Wie erklärt man den Holocaust? Wie erklärt man, dass Tausende von Menschen, die privat vollkommen unauffällig waren, Millionen von anderen Menschen in Konzentrationslager deportierten und dort folterten und töteten. Die politische Theoretikerin Hannah Arendt hat bereits in ihrem Eichmann-Report die These der Banalität des Bösen aufgestellt, von Akteuren, die aufhörten, sich als Personen zu sehen und schlicht Befehle akribisch und intelligent durchführten, ohne fähig zu sein, in einem stillen reflektierenden Dialog mit sich selbst zu treten. Der Historiker Christoph Browning ging dagegen davon aus, dass ganz normale Deutsche, durch ein Bündel von Faktoren, wie Alkoholismus, Kameradschaft und Ideologie dazu gebracht wurden, als Antisemiten, dieses Verbrechen an der Menschlichkeit zu begehen. Wieder eher flache Theorien, die schon im Erklärungsansatz scheitern, unterstellen den Tätern einen extremen Sadismus, was alleine nicht für eine solch organisierte massenhafte Morde ausschlaggebend sein kann.
Während die Geschichtswissenschaft, die Politikwissenschaft, die Philosophie und die Sozialpsychologie die Thematik Holocaust abarbeitete, stand die Soziologie bislang leer da. Der Soziologe Stefan Kühl hat dies nun geändert mit seiner Monographie Ganz normale Organisationen. Zur Soziologie des Holocaust, in der er systemsoziologisch eine Erklärung für den Holocaust bieten möchte.
Unser Menschenrecht auf Datenschutz wird täglich unterminiert – in der Sphäre des Digitalen, einerseits durch Staaten, die eine ausgebaute Überwachungspraxis betreiben, wie die USA mit der National Security Agency (NSA) oder durch Konzerne, wie Google, Facebook und Co., die unsere Daten horten und an den Meistbietenden verscherbeln – und damit beispielsweise auch die NSA unterstützen. Die riesigen entstehenden digitalen Datenmengen, die alles zuvor existente Mediale exorbitant übertreffen, werden seit Jahren unter dem Namen Big Data summiert. Jetzt, ein paar Jahre nach dem großen Hype, hat der Medienwissenschaftler Ramón Reichert den Sammelband Big Data. Analysen zum digitalen Wandel von Wissen, Macht und Ökonomie herausgegeben.
Das Buch umfasst 22 Beiträge in insgesamt fünf Überkapiteln von führenden Medien- und Kommunikationswissenschaftlern, Netzaktivisten, Philosophen, Kulturwissenschaftlern, Anthropologen etc. Die fünf Kapitel Big Data Humanities, Geschichte und Theorie der Daten, Digitale Methoden, Dataveillance: Algorithmen, Graphen und Protokolle und Digitale Technologien und soziale Ordnungsvorstellungen.
Auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse war sie der Star – die estnisch-finnische Gothic-Subkultur-Autorin Sofi Oksanen, die mit ihrem neuen Roman Als die Tauben verschwanden eine ergreifende Geschichte über die estnische Besatzung durch das deutsche Nazireich und die Sowjetunion im zwanzigsten Jahrhundert erzählt – ein Roman über Dissidenten, Freiheitskämpfer, Opportunisten, totale Herrschaft und gescheiterte Existenzen.
Als die Tauben verschwanden ist bereits Oksanens dritter Roman, und er ist sehr mit der Geschichte Estlands und ihren eigenen Eindrücken verbunden. In sechs Buchteilen umfasst der Roman die estnische Geschichte von 1941, über den Kampf gegen die Nationalsozialisten bis zum Jahr 1966, nun unter sowjetischer Besatzung. Den Beginn – daher auch der Titel des Romans – der Besatzung und der Unterdrückung markiert das Verschwinden der Tauben, als die Nazis diese brutal schlachten, um nicht auf Fleisch verzichten zu müssen. Ihr Verschwinden ist äquivalent mit dem Auftauchen der totalitären Herrschaft.
Zumindest Die Linke scheint nicht dem allgemeinen Trend zu vorweihnachtlicher Besinnlichkeit folgen zu wollen. Seit Wochen schon beschäftigt sich die Partei, die eigentlich als Oppositionsführerin im Bundestag wichtige Aufgaben hätte, mit dem sogenannten „Toilettengate“ und seinen Folgen. Daran hat sich – mal wieder – eine innerparteiliche Debatte über den richtigen oder noch viel richtigeren Umgang mit Israelkritik, der Definition des und der Abgrenzung zum Antisemitismus und den künftigen Weg der Sozialisten entzündet. Die eine Seite sammelt weiter fleissig Unterstützer, die eifrig das „Ihr sprecht nicht für uns!“ skandieren. Die andere Seite ergeht sich wohlgeübt in mehr oder weniger wortreichen Erklärungen, wer aus ihrer Sicht die eigentlich Schuldigen am bedauernswerten Zustand der Partei seien. Mit dem „Friedenswinter“ haben beide Seiten nun ein neues Betätigungsfeld für ihre endlos scheinenden Grabenkämpfe gefunden, um den Streit ja nicht abkühlen zu lassen.
Feminismus, fuck yeah! Das ist der neue feministische Kampfschrei; zumindest wenn es nach der Onlinefeministin Anne Wizorek geht. Diese ist durch den Twitter-Hashtag aufschrei landesweit bekannt geworden. Zu einem Hashtag gebündelt, diskutierten und berichteten darin Frauen über Sexismen und sexuelle Diskriminierung von Frauen. Über ihre eigene Motivation, ihre Vorbilder und feministischen Positionen berichtet Wizorek nun in ihrem neuen Buch (ganz recht, sie bedient damit auch die analoge Öffentlichkeit) Weil ein #aufschrei nicht reicht. Für einen Feminismus von heute. Ihr gedrucktes Werk ist provokativ, manchmal auch subversiv, aber immer ehrlich, vermittelt aber kaum Neues.
Weil ein #aufschrei nicht reicht ist in zwei sehr unterschiedliche Teile untergliedert. Im ersten Teil Don´t call it a comeback! Eine feministische Agenda für jetzt beleuchtet sie typische Themen des deutschen Feminismus, von Frauenquote über sexuelle Gewalt bis hin zu den Rechten sexueller Minderheiten, sprich, Lesben, Schwule, Bisexuelle, Transmenschen, Queermenschen und Intersexuelle. Gerade zu klassisch hackt sie feministische Positionen dazu ab, leider ohne besondere qualitative Tiefe.
In einem Interview für ein Onlinemagazin äusserte Inge Höger, linke Bundestagsabgeordnete aus Nordrhein-Westfalen, scharfe Kritik an Regierungsbeteiligungen ihrer Partei. In Brandenburg, wo Die Linke gerade wieder mit der SPD eine Koalitionsregierung gebildet hat, habe ihre Partei „in den letzten 5 Jahren an der Regierung eigentlich nur SPD Positionen vertreten“ und „über 10% der Stimmen verloren.“ Das zeige, so Höger, „dass die Wählerinnen und Wähler unzufrieden gewesen sind.“ Nicht besser beurteilt sie die Regierungsbeteiligung der Linken in Thüringen, wo am heutigen Tag die Koalitionsverhandlungen mit SPD und Grünen erfolgreich abgeschlossen werden konnten und Bodo Ramelow am 5. Dezember zum ersten linken Ministerpräsidenten der Bundesrepublik gewählt werden soll.
Nach den Strömungen und einzelnen Mitgliedern der Partei Die Linke haben sich nun auch die Vorstände zweier Landesverbände im Rahmen der aktuellen Diskussion zu den Geschehnissen am 9. und 10.11.2014 zu Wort gemeldet. Der geschäftsführende Landesvorstand aus Baden-Württemberg, zu dessen Verband die Bundestagsabgeordneten Annette Groth und Heike Hänsel gehören, hat dazu am heutigen Tag eine längere Erklärung veröffentlicht. Etwas weniger öffentlich äusserte sich nach Presseberichten der Landesvorstand der Linken in NRW, dem Heimatverband von Inge Höger. Dieser fordert demnach personelle Konsequenzen in der Führung der Bundespartei.
Wer das aktuelle Interview der linken Bundestagsabgeordneten Inge Höger in der „taz“ liest, wird sich verwundert die Augen reiben. Ihr war „so nicht klar“ wie der von ihr und ihren Genossinnen eingeladene Max Blumenthal so drauf ist. Und sie bedauert dann auch zutiefst, dass durch ihre tatkräftige Unterstützung ihren israelkritischen Gästen „die Möglichkeit gegeben wurde, dass Gregor Gysi so bedrängt und im Netz bloßgestellt werden konnte.“ Man fragt sich beim Lesen, ob eine solche Naivität einfach nur schlecht gespielt ist oder tatsächlich den politischen Bewusstseinszustand Högers wiedergibt.
Es war absehbar, dass die Geschehnisse um die Einladung israelkritischer Journalisten durch Abgeordnete der Linken und die per Kamera öffentlich gemachte Jagd auf Gregor Gysi noch nicht mit einer Entschuldigung und einer Erklärung der Bundestagsfraktion aufgearbeitet sein werden. Der Aufruf „Ihr sprecht nicht für uns!„, der vom Bundesgeschäftsführer der Partei, zahlreichen Abgeordneten, Funktionsträgern und einfachen Mitgliedern unterstützt wird, dient nun anderen Teilen der Partei dazu die ewigen Grabenkämpfe wieder aufzunehmen. Auch wenn die zwei Spitzen der Fraktion in ungewohnter Eintracht, wenn auch aus unterschiedlichen Motiven, ein Ende der Debatte fordern, dürfte der Streit über Kurs und Ziel der Linken zunächst wieder offen ausgebrochen sein.
Stolz sticht er im russischen Sankt Petersburg hervor: Der riesige fluoreszierende Phallus an der Liteiny-Brücke. Gemalt hat ihn die anarchistische und kompromisslose Künstlergruppe Wojna – die russische Vokabel für Krieg. Wojna hat dem repressiven russischen Regime, ja, dem Staat per se, der spießigen, unfreien Gesellschaft und der Herrschaft der orthodoxen Kirche den Krieg angesagt – mit ihren subversiven und konspirativen Performance-Kunstmethoden. Der junge französische Schriftsteller Arthur Larrue hat einen hintergründigen, surreal-satirischen und ernsthaft-unterhaltsamen Roman über die drei in der Illegalität lebenden Künstler geschrieben.
Larrue selbst unterrichtete vier Jahre lang an der Universität von Petersburg, und lebte für seinen Roman, der eine Nacht mit zahlreichen Rückblenden in Petersburg beinhaltet, ganze drei Monate mit den Künstlern zusammen und verlor wegen diesem Buch sowohl seinen Job als auch sein Visum. Er wurde damit selbst zu einem mit Anarchisten sympathisierenden, literarischen Dissidenten – par excellence.
Was wurde nicht alles über (gewaltverherrlichende?) Killerspiele in den letzten Jahren geschrieben – und damit die Frage aufgeworfen, inwiefern solche Computerspiele die Gewalttätigkeit von Jugendlichen, etwa bei Amokläufen, forcieren. Doch bislang wurde nur wenig zu ihrer Subgattung Militärspiele geschrieben – oder der Beteiligung von Militär und Rüstungsindustrie an solchen Games. Der junge Journalist und Politologe Michael Schulze von Glaßer hat damit Schluss gemacht, und diese Verbindung in seinem neuen Buch Das virtuelle Schlachtfeld. Videospiele, Militär und Rüstungsindustrie offen gelegt und kritisch hinterfragt.
Schulze von Glaßer ist schon in der Vergangenheit zu einem kompetenten Kritiker der Bundeswehrbewerbung und –rekrutierung avanciert und stellt mit diesem Buch, das eine dezidiert pazifistische und militärkritische Position einnimmt, die spezielle Bewerbung und Militärisierung in PC-Games dar.
Noch für klassisch-griechische Demokraten, aber auch für viele aufklärerische oder neoklassische Denker ist das Politische die Sphäre, die sich mit der Findung des Staats- und Allgemeinwohls beschäftigt. Unnötig zu Erwähnen, dass sich der Terminus des Politischen in der modernen Philosophie und Politologie maßgebend geändert hat, bis hin zu Theorien, die Politik einfach als öffentlichen Austragungsort von Kämpfen – etwa der Klassen, der Lebensentwürfe, der Religionen, der Ethnien, der Kulturen, ums Glück oder ganz generell um die Hegelsche Anerkennung – sehen.
So ähnlich sieht es auch die Politische Theoretikern Chantal Mouffe, und sie verteidigt in ihrem neuen Buch Agonistik. Die Welt politisch denken ihr Modell der Agonismen Als Hegemonialtheoretikern ist für sie die Öffentlichkeit stets von Konflikten begleitet, in der verschiedene Gruppen versuchen, die Macht und die Deutungshoheit über grundlegende Werte zu bekommen. Das Politische ist daher für Mouffe schlicht die sich oft variierende Form der bestehenden Antagonismen. Dementsprechend handle es sich bei Politik um das Ensemble der Praktiken und Institutionen, die eine bestimmte Ordnung des menschlichen Zusammenlebens organisieren.
Dieser ist für so ein Buch regelrecht geschaffen: Er schrieb schon ein Buch über WikiLeaks und arbeitet für den Guardian – das Medieum, das sowohl die Dokumente des Whistleblowers Bradley (inzwischen: Chelsea) Manning als auch Edward Snowdens publizierte. Hardings neues Buch ist nun eine evidente umfassende Darstellung der Snowden-Files – so der englische Titel -; zwar haben schon andere zuvor Bücher über Edward Snowden und PRISM geschrieben, nicht zuletzt der Journalist und Jurist Glenn Greenwald, der zusammen mit Ewen MacAskill und Laura Poitras Snowden in Hong Kong traf und die streng geheimen NSA-Dokumente auswertete sowie publizierte. Jedoch ist etwa Greenwalds Buch Die globale Überwachung eher der subjektiv gefärbte, sehr emotionale Erfahrungsbericht eines Zeitzeugen über das Ende der Privatssphäre.
Mit den gestrigen Wahlen in Thüringen und Brandenburg ist zumindest vorerst das Wahljahr 2014 beendet. Ging es in Brandenburg darum, ob die derzeit einzige Regierungsbeteiligung der Linken fortgesetzt werden kann, standen die Wähler in Thüringen vor einer geradezu historischen Entscheidung. Es galt darüber abzustimmen, ob erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik ein Politiker der Linken reelle Chancen hat das Ministerpräsidentenamt zu erringen.
Zeitgleich mit Thüringen wurde auch in Brandenburg ein neuer Landtag gewählt. Hier warben Ministerpräsident Woidke und Finanzminister Görke für die Fortsetzung der seit 2009 regierenden Koalition aus SPD und Linken. Obwohl das Wahlalter erstmalig auf 16 Jahre gesenkt wurde, beteiligten sich nur noch 47,9% der Wahlberechtigten an der Abstimmung.
Mit 31,9% der Stimmen kann die SPD ihr Wahlergebnis von 2009 knapp halten und bleibt weiterhin die stärkste Kraft im Potsdamer Landtag. Zweitstärkste Partei ist nun allerdings die CDU, die ein Ergebnis von 23% erzielen konnte. Klarer Wahlverlierer ist Die Linke, die weit über die Hälfte ihrer Wähler verloren hat und nur noch auf 18,6% kommt. Noch bei der letzten Wahl 2009 waren es 27,2%, die die Sozialisten schliesslich in die Mitregierung brachten.
Die knapp 1,8 Millionen Wahlberechtigten in Thüringen konnten am heutigen Sonntag über die Zusammensetzung ihres neuen Landtages abstimmen. Dabei warb die seit 25 Jahren regierende CDU unter ihrer Ministerpräsidentin Lieberknecht für die Fortsetzung einer Unions-geführten Landesregierung und ihr Herausforderer, der Spitzenkandidat der Linken Bodo Ramelow, für eine Rot-Rot-Grüne Regierungskoalition unter seiner Führung. Nach den derzeitigen Ergebnissen zeichnet sich, bei einer Wahlbeteiligung von nur 52,7%, ein Patt zwischen beiden Möglichkeiten ab.
Die CDU bleibt weiterhin stärkste Partei in Thüringen und kann mit nun 33,5% ihr Ergebnis von 2009 noch um 2,3 Prozentpunkte steigern. Leicht zulegen konnte auch Die Linke, die mit 28,2% ihren Platz als zweitstärkste Kraft im Freistaat behauptet. Auf einen historischen Tiefstand von nur noch 12,4% ist die SPD, die seit 2009 als Juniorpartner der CDU mitregiert, abgestürzt. Mit 5,7% schafften die Grünen immerhin noch knapp den Wiedereinzug in den Landtag.
Folter, davon ist der Medienwissenschaftler Reinhold Görling überzeugt, ist ein theatraler und performativer Prozess, zu dem, außer Folterer und Opfer auch immer ein Dritter gehört, eine Instanz, vor der die Tat geschieht, der die Szene der Gewalt präsentiert wird. So ist es auch nicht verwunderlich, dass Görlings neues gleichnamiges Buch – also Szenen der Gewalt – Folter als einen solchen Akt behandelt und die Verbindung von Folter und Film demonstriert, begonnen bei den Filmen von Roberto Rossellini, die Mitte des zwanzigsten Jahrhundert gedreht wurden, bis hin zu aktuellen Folterdarstellungen bei Kathryn Bigelow und Joshua Oppenheimer.
Die komplexe These Görlings lautet stark zusammengefasst, dass Gewalt das Opfer entstellt und zerstört. Doch dadurch wird auch das Subjekt nur sichtbar in einem performativen Prozess, in dem es in Beziehung mit anderen einen Ausdruck findet. Im Bild der Folter hat der Film diese Grenze der Sichtbarkeit immer wieder thematisiert. So sei der Film seit 1945 in einer Darstellung der Folter vor einem Dritten geboren worden, nämlich eben in Rossellinis Film Roma cittá aperta.
Seit Jahren hat der Vorsitzende der sächsischen Linken zusammen mit seinen Vertrauten die Partei auf die Übernahme der Regierung in einer Koalition mit SPD und Grünen vorbereitet. Am heutigen Wahlabend dürften diese Blütenträume von Rico Gebhardt und den Reformlinken nicht nur in Sachsen ausgeträumt sein. Aus einer zumindest gefühlten Regierungspartei im Wartestand ist das geworden, was Die Linke an der Elbe objektiv schon seit Jahren ist, eine Partei, die ihren stetigen Abwärtstrend nicht stoppen kann.
Noch nicht einmal mehr die 19 konnte man vor dem Komma retten. Geschuldet ist dieses Ergebnis nicht nur dem mehr oder weniger festen Mitregierungskurs des Spitzenkandidaten Gebhardt und seiner Mannschaft, sondern schlicht auch den biologischen Tatsachen. Zusammen mit dem Parteikörper, dessen Durchschnittsalter kurz vor den 70 liegt, stirbt auch die einstige Wählerbasis aus. Die Strahlkraft diesen Schwund auszugleichen, gar umzukehren, konnten die Sozialisten in den letzten Monaten und Jahren nicht entwickeln.
An diesem letzten Wochenende der Sommerferien waren rund 3,4 Millionen Wahlberechtigte in Sachsen dazu aufgerufen den Landtag neu zu wählen. Die Wahlbeteiligung lag wohl auch aufgrund des ungünstigen Termins mit 49,2% auf einem sehr niedrigen Niveau. Stärkste Kraft im Freistaat bleibt weiterhin die CDU unter dem bisherigen und vermutlich auch zukünftigen Ministerpräsidenten Stanislaw Tillich. Damit kann die CDU ihre bislang schon 24-jährige Regierungstätigkeit fortsetzen. Allerdings muss sie sich dazu einen neuen Koalitionspartner suchen. Die seit 2009 mitregierende FDP konnte nicht wieder in den Landtag einziehen.
Für die CDU stimmten 39,4% der Wähler. Sie hat damit ihr Ergebnis der letzten Wahl nicht halten können und 0,8 Prozentpunkte verloren. Einer der Gewinner der Wahl ist die SPD unter ihrem Spitzenkandidaten Martin Dulig. 12,4% der Wähler stimmten für die Sozialdemokraten, die 2009 noch mit 10,4% nur knapp vor der FDP landeten. Es ist anzunehmen, dass die SPD daher schnellstmöglich mit der CDU über die Bildung einer Grossen Koalition verhandeln wird.
Wladimir I. Lenin ist momentan nicht gerade en vogue – selbst unter Linken nicht. Zu brutal war sein Vorgehen nach 1917 mit Bürgerkrieg und Gulag, zu skrupellos hat er das Sowjetsystem, das eine Form der direkten Demokratie darstellen würde, der Ein-Parteien-Herrschaft der Bolschewisten geopfert und immer noch wirft man ihm vor, dem Stalinismus den Weg geebnet zu haben; kurz, er wird im gegenwärtigen Diskurs als das Negativbeispiel eines Berufsrevolutionärs angeführt, der alle marxistischen Theoretiker als Utopisten zu diffamieren versucht. Genau das wollen der Editor des Journals Historical Materialsm, Sebastien Budgen, der Politische Theoretiker Stathis Kouvelakis und der Philosoph und Psychoanalytiker Slavoj Žižek mit dem von ihnen herausgebenden Buch Lenin Reloaded. Für eine Politik der Wahrheit ändern, indem sie versuchen, die positiven Seiten des Revolutionärs für den Kampf gegen den globalen Kapitalismus zu reanimieren. Leider sind die meisten der politiktheoretischen und geschichtsphilosophischen Aufsätze in diesem Band miserabel und wegen ihrer Ungenauigkeit und Naivität kaum zu ertragen.
Die Autoren des Buches, wegen denen sich das Inhaltsverzeichnis wie eine Creme de la Creme von zeitgenössischen marxistischen Theoretikern und Intellektuellen liest, wollen den Fokus primär auf den politischen Denker Lenin legen, seinen marxistischen Theorien zu einer Renaissance verhelfen, indem sie diese vom Eurozentrismus befreien und auf den als alternativlos deklarierten globalen Kapitalismus und dessen liberale Repräsentativsysteme beziehen. Die Intention, die hinter den meisten der Aufsätze steckt, ist dabei, dass Lenin eine Politik der Wahrheit betrieben habe, und zwar vor allem auf zweierlei Weise: Erstens, indem er die politische Notwendigkeit, der Befreiung des Proletariats als Wahrheit erkannte und mit seiner Parteilichkeit vereinte, konträr zum bourgeois-liberalen Usus, Wahrheit nicht als subjektiv oder absolut erkennbar anzuerkennen; und zweitens, indem er, wie es Alex Callinicos und Žižek in ihren Aufsätzen behaupten, die ganze Wahrheit zugab, das eine Revolution und eine Emanzipation nicht ohne die Nachteile der politischen Gewalt zu haben wären, während etwa viele Linksliberale kognitiv-dissonant zwar die Vor-, aber nicht die Nachteile eines solchen total-revolutionären Emanzipationsprozesses tragen wollten. Im Grunde handelt es sich bei Letzterem aber nicht um Wahrheit, als vielmehr um Ehrlichkeit.
Relativierung von Verbrechen
Ansonsten ist Lenin Reloaded zunächst ein in Relation zum vorgegebenen Thema, das von der 2001 in Essen stattgefundenen Konferenz Gibt es eine Politik der Wahrheit – nach Lenin? stammt, inhaltlich breit gefächertes Buch: Kevin B. Anderson, Savas Michael-Matas und Kouvelakis widmen sich etwa der Hegelinterpretation und der Dialektik Lenins, Callinicos und Terry Eagleton beleuchten postmoderne Lenininterpretationen, Alain Badiou etwa bringt Lenin in Beziehung zu Mao Tsetung, Jean-Jacques Lecercle nähert sich ihm sprachphilosophisch an, Georges Labica macht den Schritt von der Bekämpfung des Imperialismus zum Kampf gegen die Globalisierung, und wieder andere, wie Antonio Negri, betrachten bedeutende Einzelwerke des Revolutionärs.
Leider ist das Buch dabei nur halb so gut, wie es zunächst den Anschein erweckt und ist bestenfalls als sehr durchwachsen zu klassifizieren: Einige der Autoren halten etwa nicht viel vom Nachweisen von Zitaten oder auch Belege zu Thesen zu liefen, die sie einfach als apriori-Wahrheiten deklarieren, ohne dass diesbezüglich überhaupt ein Konsens unter Linken bestehen würde und sprachlich wirken manche Beiträge partiell überkandidelt.
Diese formalen und stilistischen Mankos würden aber kaum negativ ins Gewicht fallen, wenn nicht viele der Beiträge inhaltlich untragbar wären. Badiou etwa wendet sich in seinem Beitrag weniger Lenin selbst zu, sondern der angeblich unvermeidlichen Austragung von politischen Antagonismen, die aus zwei Unterschiedlichen Eins machen soll. Abgesehen davon, dass ein solcher totaler Kampf zweier Gruppen primär zum rechtsextremen Denken Carl Schmitts passt, und nichts mit klassischer, gemeinwohlorientierter Politik zu tun hat, ja, im Grunde deswegen nicht politisch, sondern ökonomisch ist, ergießt sich Badious Beitrag dann in einer Relativierung der Verbrechen Maos während der chinesischen Kulturrevolution, was erstens nicht viel mit Lenin zu tun hat und zweitens falsch ist, denn wie soll sich eine totalitäre Diktatur, die Millionen von Opfern fordert, ohne die Befreiung eines Volkes zu erreichen, legitimieren lassen. Auch Žižek tut sich schwer, Stalin nicht zu relativieren. Zahlreiche Beiträge beschönigen die Verbrechen Lenins, so als ob dies ein notwendiges Übel wäre, um Russland zur sozialistischen Freiheit zu bringen und die Weltrevolution auszulösen – was aber jeweils nicht einmal im Ansatz geschehen ist.
Falscher Gebrauch politischer Termini
Viele Aufsätze monieren, im Zuge des Marxismus-Leninismus, das demokratisch-liberale System des Westens als die politische Kalamität des Kapitalismus, das es ergo ebenfalls zu bekämpfen gilt. Das ist ein weiteres Zeichen dafür, dass die meisten Autoren die politischen Termini falsch gebrauchen. Das gilt nicht nur für den Begriff des Politischen, sondern eben auch den der Demokratie: Diese per se anarchisch-klassische Form der Volksherrschaft (oder zumindest, um mit Aristoteles zu sprechen, die abwechselnde Herrschaft aller Bürger über alle) ist nicht das Problem, sie muss auch nicht bekämpft werden – vielmehr versucht das Rätesystem theoretisch dieser einen Schritt näher zu kommen, mit seinen direktdemokratischen Elementen und den imperativen Mandaten -; das Problem ist, dass eben unser politisches System sich als demokratisch tituliert, aber das Element der Volkssouveränität darin de facto nur eine Farce ist, das sich zunehmend der Hegemonie des Marktes zu beugen hat. Solche inakzeptablen Fehlwürfe und Ungenauigkeiten erstaunen umso mehr, haben sich doch die meisten der Autoren in den letzten Jahren schon mit einigen grandiosen Publikationen und Ideen hervorgetan.
Die Demokratie ist ergo nicht das Problem, sie ist die Lösung! Einzig Daniel Bensaïd scheint dies, unter anderem indem er Hannah Arendt rezipiert, in seinem sehr empfehlenswerten Beitrag Sprünge! Sprünge! Sprünge! wirklich zu realisieren und auf Lenin zu beziehen, etwa mit folgendem Abschnitt: „In [Lenins] Staat und Revolution büßen die Parteien ihre Funktion tatsächlich zugunsten einer direkten Demokratie ein, die kein vollständig separates Staatsgebilde sein soll. Doch entgegen den anfänglichen Hoffnungen siegte die Verstaatlichung der Gesellschaft über die Vergesellschaftung des Staates.“
Von Lenin Reloaded war viel zu erwarten, könnte man doch eine neue revolutionäre und vielleicht auch marxistische Kritik am globalen Kapitalismus durchaus als nötig erachten, und sich mit diesem Werk ein theoretisches Fundament führender marxistischer Denker erhoffen. Leider hat dieses Buch eine solche Rolle nicht verdient, obgleich alle Autoren sehr detaillierte Kenntnisse über das theoretische Œuvre Lenins besitzen und vermitteln. Zu idealisierend, ostentativ relativierend und im politisch-sozialen Sprachgebrauch zu ungenau und verfälschend sind viele der Aufsätze (obgleich mit einigen schillernden Ausnahmen), sodass man sich einfach nur enttäuscht von ihnen und Lenin abwenden will! Oder, um mit den Worten des Historiker Eric Hobsbawn zu schließen: „Der einzige marxistische Theoretiker des 20. Jahrhunderts war Antonio Gramsci.“
Sebastian Budgen/ Stathis Kouvelakis/ Slavoj Žižek (Hrsgg.): Lenin Reloaded. Für eine Politik der Wahrheit (= LAIKAtheorie, Bd. 31), übersetzt von Jürgen Schneider/ Hans-Christian Oeser/ Thomas Atzert, LAIKA Verlag, Hamburg 2014. 367 Seiten, englische Broschur, 28,00 Euro. Weitere Informationen gibt es unter: http://www.laika-verlag.de/edition-theorie/lenin-reloaded
In 14 Tagen schliessen die Wahllokale im Freistaat Sachsen und beenden damit den ersten von drei Landtagswahlkämpfen diesen Jahres. Wie auch zwei Wochen später in Brandenburg und Thüringen orientiert Die Linke auf eine Regierungsbeteiligung. Nach 25 Jahren CDU-Regierung wollen die Genossen um den Spitzenkandidaten, Landesvorsitzenden und bisherigen Fraktionsvorsitzenden Rico Gebhardt ein Rot-Rot-Grünes Bündnis schmieden. Anders als in Brandenburg, wo die Fortsetzung der Koalition mit der SPD möglich scheint, und Thüringen, wo Die Linke sich sogar Chancen ausrechnet den Ministerpräsidenten zu stellen, ist in Sachsen das Rennen noch offen und eine Regierungsbeteiligung der Sozialisten eher unwahrscheinlich.
Gewalt und Blut, Geld und Statussymbole, Sex und laute Musik, Drogen und Kriminalität sowie ein verzweifelter Emanzipationsversuch, der einen nur noch mehr ins Unglück stürzt. All das hat der derb-schrille Debütroman Königin und Kojoten von Orfa Alarcón zu bieten. Das Buch ist ein typischer und gelungener Narco-Roman über mexikanische Drogenkartelle, aber mit einigen Schwächen in der deutschen Übersetzung von Angelica Ammar.
Perra brava heißt der Roman im spanisch-mexikanischen Original, was soviel bedeutet, wie wilde Hündin. Dieser Titel passt noch besser zum Buch als das deutsche Pendant. Denn das Motiv der wilden Hündin durchzieht das ganze Werk: etwa mit der Hip-Hop-Musik der Band Cartel de Santa, die es auch in der Realität gibt, die ständig sexistisch und gewaltverherrlichend daher rappt und deren brutaler Anführer MC Babo einen Freund erschoss und auf Kaution, die die Fans aufbrachten, wieder frei gelassen würde – die wichtigsten Protagonisten, darunter auch die Ich-Erzählerin Fernanda und ihr Freund und Gangsterboss Julio verehren Babo natürlich. Das wilde-Hündin-Motiv wird auch anhand des Verhaltens von Fernanda demonstriert: Sie ist die Freundin von Julio, dessen Gruppe sich selbst, in Anlehnung an das Cartel de Santa, die Kojoten nennt. Fernanda, die sich zunehmend im Duktus von Julio und seinen Kojoten verhält, ist dementsprechend eine Hündin, die immer wilder wird (auch im Zuge ihres scheiternden Emanzipationsprozesses), gleichzeitig aber die Prinzessin von Julio und des ganzen Hauses sein will, als einzige Frau. So erklärt sich auch der dennoch gut gewählte deutsche Titel.
Vor dem Erfurter Landtag haben am heutigen Montag der Spitzenkandidat Bodo Ramelow und die Landesvorsitzende Susanne Hennig-Wellsow die Wahlkampagne für die in 40 Tagen stattfindende Landtagswahl vorgestellt. Mit 180 Großflächenplakaten, fast 80.000 A1 Plakaten, 650.000 Wahlzeitungen, 100.000 Themenhandzetteln, 550.000 Bürgerbriefen und 300.000 Kurzwahlprogrammen sollen die Thüringer davon überzeugt werden, dass ein Politikwechsel nach 25 Jahren CDU-Regierung nur dann möglich ist, wenn Die Linke wieder zweitstärkste Kraft wird. Die Themen Wirtschaft, Solidarität, Bildung, Frauen und Sicherheit stehen dabei im inhaltlichen Fokus der Kampagne. Zentrales Thema ist aber der auf allen Plakaten omnipräsente Fraktionsvorsitzende und Spitzenkandidat Bodo Ramelow, der sich gute Chancen ausrechnet in wenigen Wochen der erste linke Ministerpräsident zu werden.
Es gilt als Konsens des Liberalismus, dass die Politik, der Staat, der Souverän, wer auch immer das sein sollte, sich aus dem Privatleben der Menschen – ob in Individuum oder der Gemeinschaft von Familie und Freundschaft – sich herauszuhalten hat, nicht zu dekretieren hat, denn alles andere wäre autoritär und monistisch. Damit steht der Liberalismus immerhin in der großartigen Tradition der klassisch-griechischen Staatlichkeit, vor allem zu Zeiten der attischen Demokratie, in welcher die Sphäre des Öffentlichen, des Bürgerlichen, des Politischen – also die Polis -, an der die Vollbürger als Freie und Gleiche partizipieren dürften, von der Sphäre des Privaten, des Wirtschaftlichen, des eigenen Haushalts, in dem auch sozioökonomische und –kulturelle Unterschiede weiter bestehen dürften – also der Oikos – streng zu separieren war, und die Sphären eigentlich nicht vermischt werden sollten, um in der Politik nicht von Privatinteressen manipuliert zu werden. Diese klassische Teilung ist aber partiell obsolet, so könnte die praktische Philosophin Rahel Jaeggi behaupten, folgt man ihrer Habilitationsschrift Kritik von Lebensformen.
Vieles, was im Privaten passiert, wird in der heutigen Gesellschaft hingenommen, es wird vollkommen berechtigt toleriert oder akzeptiert, auch wenn wir manche private Aktionen nicht gutheißen. Wenn aber jemand zwangsverheiratet wird oder ein Vater seine Kinder schlägt, so passiert dies rein in der Privatheit und doch kritisieren wir dies. Von diesem intuitiven Ausgangspunkt aus, möchte Jaeggi nachweisen, dass sich Lebensformen kritisieren lassen, dass sich darüber streiten lässt, und zwar mit Argumenten, nicht nur mit Emotionen. Die ethische Enthaltsamkeit, die sie die black box des Liberalismus nennt, ließe sich also aufsprengen. Dabei unterscheidet die Philosophin zunächst zwischen Lebensformen, als Bündel sozialer Praktiken, in die wir einerseits schon hineingeboren und von ihnen sozialisiert werden, die aber andererseits von Menschen konzipiert und konstruiert werden – wie etwa die Familienformen der Groß- oder Patchworkfamilie – vom gewöhnlichen Lebensstil, der Lebensart, die reine Geschmackssache sind – wie etwa die Wahl eines gewöhnlichen Kleidungsstückes. Dabei ließen sich die Lebensformen kritisieren.
In ihrem Buch macht sie diese Kritik von sachlichen Parametern abhängig, primär die Problemlösungsverfahren der Lebensformen. Kann eine Lebensform auf ein erkanntes und reflektiertes Problem nicht adäquat reagieren und das ganze rational bestreiten, so ließe sich diese Lebensform kritisieren beziehungsweise würde diese Form an dem Problem scheitern. Dazu holt Jaeggi sehr weit und ausführlich aus und beschreibt übermäßig detailliert die philosophischen Darstellungen von Problemen, über Hegel, Marx, Dewey und MacIntyre.
Denn sie geht immer von „gegebenen Kontexten und den in der Sache liegenden Maßstäben“ aus. Sie tritt, mit expliziten Verweis auf Marx, „nicht mit einem vorgefertigten Ideal der Wirklichkeit entgegen“, sondern entwickelt dieses Ideal aus dem paradoxalen „Bewegungsmuster der Wirklichkeit“ selbst. Kritik sei dabei ein „Verfahren, Zusammenhänge herzustellen“ – also im Hegelianischen Sinne dialektisch. Damit lebt sie eine kritische Theorie – im Sinne Adornos – der Kritik von Lebensformen vor. Denn Jaeggi sagt dem Leser nicht, was nun heutzutage eine richtige und falsche Lebensform ist, nein, sie will nur aufzeigen, nach welchen Parametern man Lebensformen bemessen kann – leider kopiert sie diese Parameter nur von anderen Denkern, die Eigenleistung ist in diesem wichtigen Punkt leider etwas gering.
Jedoch handelt es sich bei „Kritik von Lebensformen“ um ein spannendes und mutiges Projekt, das eine große Aufmerksamkeit verdient hat, da sie die Grundannahmen des Liberalismus´ aus den Fügen geraten lässt, jedoch ohne in einen kruden Monismus zu verfallen. Der moralische Zeigefinger fehlt in ihrem Buch genauso, wie der affektierte Stil, den so manch anderer Intellektueller an den Tag legt. Ihr schwebt nämlich ein „experimenteller Pluralismus von Lebensformen vor“ und die liberale Ausklammerung des Privaten behindert das Experimentelle daran. Ein negativer Nebeneffekt von Jaeggis Analyse und ihren darauf basierenden Forderungen könnte sein, dass sich jedes Individuum, unabhängig von seinem Intellekt dazu gezwungen sehen könnte, sich für seine Lebensform rechtfertigen zu müssen, obgleich die Berliner Philosophin dies an keiner Stelle fordert. Sie bestreitet ja auch, dass es nur die eine gültige Lebensform wäre. Jaeggi durchbricht damit auf profunde Art und Weise den für selbstverständlich gehaltenen Duktus einer Enthaltsamkeit aus der Privatheit. Alte Dogmen werden in wenigen hundert Seiten überzeugend widerlegt. Damit steht aber auch sie in gewisser Weise in klassisch-griechischer Tradition, nämlich der sokratischen Frage, wie man leben wolle. Ein in keinster Weise ethisch-normativ überhebliches Buch für alle, die Spaß am unkonventionellen und undogmatischen Denken, der Kritischen Theorie und wilden Diskussionen haben!
Im Zuge der aktuellen Demonstrationen gegen den israelischen Militäreinsatz kommt es landauf, landab auch zu unschönen israelfeindlichen, gar antisemitischen Ausbrüchen der deutschen und zugereisten Volksseele. Ja, es gibt, wie vom Berliner Linkenchef Klaus Lederer im Tagesspiegel beklagt, Plakate „wo Davidstern und Hakenkreuz kombiniert wird oder „Gestern angeblich Opfer, heute Täter“ geschrieben steht“. Und richtig ist auch, dass Teile der westdeutschen Linken solche Demonstrationen organisieren und tatkräftig unterstützen. Dabei stört es die Genossen zwischen Elbe und Rhein auch nicht, wenn der eine oder andere Bündnispartner ein fröhliches „Jude,Jude,feiges Schwein,komm heraus und kämpf alleine!“ in das progromgeschwängerte deutsche Sommerloch ruft.
Man hätte also allen Grund, sich trefflich über diese „Linke“ und ihr Verhältnis zum Judentum, gar ihren latenten Antisemitismus aufzuregen. Man könnte angesichts dieser Vorgänge sogar ins Grübeln geraten, ob eine Partei mit solchem Personal tatsächlich qualifiziert ist ab 2017 zusammen mit SPD und Grünen die Regierungsgeschäfte zu übernehmen. Die Wortmeldungen der auf diese Mitregierungsoption setzenden Genossen, wie Höhn, Lederer, Ramelow, Gallert und Pau lassen annehmen, dass die Realpolitiker der Linken eher von letzterem Gedanken getrieben ihre Stimme so vernehmlich gegen die Genossen im Westen und hier besonders in NRW erheben.
Es ist kein Wunder, dass die meisten Schriftsteller und Intellektuellen politisch gesehen links der Mitte zu positionieren sind. Die Teile der Intelligenzija, die nicht egoistisch daran dachten, ihre Fähigkeiten zur Mehrung des eigenen Vorteils einzusetzen, sondern aus moralischen, ja ethisch-normativen Intentionen heraus agierten, waren die meiste Zeit progressive Intellektuelle, die versuchten, politische und soziale Gerechtigkeit herzustellen oder diese zu verbessern. Daraus ergibt sich ergo aus gutem Grund eine linke, sozialkritische Perspektive, zumal da der Kapitalismus als System nicht den Wohlstand jedes Einzelnen verbessert, sondern nur den einiger weniger. Sogar viele Kritiker des Sowjetsystems kritisierten ja keinesfalls den Sozialismus per se, sondern setzen sich häufig für diesen gegen das Unrechtsregime ein und wurden so zu linken Dissidenten in der kommunistischen Diktatur.
Während in Berlin die Parteireformer anlässlich des Neustarts ihrer Strömung, dem sogenannten Forum demokratischer Sozialismus, einen kulturvollen Umgang mit „Allen“ und „Jedem“ in der Partei einüben, wurde die Potemkin Redaktion nicht müde, die wahren Verantwortlichen für die bundespolitische Isolation der Partei Die Linke zu recherchieren. Unsere investigativen Nachforschungen ergaben, dass weite Teile der bundesrepublikanischen Politiklandschaft bisher völlig falsch gedacht worden sind und die Geschichte dieses Landes gegebenenfalls neu geschrieben werden muss. Angelas Merkels beste Leute sitzen nicht in der christdemokratischen Fraktion. Nein, die Kanzlerin kann auch auf einen Kern äußerst verlässlicher Abgeordnete der Partei Die Linke bauen, um ihre Macht in adenauerischer Tradition bis ins Unendliche zu dehnen. Dass dies kein Zufall ist, wird durch streng geheime Dokumente, den sogenannten „Merkel Tagebüchern“, aus der CDU-Zentrale belegt. Diese konnten unter geheimnisvollen Umständen von unserer Redaktion eingesehen werden. Perfide wird dort aufgelistet, wie dreist die Bourgeoisie und ihre Lobbyentourage dabei die Pluralität unserer geliebten modernen linken Partei für ihre eigenen Interessen schamlos ausnutzt.
Die „Geheimoperation Troja“ beschreibt detailliert, wie ein kleiner Kern von richtig linken Bundestagsabgeordneten (wahrscheinlich) übelst missbraucht wird, um in der Republik, so wörtlich, „dauerhaft bis zum nächsten Evolutionssprung“, ein Mitte-Links-Bündnis auszuschließen. Im Stile geheimdienstlicher Infiltrations- und Subversivaktionen werden die linken Bundestagsabgeordneten, alle samt und sonders Mitglieder westlicher Landesverbände, in Kategorien eingeteilt und Kampfaufträge hinterlegt.
von Philip J. Dingeldey
In Kürze beginnt wieder einmal der größte Zirkus der Welt – nämlich die Fußball-Weltmeisterschaft (WM) – und die Deutschen sind schon ganz aus dem Häuschen. Überall findet man jetzt Fanartikel, über Schmuck, Halsbänder, Fußbälle, Schminke – freilich alles in den deutschen Nationalfarben. Selbst Produkte, die auf den ersten Blick nichts mit Fußball zu tun haben, versuchen mit dem WM-Etikett ihre Umsätze, meist erfolgreich, zu maximieren. Das nennt sich dann Fußballfieber.
Ein Fußballfieber, egal ob es sich dabei nun um eine Regionalliga, Bundesliga, Champions League, Europa- oder Weltmeisterschaft handelt, verdient aber in Wahrheit eine andere Titulierung: Das Aufkommen faschistoider Elemente, die von der Mehrheit der Bevölkerung als legitim aufgefasst werden!
Warum das? Ist nicht in den meisten zivilisierten Staaten der Faschismus zu Recht verpönt!? Natürlich, aber Phänomene, wie Fußball sind deswegen erfolgreiche Massenphänomene, weil es ihnen gelingt, den faschistoiden Part lediglich implizit zu generieren. Es ist in Deutschland etwa zum Glück kaum mehr möglich, klar eine faschistische Gesinnung öffentlich kundzutun; jedoch durch implizite und auf höchst unbewusste Faktoren kann dies sehr wohl geschehen. Das heißt, der etwa am Fußballfieber Erkrankte weiß wahrscheinlich nicht, dass seiner Euphorie, seiner Fanschaft Faschistoides inhärent ist.
Am Sonntag waren rund 62 Millionen Wahlberechtigte dazu aufgerufen über die deutschen Vertreter im Europaparlament abzustimmen. Bei einer deutlich auf 48,1% gestiegenen Wahlbeteiligung konnten die Unionsparteien, trotz Verlusten, ihre Stellung als stärkste Kraft verteidigen.
Die CDU liegt mit 30% knapp bei ihrem Wahlergebnis von 2009, die CSU hat fast zwei Prozentpunkte verloren und kommt auf nur noch 5,3%. Deutlich zulegen konnte die SPD, für die 27,3% der Wahlberechtigten stimmten. Drittstärkste Kraft bleiben mit 10,7% die Grünen. Trotz eines Zuwachses bei den absoluten Stimmen liegt Die Linke mit 7,4% bei dem Ergebnis der Wahl von 2009 und verliert sogar einen Sitz. Grosser Verlierer der Europawahl ist allerdings die FDP. Die Liberalen stürzen von 11,0% auf 3,4% ab und büssen damit 9 Mandate in Brüssel ein. Mit 7,0% ziehen erstmals auch Vertreter der rechtspopulistischen und europakritischen AfD in ein Parlament ein.
Seit dem gestrigen Sonntag geistert ein Aufruf „Gegen die Dämonisierung der Montagsmahnwachen“ durch soziale Netzwerke, der zu einem entspannten Umgang mit diesem von neurechten Verschwörungstheoretikern und ihrer Entourage ins Leben gerufenen allwöchentlichen Budenzauber auffordert. Darin stellen die zwei linken Bundestagsabgeordneten Diether Dehm und Wolfgang Gehrcke fest, dass sie die Einschätzung nicht teilen, „dass es sich bei den Montagsmahnwachen und ihren Teilnehmern im Kern um eine (neu-)rechte Bewegung handelt.“ Ganz im Gegenteil wird nach der alten Devise, dass der Feind meines Feindes mein Freund ist, eine Querfront herbeiphantasiert, die sich im Interesse des Volkes gegen die US-amerikanischen Grossbanken und Finanzinvestoren und das gesamte Finanzkapital stellt.
Normalerweise könnte man sich jetzt darüber empören, dass Dehm und Gehrcke hier versuchen die Grenzen zwischen Links und Rechts zu verwischen. Man könnte sich auch darüber aufregen, dass ihr Aufruf nur auf einem kürzeren Text ihres Fraktionskollegen Hunko basiert, der bereits von den Abgeordneten Hänsel und Leidig unterzeichnet wurde. Man könnte es auch, wie es einer der Kommentatoren zu Hunkos Erstwerk formulierte, für „Unfassbar!“ halten, dass hier eine „Aktionseinheit mit Leuten, die sonntags gegen Homo- und Transsexuelle hetzen, montags von Frieden und Chemtrails labern und dienstags vor den Unterkünften von Asylsuchenden stehen, um diese einzuschüchtern“ gesucht wird. Könnte man, muss man aber nicht.