Schon vor und nach der Bundestagswahl forderte die Stellvertretende Partei- und Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht eine deutliche kritischere Haltung ihrer Partei in Bezug auf den gegenwärtigen europapolitischen Kurs Deutschlands und die Ausgestaltung der EU-Wirtschafts- und Finanzpolitik. Anfang Oktober hatte sie, auch mit Blick auf das gute Abschneiden der euroskeptischen AfD bei der Bundestagswahl, in einem Gastbeitrag für das „Neue Deutschland“ erklärt, dass Die Linke die Europakritik nicht der AfD überlassen dürfe. Europa müsse von links angegriffen werden, so Wagenknecht damals.
Die von Wagenknecht und auch ihrem Lebensgefährten Lafontaine geforderte Kurskorrektur der linken Europapolitik stiess bislang noch auf deutlichen Widerstand in der Partei. So bekräftigte die Parteivorsitzende der Linken, Katja Kipping, auf dem Landesparteitag in Magdeburg im Oktober, dass ihre Partei mit Blick auf die Europawahl 2014 nicht radikaler und euroskeptischer werden solle. Das gute Abschneiden der rechtspopulistischen und eurokritischen “Alternative für Deutschland” dürfe kein Signal für Die Linke sein, auch einen solchen Kurs einzuschlagen. “Wir sind global, wir sind europäisch”, betonte Kipping.
Bereits bei der Erarbeitung des Bundestagswahlprogrammes scheiterte das Lager um Wagenknecht und Lafontaine mit dem Versuch die Partei auf einen euroskeptischen Kurs zu zwingen. Die Mehrzahl der Delegierten folgten lieber der Mehrheit der linken Spitzenpolitiker, die eher auf eine moderate Kritik an einzelnen Massnahmen setzen, statt die europäische Einigung und den Euro als Ganzes in Frage zu stellen. So hatte bereits im Mai Dietmar Bartsch, der als Wortführer der mehrheitlich ostdeutschen Realpolitiker gilt, davor gewarnt den Euro zum Wahlkampfthema zu machen.
Wenige Monate vor der Verabschiedung des Europawahlprogrammes und der Aufstellung der Kandidatenliste unternimmt Wagenknecht nun einen weiteren Anlauf für eine europapolitische Kurskorrektur der Linken. In einem aktuellen Beitrag für die „Kommunistische Plattform“, der sie seit ihrem Einzug in den Vorstand nicht mehr aktiv angehört, kritisiert sie nochmals den Umgang der eigenen Partei mit dem Thema. Die Linke habe es im Bundestagswahlkampf versäumt zu Bankenrettungen und Euro-Krise Stellung zu beziehen. Dies habe es der AfD ermöglicht, so Wagenknecht weiter, 340.000 Wähler von den Linken zu gewinnen.
In der kommenden Europawahl gelte es nun, durch eine deutlichere Europakritik, diese verlorenen Wähler zurückzugewinnen und Die Linke zu stärken. „Nur wenn das gelingt, kann die AfD zukünftig klein gehalten und in ihrer Gefährlichkeit wirksam bekämpft werden.“, schlussfolgert Wagenknecht. Allerdings will sie dabei ausschliessen, dass AfD und Linke „in einen Topf geworfen werden“ könnten, „nur weil einige Forderungen in Bezug auf die „Eurokrise“ ähnlich sind“. Trotz, dass beide Parteien nach Wagenknechts Ansicht offensichtlich um die gleichen Wähler kämpfen, befänden sich Die Linke und die AfD „ideologisch klar in einem antagonistischen Verhältnis“.
Eine erste Bewährungsprobe für Wagenknechts Forderungen dürfte sich bereits am Wochenende im Parteivorstand ergeben, wenn in diesem der Entwurf für das Europawahlprogramm diskutiert wird. Die Ausrichtung des Programmes wird auch mit darüber entscheiden, welche Kandidaten auf dem Parteitag in Hamburg tatsächlich auf aussichtsreichen Plätzen der Liste kandidieren können. Aus dem Lager Wagenknechts sollen bereits ihre Büroleiterin im Bundestag, Ruth Firmenich, und Tobias Pflüger, der schon von 2004 bis 2009 Mitglied des Europäischen Parlaments war, ihre Bereitschaft zu einer Kandidatur erklärt haben. Aus Parteikreisen wird zu dem berichtet, dass dem Parteivorstand vom niedersächsischen Bundestagsabgeordneten Diether Dehm auch ein alternativer Programmentwurf vorgestellt werden soll. Dehm hatte bereits im Bundestagswahlkampf in Niedersachsen einen deutlich eurokritschen Akzent gesetzt.
(mb)
Das Missverständnis, dass Sahra Wagenknecht bei ihrer Beteuerung, die europäische Währungsunion müsse von links kritisiert werden, unterläuft besteht darin, dass sie ihre Vorurteile gegenüber dem europäischen Einigungsprozess für eine linke Kritik hält. Die partielle Übereinstimmung ihrer kritischen Urteile mit der Bewertung durch die AfD oder entsprechenden Urteilen von H.W. Sinn deuten eher darauf hin, dass es sich auch bei Sahras Kritik um eine Kritik von rechts handelt. Sie übernimmt zentrale Topoi des neoklassischen Diskurses, wie die Dichotomie von Finanzsphäre und Realwirtschaft und die damit verbundene neoklassische Sicht von der Neutralität des Geldes. Ein nicht kleiner Teil dieser vulgärmarxistischen, gegen eine sog. Diktatur der Finanzmärkte gerichteten Kritik basiert auf einer neoklassischen Sicht der ökonomischen Zusammenhänge. Das verstehen die Neomarxisten nicht, weil sie sich selbst bei der Analyse polit-ökonomischer Prozesse eine Avantgardefunktion zuschreiben, obwohl sie inzwischen die reaktionäre Nachhut wirtschaftswissenschaftlicher Erkenntnisse sind. Hier geraten sie in die Konkurrenz mit AfD, Sinn u.a., mit der sie die ökonomische Analyse teilen, aber deren nationalistischen und fremdenfeindlichen Vorurteilen noch zurückschrecken. Das sollte als Alarmsignal wahrgenommen werden, aber es wird völlig missverstanden, weil gemeint wird, in diesen Fragen sich dann mit der AfD einen Wettbewerb liefern zu müssen. Dass die westdeutsche Linke, die den Neoliberalismus doch so hasst, zusammen mit Wagenknecht faktisch auf eine nationalistische Variante von Neoliberalismus setzt, ist auch eines der ungelösten politischen Rätsel, die noch auf eine Auflösung warten.