obwohl diese keinesfalls klipp und klar von der Geschichtswissenschaft „erwiesen“ ist.
Übrigends: Genau die Fragen, die Sie im 18. Punkt ansprechen, habe ich im Schlussteil bereits teils herausgearbeitet. Das zeigt mir immerhin, dass sich unsere Zielsetzungen ähneln.
Grüße
pjd
Zuerst einmal vielen Dank für den Artikel! Er kommt zur richtigen Zeit – auch wenn er an allen Ecken und Enden „verbesserbar ist“.
1. Die „soziale Marktwirtschaft“ wurde als Konzept in der Zeit der Nazis (durch LE und andere) in Nazideutschland entwickelt. Es ist die „menschlichere“ Variante von NATIONAL + SOZIALISMUS. Beiden gemeinsam ist der angebliche Ausgleich zwischen Kapital und Arbeit. Beiden gemeinsam ist, dass sie „national“ gültig sein sollen – „soziale Marktwirtschaft“ war ein Modell für Deutschland und ausdrücklich NICHT für den Rest der Welt. Der Autor, ob seines Alters mag dies nicht wissen – Frau Wagenknecht sollte es aber. Die Funktion von beidem war „Ruhe im Hinterland“ – damit man im Ausland morden bzw. nach dem WK „Geschäfte machen kann“.
2. Die soziale Marktwirtschaft war NIE „das typisch Europäische in der bipolaren Welt des Ost-West-Konfliktes“ – sie war immer nur deutsches Modell.
3. Die „sozialistische Planwirtschaft“ war keine. Dazu muss man die nötigen Rechenkapazitäten haben – diese bestanden zu keinem Moment der SU. Was es gab war eine ZENTRALISTISCHE Definition von Produktionszahlen. Siehe dazu auch: Alternativen aus dem Rechner. Für sozialistische Planung und direkte Demokratie (W. Paul Cockshott u. a. )
4. Die Behauptung „immerhin kann man in Westeuropa Mindestlöhne fordern, ohne als sozialistischer Staatsfeind gebrandmarkt zu werden“ zeigt leider auch hier Unwissen: in den USA gibt es diesen seit 1938 (!!). Der Autor sollte sich eher die Frage stellen, wieso es nur in Deutschland keinen einheitlichen ML flächendeckend gibt.
5. Besser als die falsche Behauptung „Vielmehr bedeutete die Soziale Marktwirtschaft eine Mischung aus beiden, sozusagen einen friedlichen Kompromiss (zwischen Planwirtschaft und freiem Kapitalismus), wäre sich einmal die Geschichte der beiden Grundtypen des Kapitalismuses anzusehen (das britische vs. das französische Modell)! Da würde man darauf kommen, dass das deutsche Modell eine Mischung aus beidem ist. Es ist aber wie gesagt nur dass deutsche Modell und es war geschuldet dem Aufholen in der Entwicklung.
6. „Eine relativ lange Zeit lief dieses neuartige Projekt – ja, man könnte fast sagen Experiment – erstaunlich gut“. Fragt sich für wen! Und was heißt „gut“? Die Spießigkeit der 50iger und die Wellen der Repressionen vergessen wir mal! Vergessen sollten wir auch, um „gut“ durchzuhalten, den Hass der Arbeitenden auf die Sozialschmarotzer. Ebenso sollten wir vergessen, dass hier Lebensqualität auf ökonomische Faktoren beschränkt wird. Ganz zu Recht hat der Chef der franz. Linkspartei gerade sehr deutlich gemacht, dass ein angeblich gutes Leben „mehr“ ist als nur ein gutes Einkommen – und selbst dies gibt es in Dland immer weniger.
7. „Schließlich hat die Soziale Marktwirtschaft als historische Realität die Planwirtschaft überlebt“ – ach ja? Die Frage ist wann das Ende der „sozialen Marktwirtschaft“ stattfand. „Wende“-zeit! Sie starb also mit dem Untergang der DDR. Inwieweit dies politische Gründe oder ökonomische hatte, ist zu diskutieren!
8. „Einmal liegt das an der mangelnden Aufmerksamkeit durch das Ende der Ideologisierung, aber auch an der Schwächung der politischen und sozialen Klassen, die des sozialen Ausgleichs in dieser Marktwirtschaft bedürfen“. Auch dies zeigt leider das Unverständnis des Autoren. Es war nie die „Aufmerksamkeit“ die die SMW erbrachte. Es war das Konzept der Massenbestechung dass a.) immer teurer wurde, b.) unnötiger wurde weil der Feind SU weg war und VOR ALLEM weil c.) wir uns damals am Anfang der Kapitalistischen Krise waren.
9. „Mit dem Abstieg des Keynesianismus begann auch der Abstieg der Gewerkschaften, der Arbeiter“. Der Keynesianismus stieg ab, weil er „nicht mehr finanzierbar“ war. Durch den Advent von Robotern und Computern war dieses Modell endgültig beerdigt, weil zur Produktion immer weniger Arbeitskraft nötig war. Darauf war die „Antwort“ der Neoliberalismus. Die Ursache für den Gang der Geschichte kann man nur in der Reproduktion des Kapitals und den zunehmenden Problemen finden! Die politischen Erscheinungen und auch die sozialen Effekte sind daraus abzuleiten und nicht umgekehrt!
10. „Dagegen stieg eine neue Klasse noch weiter auf: Die Schicht der Manager, Unternehmer und Firmenchefs“. Was ist an der Klasse der „Unternehmer“ neu? Inwieweit – wenn man Marxens Klassenbegriff verwendet – sind „Manager oder Firmenchefs (sofern keine Eigentümer) eine „Klasse“?
11. „Dadurch entsteht ein sozialdarwinistisches Konstrukt, wo der Stärkere überlebt und am Ende nur noch die Freiheit von demjenigen zählt, der am meisten Kapital besitzt“. Dieses Konstrukt ist nicht neu, sondern uralt!
12. „Wieso greift nun hier nicht der demokratisch gewählte Repräsentant ein und kämpft für seinen Wähler und sein Sozialsystem gegen diesen kalten Neoliberalismus?“ Tja wieso nur? Diese bösen, korrupten Politiker! Wie oben: Neoliberalismus ist die Systemantwort auf seine Krise!
13. „Die Postdemokratie bedeutet für die Marktwirtschaft einen großen Einfluss der Wirtschaft auf den Staat, aber kaum Einfluss des Staates auf die Wirtschaft, weshalb Wahlen zwar noch stattfinden, aber an Bedeutung verlieren, da Lobbyisten und PR-Leute die Geschicke der Politik lenken“. Du meine Güte! Das denkt der Staat sei etwas Unabhängiges (gewesen). Wenn man mal in der Geschichte nachsieht, dann stellt man fest, dass der bürgerliche Staat PRODUKT bzw. ERGEBNIS des Kapitalismuses ist. Er ist NIEMALS eigenständig gewesen, sondern kann nur in seiner Geschichte verstanden werden im Zusammenhang mit dieser Wirtschaftsform! Das gilt auch für seine jetzige Entwicklung! Und ein Staat der das gesamte Bankensystem abfängt kann nicht „schwach“ sein.
14. „Fast wirkt es dadurch, als ob die Soziale Marktwirtschaft in dieser sozialkalten Umgebung unwichtig geworden wäre“. Ist sie auch! Das Schröderspiel Agenda 2010 ist aufgegangen: Man kann einen Teil der Bevölkerung auf Hungerniveau setzen und es interessiert in Deutschland niemand. Das sind die Kinder der „sozialen Marktwirtschaft“: ein Land der Autisten und Weggucker! Schönes System! Daran kann man – wenn man will – auch erkennen woher es historisch kommt, ob der Charaktermasken die es produziert.
15. „Die Soziale Marktwirtschaft muss jetzt inmitten der Krise fallen gelassen werden – denn sie als Experiment ist gescheitert – und es braucht eine Systemänderung – und zwar eine gänzlich neue!“. Erneut: sie ist schon längst Historie. Es war kein Experiment sondern ein kühl durchdachtes Konzept des Ruhigstellens der Bevölkerung. Die katastrophalen Folgen sehen wir heute: ein Land der Weicheier, vollständig entsolidarisiert und kulturell in den 70igern stehen geblieben. Ein Land der Zombies – und ich rede nicht nur von der Linkspartei!
16. „Eine strafrechtliche Immunität des Abgeordneten wäre dennoch vielleicht weiterhin hilfreich, damit es keine despotische Volksherrschaft wird – auch Grund- und Menschenrechte und Gerichte müssten unabhängig bleiben“. Als ob dies heute der Fall wäre. In welcher Parallelwelt lebt der Autor? Und: wer vertreten wird, wird (besonders unter ökonomisch prekären Bedingungen!) stets verarscht.
17. Neben der massiven Unkenntnis über die Vergangenheit und der Entwicklungsgeschichte diverser Ding, muss ich dem Autoren dennoch „guten Willen“ unterstellen. Zumal er sich „Arbeit“ im schreiben dieses Artikels gemacht hat.
18. Wir können uns noch 10000 mal an den Erscheinungsformen der Krise abarbeiten. Dies ist m. E. wenig hilfreich! Viel sinnvoller erscheint mir ein kompletter gedankliche „Reset“: Wir müssen fragen: was für eine Gesellschaft wollen wir weltweit. WIE sollen Entscheidungen getroffen werden und vor allem: WIE bekommen wir die Güter und Dienstleistungen produziert OHNE Kapital und dessen Logik UND mit immer weniger . nötiger Arbeitszeit. Das wär mal ein Anfang!
Ps.: Sorry wenn ich etwas hart war, aber vieles in dem Text war einfach nicht auszuhalten.