Es gilt als Konsens des Liberalismus, dass die Politik, der Staat, der Souverän, wer auch immer das sein sollte, sich aus dem Privatleben der Menschen – ob in Individuum oder der Gemeinschaft von Familie und Freundschaft – sich herauszuhalten hat, nicht zu dekretieren hat, denn alles andere wäre autoritär und monistisch. Damit steht der Liberalismus immerhin in der großartigen Tradition der klassisch-griechischen Staatlichkeit, vor allem zu Zeiten der attischen Demokratie, in welcher die Sphäre des Öffentlichen, des Bürgerlichen, des Politischen – also die Polis -, an der die Vollbürger als Freie und Gleiche partizipieren dürften, von der Sphäre des Privaten, des Wirtschaftlichen, des eigenen Haushalts, in dem auch sozioökonomische und –kulturelle Unterschiede weiter bestehen dürften – also der Oikos – streng zu separieren war, und die Sphären eigentlich nicht vermischt werden sollten, um in der Politik nicht von Privatinteressen manipuliert zu werden. Diese klassische Teilung ist aber partiell obsolet, so könnte die praktische Philosophin Rahel Jaeggi behaupten, folgt man ihrer Habilitationsschrift Kritik von Lebensformen.
Vieles, was im Privaten passiert, wird in der heutigen Gesellschaft hingenommen, es wird vollkommen berechtigt toleriert oder akzeptiert, auch wenn wir manche private Aktionen nicht gutheißen. Wenn aber jemand zwangsverheiratet wird oder ein Vater seine Kinder schlägt, so passiert dies rein in der Privatheit und doch kritisieren wir dies. Von diesem intuitiven Ausgangspunkt aus, möchte Jaeggi nachweisen, dass sich Lebensformen kritisieren lassen, dass sich darüber streiten lässt, und zwar mit Argumenten, nicht nur mit Emotionen. Die ethische Enthaltsamkeit, die sie die black box des Liberalismus nennt, ließe sich also aufsprengen. Dabei unterscheidet die Philosophin zunächst zwischen Lebensformen, als Bündel sozialer Praktiken, in die wir einerseits schon hineingeboren und von ihnen sozialisiert werden, die aber andererseits von Menschen konzipiert und konstruiert werden – wie etwa die Familienformen der Groß- oder Patchworkfamilie – vom gewöhnlichen Lebensstil, der Lebensart, die reine Geschmackssache sind – wie etwa die Wahl eines gewöhnlichen Kleidungsstückes. Dabei ließen sich die Lebensformen kritisieren.
In ihrem Buch macht sie diese Kritik von sachlichen Parametern abhängig, primär die Problemlösungsverfahren der Lebensformen. Kann eine Lebensform auf ein erkanntes und reflektiertes Problem nicht adäquat reagieren und das ganze rational bestreiten, so ließe sich diese Lebensform kritisieren beziehungsweise würde diese Form an dem Problem scheitern. Dazu holt Jaeggi sehr weit und ausführlich aus und beschreibt übermäßig detailliert die philosophischen Darstellungen von Problemen, über Hegel, Marx, Dewey und MacIntyre.
Denn sie geht immer von „gegebenen Kontexten und den in der Sache liegenden Maßstäben“ aus. Sie tritt, mit expliziten Verweis auf Marx, „nicht mit einem vorgefertigten Ideal der Wirklichkeit entgegen“, sondern entwickelt dieses Ideal aus dem paradoxalen „Bewegungsmuster der Wirklichkeit“ selbst. Kritik sei dabei ein „Verfahren, Zusammenhänge herzustellen“ – also im Hegelianischen Sinne dialektisch. Damit lebt sie eine kritische Theorie – im Sinne Adornos – der Kritik von Lebensformen vor. Denn Jaeggi sagt dem Leser nicht, was nun heutzutage eine richtige und falsche Lebensform ist, nein, sie will nur aufzeigen, nach welchen Parametern man Lebensformen bemessen kann – leider kopiert sie diese Parameter nur von anderen Denkern, die Eigenleistung ist in diesem wichtigen Punkt leider etwas gering.
Jedoch handelt es sich bei „Kritik von Lebensformen“ um ein spannendes und mutiges Projekt, das eine große Aufmerksamkeit verdient hat, da sie die Grundannahmen des Liberalismus´ aus den Fügen geraten lässt, jedoch ohne in einen kruden Monismus zu verfallen. Der moralische Zeigefinger fehlt in ihrem Buch genauso, wie der affektierte Stil, den so manch anderer Intellektueller an den Tag legt. Ihr schwebt nämlich ein „experimenteller Pluralismus von Lebensformen vor“ und die liberale Ausklammerung des Privaten behindert das Experimentelle daran. Ein negativer Nebeneffekt von Jaeggis Analyse und ihren darauf basierenden Forderungen könnte sein, dass sich jedes Individuum, unabhängig von seinem Intellekt dazu gezwungen sehen könnte, sich für seine Lebensform rechtfertigen zu müssen, obgleich die Berliner Philosophin dies an keiner Stelle fordert. Sie bestreitet ja auch, dass es nur die eine gültige Lebensform wäre. Jaeggi durchbricht damit auf profunde Art und Weise den für selbstverständlich gehaltenen Duktus einer Enthaltsamkeit aus der Privatheit. Alte Dogmen werden in wenigen hundert Seiten überzeugend widerlegt. Damit steht aber auch sie in gewisser Weise in klassisch-griechischer Tradition, nämlich der sokratischen Frage, wie man leben wolle. Ein in keinster Weise ethisch-normativ überhebliches Buch für alle, die Spaß am unkonventionellen und undogmatischen Denken, der Kritischen Theorie und wilden Diskussionen haben!
Rahel Jaeggi: Kritik von Lebensformen, Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 451 Seiten, Taschenbuch, 20 Euro. Weitere Informationen gibt es unter: http://www.suhrkamp.de/buecher/kritik_von_lebensformen-rahel_jaeggi_29587.html
Philip J. Dingeldey